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Satan und die
Details
Uri Avnery,
11.September 2010
ES GIBT die Geschichte eines Mannes,
der seinen letzten Willen diktierte. Er teilte seinen Besitz
großzügig, dachte an alle Familienmitglieder, belohnte alle seine
Freunde und vergaß auch seine Bediensteten nicht.
Er endete mit einem kleinen Satz: Im
Falle meines Todes ist dieses Testament null und nichtig.
ICH FÜRCHTE, dass solch ein Satz dem
„Rahmenabkommen“ hinzugefügt werden wird, das Binyamin Netanyahu,
innerhalb eines Jahres zu unterzeichnen verspricht, nach ehrlichen
und erfolgreichen Verhandlungen mit der Palästinensischen Behörde,
mit Hillary Clinton als Vermittlerin und zum größeren Ruhm Präsident
Barack Obamas.
Nach zwölf Monaten wird es ein
Abkommen über ein perfektes Rahmenabkommen geben. Alle „Kernfragen“
werden geregelt sein – die Gründung des Palästinensischen Staates,
die Grenzen etwa nach der Grünen Linie, die Teilung Jerusalems in
zwei Hauptstädte, Sicherheitsvereinbarungen, Siedlungen,
Flüchtlinge, die Verteilung des Wassers. Alles.
Und dann, am Vorabend der
eindrucksvollen Unterzeichnungszeremonie auf dem Rasen des Weißen
Hauses, wird Netanyahu darum bitten, noch einen Satz hinzu zu fügen:
„Mit Beginn der Verhandlungen um einen permanenten Friedensvertrag
ist dieses Abkommen null und nichtig“.
EIN RAHMENABKOMMEN ist kein
Friedensvertrag. Es ist das Gegenteil eines Friedensvertrages.
Ein Friedensvertrag ist ein
endgültiges Abkommen . Es enthält die Details der Kompromisse, die
bei langen und strapaziösen Verhandlungen erreicht wurden. Keine der
beiden Parteien wird mit den Ergebnissen vollkommen glücklich sein,
aber jeder der beiden Partner von ihnen wird wissen, dass er viel
erreicht hat und dass er damit leben kann.
Nach der Unterzeichnung kommt die Zeit
der Ausführung. Da alle Details im Vertrag selbst ausgearbeitet
wurden, wird es keine Kontroversen mehr geben, wenn man von winzigen
technischen Einzelheiten absieht, die man vergessen kann. Diese
werden dann vom amerikanischen Schiedsrichter entschieden.
Ein Rahmenabkommen ist genau das
Gegenteil. Es lässt alle Details offen. Jeder Paragraph erlaubt
mindestens ein Dutzend verschiedene Interpretationen, da das
Abkommen grundsätzliche Unterschiede mit verbalen Kompromissen
vertuscht.
Es kann ohne weiteres gesagt werden,
dass die Verhandlungen zu einem Rahmenabkommen nur der Prolog für
wirkliche Verhandlungen sind, ein Korridor, der zum Wohnzimmer
führt.
Wenn ein Rahmenabkommen innerhalb eines
Jahres erreicht wird – wer glaubt, wird selig – können die
wirklichen Verhandlungen für einen Endvertrag noch weitere fünf
Jahre, zehn Jahre, hundert oder gar zweihundert Jahre andauern.
Fragt Yitzhak Shamir.
WOHER ICH das weiß? Wir haben solch
eine Oper schon einmal gehabt.
Die Osloer „Prinzipienerklärung“, die
vor 17 Jahren ( minus zwei Tage) unterzeichnet wurde, war solch ein
Rahmenabkommen.
Zu jener Zeit wurde es ein historisches
Abkommen genannt – und das war auch richtig so. Die feierliche
Zeremonie auf dem Rasen vor dem Weißen Haus war völlig
gerechtfertigt. Seine Bedeutung leitete sich von dem
vorausgegangenen Ereignis ab: am 10. September (der zufällig auch
mein Geburtstag war), erkannten die Führer der palästinensischen
Befreiungsorganisation den Staat Israel offiziell an, und der
Ministerpräsident Israels erkannte die Existenz des
palästinensischen Volkes und seine Befreiungsbewegung offiziell an.
(Hier ist der Ort, um zu bemerken, dass
das Oslo-Abkommen 1993 hinter dem Rücken der Amerikaner ausgeheckt
worden war, genau wie die Sadat-Initiative 1977. In beiden Fällen
wurde Geschichte ohne die Teilnahme der USA gemacht und tatsächlich
aus Furcht vor ihnen. Anwar Sadat entschloss sich zu seinem
beispiellosen Flug nach Jerusalem, ohne dass der amerikanische
Botschafter in Kairo davon wusste; und auch die Unterhändler in
Oslo taten alles, um ihre Aktivitäten geheim zu halten. Die
amerikanische Teilnahme begann erst sehr spät, als schon alles ein
fait accompli war.)
Was geschah, nachdem beide Parteien das
Oslo-Abkommen mit Pauken und Trompeten unterzeichnet hatten?
Die Verhandlungen begannen.
Verhandlungen über jedes Detail.
Kontroversen über jedes Detail.
ZUM BEISPIEL: das Abkommen besagte,
dass vier „sichere Passagen“ zwischen der Westbank und dem
Gazastreifen geöffnet werden sollten. Israel erfüllte dieses
Unternehmen auf folgende Weise: entlang den vorgeschlagenen Passagen
wurden auffallende Straßenschilder aufgestellt, die in drei Sprachen
darauf hinwiesen, dass es hier nach Gaza geht. Hier und dort können
solch rostende Hinweisschilder noch immer entdeckt werden.
Und die Passagen? Sie wurden nie
eröffnet.
Ein anderes Beispiel: in langen
Verhandlungen wurde die Westbank in drei Zonen aufgeteilt in Zone A
und B und C.( Seit Julius Caesar sein Buch über die Eroberung
Galliens mit den Worten begann: Gallien ist in drei Teile geteilt“,
neigen Staatsmänner dazu, jedes Gebiet in drei Teile zu teilen.)
Zone A wurde der palästinensischen
Behörde übergeben, die im Abkommen eingerichtet wurde. Die
israelische Armee überfällt diese Zone nur von Zeit zu Zeit. Die
Zone B wird offiziell von der palästinensischen Behörde regiert,
aber praktisch von Israel. Zone C, die größte Zone blieb fest in den
Händen Israels, das dort tut, was und wie es ihm gefällt: enteignet
Land, baut Siedlungen, baut Mauern und Zäune und Straßen nur für
Juden.
Außerdem war erklärt worden, dass
Israel sich in drei Stadien zurückziehen ( seine Truppen
„umverlegen“) werde. Stadium 1 wurde erfüllt und mehr oder weniger
auch Stadium 2, Stadium 3, das wichtigste, wurde nie umgesetzt.
Einige Vorkehrungen führten zu einer
Farce. Z.B. gab es kein Abkommen darüber, ob der offizielle Titel
Yassir Arafats nur „Vorsitzender“ sein solle, wie es Israel
forderte, oder “Präsident“, wie von den Palästinensern verlangt
wurde. Da man zu keiner Überseinstimmung kommen konnte, wurde
schließlich festgelegt, dass ein Titel in allen drei Sprachen „Ra’is“
sein sollte, was auf arabisch sowohl Vorsitzender als auch
Präsident bedeutet. Letzte Woche sprach Netanyahu Abu Mazen mit
„Präsident Abbas“ an.
Oder die lange Debatte über den
palästinensischen Pass. Israel forderte, dass es nur ein
„Reisedokument“ sei, während die Palästinenser verlangten, es solle
ein richtiggehender Reisepass sein, wie es sich für einen richtigen
Staat gehört. Man einigte sich darüber, dass oben drauf
„Reisedokument“ steht und unten „Pass“!
Israel war mit einer „palästinensischen
Behörde“ einverstanden. Die Palästinenser wollten aber, dass man sie
„Palästinensische Nationalbehörde“ nennt. Israel weigerte sich. Als
die Palästinenser – im Gegensatz zum Abkommen – Briefmarken mit dem
Wort „national“ darauf druckten, mussten sie sie wieder
einstampfen und neue Briefmarken drucken.
Nach dem Oslo-Abkommen sollten die
Verhandlungen über die Kernfragen – die Grenzen, Jerusalem,
Flüchtlinge, Siedlungen etc. - 1994 beginnen und mit einem
permanenten Friedensvertrag innerhalb von fünf Jahren abgeschlossen
sein.
Die Verhandlungen wurden 1999 nicht
abgeschlossen, weil sie gar nicht erst angefangen hatten.
Warum? Sehr einfach: ohne ein reales
und endgültiges Abkommen ging der Konflikt mit aller Heftigkeit
weiter. Israel baute mit großer Geschwindigkeit Siedlungen, um neue
Fakten vor Ort zu schaffen, bevor wirkliche Verhandlungen eröffnet
wurden. Die Palästinenser begannen mit gewalttätigen Angriffen, um
die israelische Besatzung schneller los zu werden, weil sie davon
überzeugt waren, „Israel verstehe nur die Sprache der Gewalt“.
Der Teufel, der - wie allgemein bekannt
- im Detail sitzt, nahm Rache an jenen, die die Entscheidung über
die Details hinausschoben. Jedes Detail wurde zu einer Landmine auf
dem Weg zum Frieden.
Das ist das Wesen eines
Rahmenabkommens: es erlaubt Verhandlungen über jedes einzelne
Problem immer und immer wieder, wobei man immer wieder von vorne
beginnt. Die israelischen Unterhändler nutzten diese Möglichkeit
voll und ganz aus: jedes israelische „Zugeständnis“ wurde bei jeder
folgenden Verhandlung immer wieder verkauft. Zunächst bei den
Verhandlungen für die „Prinzipienerklärung“, dann bei den
Verhandlungen für Interim-Abkommen. Und wir werden sie sicher ein
drittes, viertes und fünftes Mal bei den Verhandlungen für das
permanente Abkommen verkaufen. Und jedes Mal für einen deftigen
Preis.
BEDEUTET DIES, dass eine
Prinzipienerklärung wertlos ist?
Das würde ich nicht sagen. In der
Diplomatie sind Erklärungen wichtig, selbst wenn sie nicht immer
sofort von Aktionen begleitet werden. Sie werden immer wieder
kommen. Wörter, die ausgesprochen werden, können nicht ungesprochen
bleiben, auch wenn es nur Worte sind. Der Geist kann nicht in die
Flasche zurückkehren.
Als die israelische Regierung das
palästinensische Volk anerkannte, setzte sie dem Argument ein Ende,
das bis dahin die zionistische Propaganda fast hundert Jahre
beherrschte, es gebe kein palästinensisches Volk und habe es nie
gegeben. „ So etwas gibt es nicht“, erklärte wiederholt die
(leider) unvergessliche Golda Meir.
Als die Palästinenser den Staat Israel
anerkannten, war das wie eine Revolution in der arabischen
Auffassung, eine Revolution, die nicht rückgängig gemacht werden
kann.
Wenn der Führer der israelischen
Rechten vor der ganzen Welt die „Zwei-Staaten-Lösung“ anerkennt,
hat er eine Linie gezogen, von der es keinen Weg zurück gibt. Auch
wenn er dies nicht ernst gemeint hat, sondern nur als einen Trick
in diesem Moment gedacht hat. Die Worte haben ihr Eigenleben. Sie
wurden zu einer politischen Tatsache: keine israelische Regierung
kann zurück.
Deshalb war die extreme Rechte korrekt,
als sie vor kurzem Netanyahu anklagte, er würde – ums Himmels
willen! - „Uri Avnerys Plan“ ausführen. Sie wollen mir kein
Kompliment machen, sie wollen ihn verurteilen. Es ist so, als würde
man den Papst anklagen, er würde im Dienste des Ayatolla handeln.
Wenn Netanyahu schließlich gezwungen
werden würde, ein „Rahmenabkommen“ zu unterzeichnen oder ein
„Abkommen für die Schublade“, das besagt, dass ein palästinensischer
Staat mit den Grenzen vom 4. Juni 1967 und mit Ostjerusalem als
seiner Hauptstadt mit begrenztem Landtausch errichtet würde, würde
dies jeden zukünftigen diplomatischen Prozess bestimmen. Doch glaube
ich nicht daran, dass er unterzeichnen wird – und selbst, wenn er es
täte – heißt das noch lange nicht, dass er ihn umsetzen würde.
DESHALB bin ich absolut gegen jede
Verhandlung, die zu einer „Prinzipienerklärung“ oder zu einem
„Rahmenabkommen“ führen soll.
Es sollten – hier und jetzt –
Verhandlungen für einen vollständigen und endgültigen
Friedensvertrag geführt werden.
Satan sitzt im Rahmenabkommen. Gott
residiert– wenn irgendwo – in einem Friedensvertrag.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom
Verfasser autorisiert)
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