Die erbitterte
palästinensische Rivalität trägt zur Qual von
Gazas verletzlichsten Menschen bei
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22.07.2017 -
Krebspatienten
bräuchten dringend Medikamente: das leidgeprüfte
Territorium erleidet neues Elend. -
Im Shifa-Hospital
in Gaza liegen winzige Frühgeborene, manche mit
mehrfachen Infektionen, andere mit angeborenen
Krankheiten, nebeneinander in Inkubatoren und
kämpfen im Gewirr von Schläuchen wie das
Flackern einer Kerze um ihr Leben. Nachdem der
Strom so gut wie abgeschaltet ist, unterstützt
ein Generator mit wechselnder Stromstärke ihr
Leben. Die Gesundheit mehrerer der Babys ist so
schlecht, dass sie aus dem Gazastreifen hinaus
in irgendeine moderne Intensivstation gebracht
werden sollten, aber die Genehmigung für eine
Ausreise wurde verweigert.
Die Jahrzehnte
lange Agonie von Gaza ist in eine neue Phase
eingetreten, in der das Leben der Schwächsten
einem politischen Machtkampf um Gaza geopfert
wird. Die beunruhigende neue Wendung, die den 2
Millionen Menschen, die hier leben und von denen
die meisten Flüchtlinge sind, (weiteres) Elend
gebracht hat, kommt von der palästinensischen
Führung in der Westbank in Zusammenarbeit mit
Israel. Eine militärische und wirtschaftliche
Blockade zu Land, Luft und See wurde vor 11
Jahren erst von Israel verhängt, um Hamas, die
islamische Widerstandsbewegung, die, nachdem sie
die Wahlen gewonnen hatte, die Macht nur im
Gazastreifen und nicht (auch) in der Westbank
übernommen hat, zu isolieren und zu schwächen.
In
der Westbank hatte Mahmud Abbas, Präsident der
Palästinensischen Autonomiebehörde das
Wahlergebnis zurückgewiesen. Als Israel dazu
überging Hamas im Gazastreifen wegzusperren,
ließ Abbas bei dem Elend den Gazastreifen noch
zusätzlich regelmäßig darben trotz der Hilfe aus
Übersee, die seine Behörde wegen des
internationalen Boykotts der Hamas verwaltet.
Großbritannien, den USA und Europa gilt die
Hamas als Terrororganisation. In den letzten
Wochen glaubte Abbas, dass Hamas geschwächt wäre
und witterte Hilfe von Israel und dem
US-Präsidenten Donald Trump sowie aus der
Region. Er ging dazu über die Hamas ein für alle
Mal mit Stromkürzungen als seiner stärksten
Waffe zu vernichten, da er wußte, dass
Stromkürzungen sehr schnell Gesundheitsdienste
und Wasserversorgung lahmlegen würden.
Nirgendwo ist die
neue, verstärkte Strangulierung (Gazas)
schmerzlicher zu beobachten als auf den
Stationen des Shifa-Hospitals. Während dem Krieg
von 2014, in dem mehr als 2.300 Palästinenser
einschließlich etwa 500 Kinder getötet wurden
und etwa tausend auf Dauer behindert blieben,
waren die Betten voll von Verletzten. Heute
kämpfen Ärzte nicht um das Leben von Menschen,
die von Bomben verletzt worden sind, sondern die
unter den Auswirkungen der Blockade leiden.
Die Stationen für
Nierendialyse, Intensivbehandlung und
Neugeborene befinden sich alle in einer Krise.
Die Palästinensische Autonomiebehörde in
Ramallah hat sich geweigert für Medikamente zu
zahlen, die inzwischen sogar für die, die sie am
dringendsten brauchen, nicht mehr vorhanden
sind. Zahlungen an Israel für (nach Israel)
verlegte Patienten sind ebenfalls blockiert, so
dass Babys, die Intensivpflege brauchen, sowie
Krebspatienten die Genehmigungen verweigert
werden, in die Westbank oder nach Israel
auszureisen. Ärzte sagen, zehn Patienten, die im
letzten Monat gestorben sind, hätten bei einer
Verlegung gerettet werden können.
Da
sich (jetzt) viele Notfälle in den
Krankenhäusern im Gazastreifen sammeln, kommen
andere Krisen, die im Lauf von 11 Jahren
Blockade und Konflikt entstanden sind, ans
Tageslicht. Die unmittelbare Krise in der
Krebsbehandlung ist verschärft durch die starke
Zunahme von Krebserkrankungen im ganzen
Gazastreifen, für deren Behandlung die
medizinischen Dienste nicht genügend ausgerüstet
sind.
Laut Dr. Khaled
Thabet, dem Chef der Onkologie im Shifa-Hospital,
nehmen die Krebserkrankungen zu. Er nennt für
2016 90 Fälle pro 100.000 Menschen, verglichen
mit 65 im Jahr 2010. Die Zahlen sind
beunruhigend hoch, vor allem sind von 60% der
Krebserkrankungen junge Menschen unter 25 Jahren
betroffen, und das sei ungewöhnlich. Er macht
dafür die Auswirkungen dreier
aufeinanderfolgender Kriege gegen Gaza
verantwortlich, die Giftstoffe in Boden und
Wasser einschließlich abgereichertes Uran
hinterlassen haben. Auch der tägliche Einsatz
von Insektiziden durch Israel zur Rodung im
Grenzbereich ist dafür verantwortlich. Infolge
des Mangels an sauberem Wasser besteht die
Gefahr von Cholera. "Ich fordere internationale
Wissenschaftler auf hierher zu kommen und die
Situation selbst zu studieren, aber sie weigern
sich", sagt er. "Es ist eine Katastrophe. Die
UNO kommt her und sagt, Gaza würde sterben und
2020 unbewohnbar sind. Aber das bleibt ohne
Folgen."
Die neue Krise
wirft auch ein Licht auf die starke Zunahme von
angeborenen Behinderungen bei Babys, die alle in
einer langen Schlange auf eine Spezialbehandlung
warten. Untersuchungen, die die Zunahme beweisen
und in Zusammenhang mit der Blockade und Krieg
bringen, werden in der Welt draußen ignoriert",
sagen die Ärzte hier. Im Gebiet von Shuja'iya,
das 2014 von Bomben verwüstet wurde, spricht
eine junge Frau mit Down Syndrom, Heba abu el
Comboz, jeden Tag mit hilfsbedürftigen Kindern.
"Viele von ihnen sind in Räumen eingesperrt und
dürfen nie hinaus", sagt sie. "Es gibt
niemanden, der sich um sie kümmert, und die
Familien möchten nicht, dass jemand sie sieht."
Sie führt uns zu
einem Nachbarn, dem 7-jährigen Allam. Er hat
ebenfalls das Down Syndrom und sitzt neben
seiner 15-j. Schwester Latifa, die geistig
behindert ist; die Behinderung wurde aber
niemals diagnostiziert, und sie bekommt keine
Hilfe. Im Unterschied zu manchen anderen
Gazanern kann es sich die Familie nicht leisten,
Batterie betriebene Generatoren zu kaufen, um
die Stromversorgung zu verbessern, deshalb
sitzen sie abends bei Kerzenlicht. Auch das
Wasser ist abgestellt, es läuft nur einmal in
der Woche. Die Bewohner müssen für die Lieferung
aus Wassertankwagen bezahlen. Der Vater der
Geschwister habe vor der Blockade in Israel
"gutes Geld" verdient, sagt ihre Mutter. Durch
die Wüstenei zieht sich eine hohe Betonmauer,
ein neu errichteter Teil der israelischen
Grenzabsperrung, von der die israelische
Regierung sagt, sie sei zur Verhinderung von
Raketenangriffen auf israelische Ortschaften
notwendig. "Unser Gefängnis", sagt Heba
lächelnd. Als sie zu einer internationalen
Konferenz für Menschen mit Down Syndrom
eingeladen wurde, verweigerte Israel ihr die
Genehmigung für die Ausreise.
"Wir sind ein
zivilisiertes Volk. Wir haben die höchste
Bildung im Nahen Osten. Wir werden zurück ins
Mittelalter bombardiert und belagert", sagt Raji
Sourani, der Direktor des palästinensischen
Zentrums für Menschenrechte.
Draußen,
im wohlhabenderen Viertel Rimal von Gaza City,
scheinen die Geschäfte voll und die Strassen
voller Leben zu sein, aber die teuren Güter sind
weitgehend aus Israel importiert oder durch die
Tunnels hereingebracht, die noch immer unter der
Grenze zu Ägypten gegraben werden, trotz aller
Versuche Israels sie zu zerstören. Am Ende der
Strasse schwappt das Mittelmeer grün von
unbehandeltem Abwasser bis nach Tel Aviv.
Im Zentrum von
Gaza City sitzen internationale Geber und
Hilfsorganisationen in klimatisierten Büros.
Wenn sie wegen dem, was sie sehen, protestieren,
hört ihnen niemand zu. Aus "Sicherheitsgründen"
sind sie in ihrer Bewegungsfreiheit
eingeschränkt, sehen vor Ort wenig und wagen es
nicht, ihre Meinung zu sagen aus Angst Israel
würde sie aus Gaza verbannen.
"Es ist ein Plan",
sagt ein lokaler Aktivist, dessen verzweifelte
Worte im Gazastreifen widerhallen. "Die Welt
draußen will nichts wissen. Alle wollen, dass
wir sterben. So ist es! Nachdem uns die letzten
drei Kriege nicht vernichtet haben, möchten sie
alle, dass wir uns selbst vernichten." Jeder
Haushalt scheint eine neue Geschichte des Elend
zu erzählen, vor allem in den Flüchtlingslagern.
Rema Frainah von Aisha, einer lokalen
Gemeindegruppe, sagt, häusliche Gewalt hätte
eine kritische Höhe erreicht, weil eine
verzweifelte Bevölkerung unter unerträglichen
Lebensbedingungen zusammen gepfercht ist.
Inzwischen
hat auf der Neugeborenen-Station das Lämpchen
über einem 7 Monate alten Frühgeborenen
aufgehört zu blinken, aber nicht wegen einem
Stromausfall. Das Baby hat den Kampf aufgegeben.
Der junge Vater steht daneben. Schock und dann
Schmerz stehen in seinem Gesicht. Wir treffen
ihn später bei ihm zuhause im
Jabalia-Flüchtlingslager, dem Geburtort der
Intifada von 1987, wo seine Frau und 15
Familienangehörige in einem Haus mit
Plastikplanen am Fenster leben. Maher, die
Mutter seiner Frau, sagt, Früh- und Fehlgeburten
seien häufiger als je zuvor. Sie hat einen
Neffen mit einer Hirnschädigung und zwei Türen
weiter wurde kürzlich ein Kind mit Hepatitis
geboren. "Der Ehemann hat sich deshalb von der
Frau geschieden," sagt sie, "und das Baby ist
gestorben."
Sie spricht auch
von den majnoun, den "Verrückten", die es
überall gibt. Dann lacht sie. "Wir sind alle
verrückt. Was erwartest du?" Ein Mann taucht
schlurfend auf, einseitig gelähmt, es ist der
Ehemann von Maher. "Er hat als Junge in der
ersten Intifada Steine geworfen", sagt sie. "Die
Israelis haben ihn festgenommen und nieder
geprügelt. Seither hat er einen Hirnschaden."
Ich frage sie, ob
sie meinen, dass es eine neue Intifada geben
wird. Werden sie gegen die Hamas aufstehen? Sie
lachen. "Natürlich nicht. Wer würde davon Notiz
nehmen? Sie möchten, dass wir ihren Feind
loswerden. Warum sollten wir? Für uns wird sich
doch nichts ändern."
Quelle
Übersetzung: K. Nebauer |