Episode in
Lissabon
Uri Avnery,
29.11.03
Vor einigen Tagen gab es in Lissabon zwischen Miguel Angel Moratinos, dem
scharfsinnigen spanischen Diplomaten, und mir ein Streitgespräch. Er war
für ein paar Jahre Botschafter der EU in unserer Region.
Zusammen mit Experten aus einem Dutzend Ländern - von Brasilien bis
Pakistan - trafen wir uns bei einer Konferenz des portugiesischen Zentrums
für internationale strategische Studien. In der Debatte über den
israelischen Konflikt nahm auch Ahmed Khalidi, der Herausgeber einer
renommierten palästinensischen Zeitschrift und Spross einer der
vornehmsten Familien Jerusalems, teil.
In meinem Vortrag kritisierte ich die zögerliche Haltung Europas, um des
Friedens willen gegenüber Israel Druck auszuüben. Ich sagte, diese Haltung
sei „skandalös“. Auch Khalidi kritisierte die Europäer hart.
Als Moratino mit seiner Rede an der Reihe war, reagierte er wütend. „Woher
nehmen Sie die Unverschämtheit, sich über Europa zu beklagen?“ fragte er
und wurde dabei ziemlich laut. „Wo ist die israelische Friedensbewegung,
die die politische Situation in Israel ändern sollte? Warum wird ihre
Stimme nicht gehört? Wollen Sie, dass Europa für Sie Ihre Arbeit macht?“
Und sich an Khalidi wendend: „Sie wollen, dass Europa etwas für Sie tut?
Dann sorgen Sie zunächst einmal dafür, dass der Terrorismus endet. Wenn
Sie nicht dazu in der Lage sind, klagen Sie nicht Europa an! Klagen Sie
sich selbst an! Wenn Sie beide das tun, was Sie tun sollten, dann wird
auch Europa seinen Teil tun!“
(Übrigens erzählte Moratino während des offiziellen Essens, es sei den
Europäern nach dem Fehlschlag des Camp-David-Gipfels gelungen, die
Amerikaner dahin zu bringen, mit einem Clinton-Arafat-Treffen
einverstanden zu sein. Arafat sollte am 1. Januar 2001 nach Washington
fliegen. Aber Barak war so sehr dagegen, dass dieses Treffen abgesagt
wurde und stattdessen die Gespräche in Taba stattfanden.)
Moratino hatte mit seiner Kritik ganz recht. Tatsächlich neigen wir dazu,
andern die Schuld für unser Misslingen zu geben. Wir können nicht von
anderen – weder von Europäern noch von Amerikanern – erwarten, dass sie
unsere Arbeit tun. Wenn das Friedenslager unfähig ist, eine politische
Macht in Israel zu werden, sollten wir nicht anderen die Schuld geben.
Dasselbe gilt auch für die Palästinenser.
Nach der Debatte gaben wir uns versöhnlich die Hand. Ich gab ehrlich zu,
dass er Recht hat. Khalidi stimmte dem auch zu.
In den vergangenen Wochen aber geschah etwas an allen vier Fronten – an
der israelischen, palästinensischen, amerikanischen und europäischen
Front. Das mag ein Zeichen dafür sein, dass sich etwas zu bewegen beginnt.
An der israelischen Front ist das bekannteste Ereignis die bevorstehende
Zeremonie der „Genfer Gespräche“, die am kommenden Montag stattfinden
wird. Nachdem junge Männer den Wehrdienst in den besetzten Gebieten
verweigerten, Kampfpiloten revoltierten, die Ayalon-Nusseibeh-Initiative
kam und schließlich die erstaunliche Erklärung von vier früheren
Geheimdienstchefs und die von niemandem erwartete Warnung des
Generalstabschefs, ist die Genfer Initiative ein weiterer Schritt in
dieselbe Richtung.
Seit drei Jahren
standen die außerhalb des Establishment sich befindenden Friedenskräfte
allein auf dem Schlachtfeld. Wir protestierten, demonstrierten, hielten
den Kontakt mit den Palästinensern, versuchten die Weltmeinung zu
verändern. Die ganze Zeit war von der mit dem Establishment verbundenen
Friedensbewegung nach ihrem Kollaps kaum etwas zu sehen und zu hören. Die
Besatzung wurde von Tag zu Tag schlimmer, Sharon tat, was er wollte, die
Opposition war gestorben. Es herrschte der Slogan: „Da gibt es niemanden,
mit dem man reden könnte.“
Jetzt gibt es ein Erwachen. Es scheint, die Menschen hier haben die
blutigen Konfrontationen einfach satt. Sie verstehen endlich, dass es
keine militärische Lösung gibt, dass dieser Kampf unsere Wirtschaft
zerstört und die Armut größer wird. Die Genfer Initiative ist genau zum
richtigen Zeitpunkt gekommen, um die neue Stimmung auszudrücken.
Ihr größter Vorteil liegt darin, dass sie zeigt: es gibt „jemanden, mit
dem geredet werden kann“; und dass es ein Friedensmodell gibt, mit dem
beide Seiten leben können. Sie wird sehr dazu beitragen, einen neuen
nationalen Konsens zu bilden.
Ihr Nachteil ist, dass sie keine solide politische Basis hat. Sie
boykottiert die radikalen Friedenskräfte auf der Linken, während sie von
rechts durch von Peres angeführte Labor-Parteifunktionäre angegriffen
wird. Das politische Establishment hat den Verdacht, die Genfer Initiative
werde von Yossi Beilin als Instrument bei seinen Bemühungen benützt, um
eine neue politische Partei zu gründen, nachdem er seinen Platz in der
Laborpartei verloren hat.
Was mir am meisten Sorge bereitet, ist, dass sie nicht darauf abgestimmt
ist, Begeisterung von unten her zu wecken. Sie ist ein Dokument von
Rechtsanwälten: trocken und sachlich. Das ist einerseits gut, andrerseits
nicht so gut. Ihre Initiatoren erklären, es sei „kein Heiratsvertrag,
sondern eher ein Scheidungserlass“, was Scheidung zwischen Israelis und
Palästinensern bedeutet. Das ist genau das Gegenteil von unserer
Botschaft: „Zwei Staaten – eine Zukunft“.
Aber alles in allem ist sie eine positive Initiative, die zur richtigen
Zeit kommt und den Weg für weitere Initiativen ebnet. Es sieht so aus, als
gehe unsere Eiszeit zu Ende. Sogar Sharon fühlt dies. Plötzlich ist er
sehr daran interessiert, Abu Ala zu treffen. Er spricht von „einseitigen
Schritten“. Man sollte ihm kein Wort glauben, doch allein die Tatsache,
dass er solche Worte äußert, zeigt: es wandelt sich tatsächlich etwas.
Auf der palästinensischen Seite gibt es auch eine Veränderung. Abu Ala
arbeitet - eng zusammen mit Arafat – an einem neuen Waffenstillstand (Hudna)
zwischen den palästinensischen Fraktionen, der dieses Mal auch mit einem
Waffenstillstand mit Israel verknüpft sein soll. Alle Seiten bemühen sich
darum, alle Gewaltakte zu beenden, und Sharon wird darum gebeten,
wirkliche Konzessionen zu machen.
Wenn dies gelingt – ein sehr großes „Wenn“! – mögen die Bedingungen für
eine tiefgreifende Änderung in der öffentlichen Meinung beider Seiten reif
sein. Das wäre die Vorbedingung für eine echte Bewegung in Richtung
Frieden.
An der amerikanischen Front geschehen interessante Dinge.
Alle Experten sahen voraus, Bush werde sich mit dem Näherkommen der Wahlen
von allem zurückhalten, das den Zorn der jüdischen und
fundamentalistisch-christlichen Lobbys erregen würde. Aber siehe da!
Washington unterstützt öffentlich und fast offiziell die Nusseibeh-Ayalon-
und die Genfer Initiativen. Präsident Bush drückte ziemlich starke
Missbilligung über Sharons Aktionen aus – zusammen mit der routinemäßigen
Verurteilung der Palästinenser. Er zog auch eine symbolische Summe von den
amerikanischen Darlehensbürgschaften ab, die Israel gewährt werden.
Das ist nicht viel. Tatsächlich sogar sehr wenig. Aber wir sind nicht
verwöhnt – selbst kleine amerikanische Gesten können eine Menge helfen.
Für Sharon ist die amerikanische Verbindung der kostbarste Stein in seiner
Krone, viel wichtiger als alles andere. Die kleinste Veränderung lässt in
seinem Kopf eine rote Glühbirne aufleuchten.
Vielleicht hat sich im Vergleich zu anderen Orten die interessanteste
Veränderung in Europa zugetragen. Während des Streitgespräches mit
Moratino in Lissabon wusste ich und er vermutlich auch nicht, dass sich
auf unserem Boden etwas zu bewegen beginnt.
Vor sechs Jahren erklärte Gush Shalom einen Boykott der Produkte aus den
(israelischen) Siedlungen. Wir sagten: „Jeder Schekel für die Siedlungen
ist ein Schekel gegen den Frieden“. Wir stellten eine Liste dieser
Produkte zusammen und verteilten sie weit und breit. Zehntausende von
Familien schlossen sich uns an.
Unser Ziel war es, den Transfer israelischer Fabriken in die besetzten
Gebiete zu verhindern, die dort von der Regierung – Labor wie Likud –
große Subventionen erhalten. Wir sagten ihnen: am Ende werdet ihr
verlieren, weil der israelische und die ausländischen Märkte für euch
geschlossen sein werden.
Unsere Initiative hat anscheinend die Europäer aufgeweckt. Waren mit dem
Aufdruck „Made in Israel“ werden in Europa von Zöllen ausgenommen, aber
das Handels-( bzw. das Assoziierungs)abkommen mit der Europäischen Union
schließt ausdrücklich Waren aus, die jenseits der 1967-Grenze, der grünen
Linie, produziert werden. Die israelische Regierung ignorierte dieses
Abkommen und brach es offenkundig. Die europäischen Offiziellen sahen
dies, knirschten mit den Zähnen und schlossen ihre Augen, weil einige
europäische Länder (Deutschland, Holland u.a.) jede Aktion gegen Israel
verhinderten.
Jetzt hat sich das anscheinend plötzlich verändert. Seit kurzem haben die
Europäer verlangt, dass jede verdächtige israelische Firma ein Äquivalent
des üblichen Zolles hinterlegen muss, bis sie bewiesen hat, dass sie sich
nicht jenseits der grünen Linie befindet.
Die Exporteure schrieen auf. In dieser Woche hat die israelische Regierung
verkündet, dass von jetzt an der tatsächliche Ort der Herstellung auf
allen nach Europa gehenden Waren klar vermerkt werden muss.
Zu guter Letzt eine entschlossene europäische Tat! Unternehmen, die vom
Export nach Europa abhängig sind, werden gezwungen sein, die Siedlungen zu
verlassen und nach Israel selbst zurückzukehren. Halleluja!
Es ist so, wie Galileo sagte: „Und sie bewegt sich doch!“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Alle deutschen Texte von
Avnery Uri
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