Mohammad Tamimi: 'Sie haben mich geschlagen,
damit ich gestehe" - Jaclynn Ashley -
28.02.2018 - Mohammad Tamimi, 15, wurde im Dezember mit
einer Gummi ummantelten Stahlkugel ins Gesicht geschossen,
nach einem Protest im Dorf Nabi Saleh. Die Kugel, die von
Israel in der Westbank als 'nicht-tödliche Waffe' angesehen
wird, trat unter seiner Nase in sein Gesicht ein und blieb
hinten in seinem Schädel stecken. Er wurde in ein
künstliches Koma versetzt und wachte nach mehreren
Operationen nach 72 Stunden wieder auf. Die Ärzte waren
wegen einer Entzündung in seinem Gehirn gezwungen, einen
Teil seiner Schädeldecke zu entfernen. Sein Kopf ist jetzt
deformiert und ein Teil seines Gehirns ist ungeschützt.
Manal Tamimi ist eine Verwandte Mohammads und prominente
Aktivistin in Nabi Saleh, wo die Bewohner seit Jahren einen
gewaltlosen Kampf gegen die israelische Besatzung führen.
Sie sah Mohammads Verwundung gleich wenige Minuten nach dem
Vorfall. "Sein Gesicht war voll Blut. Wir konnten nicht
einmal sagen, dass er das ist. Wir dachten alle, er würde
sterben." Die Ärzte, die die Operation durchgeführt hatten,
bereiteten die richtigen Worte vor, um die Familie zu
benachrichtigen, dass Mohammad sein Leben verloren hätte.
"Keiner dachte, dass er es schaffen würde", sagte Manal
gegenüber Mondoweiss.
Seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus ist Mohammads
Zustand noch immer "sehr schlecht", sagt Fadel Tamimi,
Mohammads Vater, zu Mondoweiss. Er ist noch nicht einmal zu
50% wieder hergestellt, sagt er. "Er sieht mit seinem linken
Auge nicht gut und seine rechte Hand und sein rechte Bein
haben wenig Kraft. Er muss sich schwingen, wenn er geht.
Jemand muss immer neben ihm stehen, um sicher zu sein, dass
er nicht fällt, wenn er geht", sagte Fadel.
Wegen seinem ungeschützten Schädel darf der Teeager nicht
einmal in einem Taxi fahren, fügt Manal hinzu.
Trotzdem haben Mahammads schwere Verletzung das israelische
Militär nicht davon abgehalten, am Montag um 3 Uhr morgens
in sein Elternhaus zu stürmen und den Teenager zu verhaften,
gemeinsam mit neun weiteren Dorfbewohnern - die meisten von
ihnen Minderjährige.
Um das Ganze noch schlimmer zu machen, wurde Mohammad, bevor
er ein paar Stunden später aus israelischem Gewahrsam
freigelassen wurde, gezwungen zu gestehen, dass seine
Verletzung nicht von israelischen Soldaten stammt, die auf
ihn geschossen hätten, sondern die Folge eines unglücklichen
Fahrradunfalls war.
Erzwungenes Geständnis - Yoav Mordechai, Israels
Koordinator der Regierungsaktivitäten in den besetzten
Gebieten (COGAT), feierte Mohammads angebliches Geständnis
auf der arabischen Facebookseite der Behörde und sagte, der
Minderjährige habe selbst zugegeben, dass er sich die
Verletzung bei einem Fahrradunfall zugezogen habe.
Diese Erklärung wurde veröffentlicht, obwohl sie
Arztberichten, einem Computertomogramm, Augenzeugenberichten
und einem Foto der aus Mohammas Schädel entfernten Kugel
widerspricht.
Manals erste Reaktion war zu lachen. "Israel wird
buchstäblich alles sagen, um uns zu diskreditieren und den
Ruf unseres Dorfes zu ruinieren. Sie können es nicht
ertragen, dass der Rest der Welt auf unserer Seite steht."
Am Dienstag veröffentlichte COGAT eine weitere Erklärung
über den Vorfall, die besagte, dass Mohammad die
"Fahrrad-Story mehrmals" israelischen Amtsträgern gegenüber
"zum Ausdruck gebracht" habe. "Laut seiner Version
hat sich der Junge die Kopfverletzung zugezogen, als er von
seinem elektrischen Fahrrad fiel und mit dem Kopf gegen die
Lenkstange prallte", heißt es in der Erklärung.
Weiter heißt es in der Erklärung: "Wir werden weiterhin die
Wahrheit offen legen, um den palästinensischen
Hetzmechanismus aufzuzeigen."
Dagegen sagt Mohammad, er hätte zugegeben, dass er bei einem
Fahrradunfall verletzt worden sei, weil die Israelis ihn
"geschlagen" hätten, damit er gesteht. "Wir waren in einem
Auto auf dem Weg zu den Verhören und dort waren zwei
israelische Amtspersonen, die mich ins Gesicht, auf den
Rücken und überall schlugen und immer wieder gesagt haben,
ich müßte zugeben, dass es ein Fahrradunfall war", sagte
Mohammad gegenüber Mondoweiss.
Die israelischen Beamten konfiszierten auch die Medikamente
aus Mohammads Tasche, die er für seine Genesung unbedingt
braucht. Sie weigerten sich sie ihm zurückzugeben, bevor er
zugegeben hätte, dass israelische Soldaten tatsächlich nicht
auf ihn geschossen hätten, sagt Mohammad.
"Ich hatte große Angst, und ich wollte nicht, dass sie mich
weiter schlagen, also habe ich gestanden", erklärte der
15-Jährige.
Fadel, Mohammads Vater, ist noch unsicher über die Motive,
die Israel hat. "Ich weiß nicht, warum sie sich so darauf
konzentrieren die Wahrheit zu diskreditieren. Ich denke, sie
wollen nur einen Weg finden, um aus der Verantwortung für
das, was geschehen ist, herauszukommen – vor allem seit
Mohammad so viel Aufmerksamkeit von Medien bekommen hat."
Kampagne
der 'Entmenschlichung' - Als die 16-j. Ahed Tamimi,
die erlebt hat, wie ihre Eltern bei zahllosen Gelegenheiten
von Soldaten weggeschleppt und Angehörige getötet wurden,
von Mohammads Verletzung erfuhr, zerbrach etwas in ihr.
Sie verpasste (einem Soldaten, Ü.) einen Schlag, der
Wellen in die ganze Welt sandte.
Nach ihrer Verhaftung ein paar Tage später marschierten
hunderte Journalisten in das kleine 600 Seelen-Dorf, um
Bewohner zu interviewen. "Seit Aheds Verhaftung gab
es buchstäblich nur drei Tage, an denen kein Journalist zu
uns ins Haus gekommen ist", sagte Manal gegenüber
Mondoweiss.
Die internationale Aufmerksamkeit, die die Familie Tamimi
nach Aheds Verhaftung erfuhr, hat die israelischen Behörden
verärgert. Einige israelische Amtspersonen haben eine harte
Haftstrafe für die jetzt 17-j. Ahed befürwortet, andere
gingen so weit, zu Gewalt gegen die Teenagerin aufzuhetzen.
Letzten Monat tauchten Berichte auf, dass Michael Oren, ein
stellvertretender israelischer Minister und früherer
Botschafter in den USA, vor zwei Jahren einen Unterausschuss
der Knesset zur Untersuchung geleitet hat, ob die Familie
Tamimi wirklich eine reale Familie sei. Die Untersuchung
forschte, ob die Familie Tamimi Schauspieler gemietet hätte,
die zusammengestellt wurden, um "palästinische Propaganda"
voranzutreiben, und fragten, ob sie überhaupt Palästinenser
wären mit ihrem blonden Haar, ihrer hellen Haut und ihren
blauen Augen.
Fadi Quran, führender Streiter bei der Interessensgruppe
Avaaz, sagt, dass Israel solche Taktiken benutzt, um "das
Scheinwerferlicht von seinen verabscheuungswürdigen
Verletzungen fundamentaler Menschenrechte weg zu schieben".
Die Familie Tamimi ist zu einem bevorzugten Ziel für das
harte Durchgreifen Israels geworden, weil die Dorfbewohner
während ihrem inzwischen fast zehnjährigen gewaltlosen
Widerstand in der Lage sind "Palästinenser für ein
internationales Publikum zu vermenschlichen".
"Die Menschen haben mutige Männer, Frauen und Kinder
angesichts scharfer Munition und bewaffneten Soldaten
gesehen", gab Quran zu Bedenken. Laut Quran ist aber die
"Vermenschlichung" von Palästinensern eine gefährliche
Infragestellung der israelischen Politiken in der Westbank.
"Israels Ziel ist es nicht nur die Familie Tamimi zu
delegitimieren, es geht darum sie zu entmenschlichen, damit
die Welt nicht zusammenzuckt, wenn ihnen in den Kopf
geschossen wird oder ihre Kinder aus dem Bett gezerrt und
verhaftet werden", sagte er.
"Das ist nicht neu – Israel verfolgt [eine Kampagne] zur
Entmenschlichung der Palästinenser seit Jahrzehnten."
Schweigen - Israel führt eine Kampagne zur
"Entmenschlichung" der Familie Tamimi auf der
internationalen Bühne und führt gleichzeitig seit Monaten
ein hartes Vorgehen (Razzien) im Dorf durch.
Seit Aheds Ohrfeige sind mindestens 19 Einwohner verhaftet
worden. Mindestens 13 sind noch in israelischer Haft,
einschließlich zweier Söhne von Manal. Die meisten sind
während nächtlichen Razzien verhaftet worden.
Laut Mohammad sagten ihm die israelischen Amtspersonen bei
seiner Freilassung, er solle seinem Dorf eine Botschaft
überbringen: "Wir werden jeden in eurem Dorf verhaften."
Laut Manal rief der israelische Geheimdienst am Montag abend
bei sieben Familien in Nabi Saleh an und verlangte, dass
ihre Söhne auf die Polizeistation zum Verhör kommen. Sie
drohten den Familien, dass das israelische Militär, wenn
sich ihre Söhne nicht zum Verhör zeigten, das ganze Dorf
überfallen und "jeder einen Preis zahlen werde", sagte Manal
gegenüber Mondoweiss.
Das eskalierende harte Vorgehen (Razzien) gegen das Dorf hat
die Bewohner gezwungen neue Maßnahmen zu ergreifen,
inklusive der Organisation von "Übungen" Anfang des Monats,
um Kinder und Jugendliche im Dorf für die israelischen
Verhaftungen vorzubereiten. Zu den Übungen gehört, etwa 30
Kindern im Dorf die Augen zu verbinden und sie
Scheinverhören zu unterziehen, auf der Grundlage der
Erfahrungen anderer Dorfbewohner, die vom israelischen
Militär verhaftet worden sind.
Quran war die Person, die die Übungen in Nabi Saleh geleitet
hat und das Gleiche mit anderen 2.000 Kindern quer durch die
Westbank gemacht hat, von denen man annahm, dass sie das
Ziel israelischer Verhaftungsrazzien sein würden. "Unsere
Trainings bringen den Kindern wichtige Fähigkeiten für das
psychische Wohlbefinden bei, zu schweigen, zu wissen, was
sie erwartet, wenn sie verhaftet werden, und Gemeinschaft
herzustellen, was ihnen sicherzustellen hilft, dass sie auch
härtesten Formen von Verhör und Mißhandlung widerstehen",
erklärte Quran.
Das ist notwendig, um die Kinder zu schützen, sagte Quran.
Er sagte, die israelischen Amtspersonen zum Beispiel hätten
Ahed gedroht, sie würden ihre 11-jährige Cousine Jana
verhaften, wenn sie sich weigerte zu gestehen, weswegen sie
angeklagt ist.
Die Übungen sollen sie für israelische Verhörmethoden wie
diese vorbereiten und sicherzustellen, dass die Kinder
verstehen, welche Rechte sie haben, sagt Manal. Da manche
den Einsatz solcher Übungen im Dorf kritisiert haben,
argumentieren die Einwohner, es sei eben eine unglückliche
Realität, dass Israel mit Verhaftungen auf Kinder im Dorf
zielt.
Und tatsächlich war einer der Teilnehmer an den
Verhaftungsübungen der 13-j. Sohayib Tamimi, einer der 10
Dorfbewohner, die in der nächtlichen Razzia am Montag
verhaftet wurden. Die Dorfbewohner hoffen, dass das Training
und die Vorbereitung, die er bekommen hat, das was er in der
israelischen Haft erlebt, ihn weniger traumatisiert.
Quelle
Übersetzung: K. Nebauer
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