Offener Brief
auf den Weser-Kurier-Artikel vom 16. Juni 2010 über die
Demonstration auf dem Bremer Marktplatz gegen Israels
Überfall auf den Gaza-Schiffskonvoi
Arn Strohmeyer
Als jemand, der aktiv an der
Vorbereitung und Durchführung der Demonstration gegen die
Kaperung des Gaza-Schiffskonvois durch das israelische
Militär in internationalen Gewässern teilgenommen und auf
der Veranstaltung selbst gesprochen hat, nehme ich wie folgt
Stellung:
Die Unterstellung des
stellvertretenden Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde,
Grigori Pantelejew, die Demonstration gegen die Kaperung der
Schiffe und die Tötung von neun Menschen sei "antisemitisch"
gewesen, weise ich auf das schärfste zurück. In den
vorbereitenden Sitzungen für die Demonstration, an denen
Vertreter der muslimischen Gruppen und Gemeinden sowie der
bremischen Friedens- und Nahostgruppen teilgenommen haben,
ist gerade von moslemischer Seite immer wieder darauf
hingewiesen worden, dass es zu keinerlei Israel-feindlichen
Ausschreitungen kommen dürfe. Zur Unterstützung dieses
Zieles wurden die vom Stadtamt herausgegebenen Richtlinien
und Auflagen in voller Länge vorgelesen und absolute
Einhaltung gefordert.
Bei der Demonstration selbst
wurden die Vorschriften auf dem Sammelplatz am Hauptbahnhof
noch einmal in deutscher, arabischer und türkischer Sprache
über Megaphon - also für alle Teilnehmer verständlich -
verlesen. Als eine Gruppe, die eine ausgebreitete türkische
Fahne in den Händen hielt, etwas in türkischer Sprache
skandierte, was sich offenbar gegen Israel richtete (was ich
nicht verstand, da ich nicht türkisch spreche), liefen
sofort Ordner zu der Gruppe und untersagte ihnen die
skandierte Parole. Auf dem Protestmarsch selbst durften nur
Parolen gerufen werden, die vorher schriftlich niedergelegt
und von der Demonstrationsleitung genehmigt worden waren. Es
war vorher die Order ausgegeben worden, nur unbeschriebene
weiße Transparente mitzuführen, weil die israelische Aktion
"sprachlos" gemacht habe. Dazu könne man keine Worte mehr
haben. Wurden trotzdem Transparente mitgeführt, wurden die
Aufschriften genau kontrolliert.
Als bei der Kundgebung auf dem
Marktplatz neben dem Roland eine Hamas-Fahne auftauchte,
liefen sofort Ordner dorthin, um dafür zu sorgen, dass die
Fahne verschwand. Das Transparent, das einen alten Mann mit
blutigem Messer und Davidstern zeigte, der einen Wal (den
Gaza-Hilfskonvoi) abgeschlachtet hat, gehörte nicht zum
offiziellen Teil der Demonstration. Es war - wie Recherchen
später ergaben - von zwei Palästinensern angefertigt worden,
die erst auf dem Marktplatz während der Kundgebung zu der
Versammlung gestoßen waren. Vielleicht hat es daran gelegen,
dass die Aufmerksamkeit der Teilnehmer auf die Kundgebung
und die Redner gerichtet war, dass das Transparent nicht
sofort entfernt wurde. Natürlich konnte die Darstellung
darauf falsche und schlimme Assoziationen wecken. Dass es
nicht umgehend aus dem Verkehr gezogen wurde, ist ein
bedauerliches und unverzeihliches Versäumnis. Dennoch muss
hier - aber nicht als Rechtfertigung! - erwähnt werden, dass
einer der beiden Palästinenser aus Gaza stammt und bei dem
Krieg Israels 2008/2009 gegen den Küstenstreifen mehrere
Mitglieder seiner Familie verloren hat.
Es ist aber völlig unsinnig und
beleidigend, wenn der Vertreter der Jüdischen Gemeinde
Grigori Pantilejew und die Bremer Bürgermeisterin und
Finanzsenatorin Karoline Linnert indirekt allen 4000
Teilnehmern der Demonstration unterstellen, dass sie sich
mit diesem Transparent identifiziert hätten und die ganze
Demonstration deshalb "antisemitisch" gewesen sei. Dieses
Transparent ist von den meisten Teilnehmern vermutlich
überhaupt nicht wahrgenommen worden.
In dem Bericht des Weser-Kurier
wird Frau Linnert mit den Worten zitiert, dass "radikale
Israel-Kritiker heute forscher als früher auftreten". Wer
ist damit gemeint? Sind das die Leute oder Gruppen, die im
Internet antisemitische Sudeleien verbreiten und Hass derart
verbreiten, dass sie etwa "Juden und nebenbei auch noch ein
paar Kurden umnieten" wollen? Genau diese Gleichsetzung von
radikalen Antisemiten dieser Art und seriösen Kritikern der
israelischen Politik wird in dem Weser-Kurier-Artikel aber
völlig undifferenziert assoziiert. Alles wird dort in einen
Topf geworfen.
In Bremen gibt es zwei
(nicht-muslimische) Gruppen, die sich kritisch mit dem
israelischen Vorgehen gegen die Palästinenser
auseinandersetzen: Die Deutsch-Palästinensische Gesellschaft
(DPG) und das "Netzwerk für einen gerechten Frieden im Nahen
Osten". An den Aktionen dieser Gruppen beteiligt sich in den
meisten Fällen auch das "Bremer Friedensforum". Diese
Gruppen haben nie einen Zweifel daran gelassen und das auch
in ihren Statuten niedergelegt, dass sie das Existenzrecht
Israels in den Grenzen bis 1967 bejahen. Sie weisen aber
auch mit Nachdruck darauf hin, dass Israels Besetzung des
Westjordanlandes einschließlich des Siedlungsbaus und die
Abriegelung des Gazastreifens klar gegen das Völkerrecht
verstoßen. Alle drei Gruppen wollen mit ihrer Arbeit zu dem
Ziel beitragen, einen friedlichen Ausgleich zwischen
Israelis und Palästinensern zu schaffen - mit der Gründung
eines palästinensischen Staates in den besetzten Gebieten,
der auch dem palästinensischen Volk die Wahrnehmung des
Rechtes auf Selbstbestimmung verschafft. Was kann eine
strikte Anwendung des Völkerrechts mit Antisemitismus zu tun
haben?
Es muss hier aber kritisch
angemerkt werden, dass der Weser-Kurier so gut wie noch nie
über die Arbeit dieser Gruppen berichtet hat - über das
"Netzwerk" noch nie mit einem einzigen Wort, sodass die
Leser über die Arbeit dieser Gruppen gar nicht informiert
sind. Sie dann mit dubiosen Antisemiten in Internetforen in
einem Atemzug zu nennen oder zumindest diese Assoziation zu
erwecken, ist journalistisch mehr als verantwortungslos.
Zumal der Weser-Kurier über den eigentlichen Anlass der
Kritik von Grigori Pantilejew und Karoline Linnert gar nicht
berichtet hatte: nämlich die Demonstration am 16. Juni gegen
die völkerrechtswidrige Kaperung des Schiffskonvois durch
Israel, bei der neun türkische Staatsbürger ums Leben kamen.
Im "Kurier am Sonntag" waren lediglich ein paar Sätze aus
einem vor der Demonstration verbreiteten Flyer zu lesen.
Über den sehr friedlichen Ablauf, die Zahl der Teilnehmer
und über die auf dem Marktplatz gehaltenen Reden erfuhren
die Leser kein Wort. Wenn sich in Bremen 4000 Menschen auf
dem Marktplatz zu einer politischen Kundgebung versammeln,
ist das der Redaktion keinen Bericht wert! Dafür bekommt die
Jüdische Gemeinde aber einen großen Artikel im Politikteil
auf Seite zwei für ihre Kritik an einer Veranstaltung
eingeräumt, über die der Weser-Kurier bzw. der Kurier am
Sonntag selbst gar nicht berichtet hatten. Wie soll sich der
Leser über diese Veranstaltung dann ein Urteil bilden
können? Einseitiger und voreingenommener kann Journalismus
nicht sein!
Herr Pantilejew und Frau
Linnert erwecken mit ihren Statements den Eindruck, als sei
Kritik an der israelischen Politik gegenüber den
Palästinensern ganz selbstverständlich "antisemitisch". Das
ist eine unzulässige Unterstellung, weil diese Kritik - wenn
sie denn sachlich und rational - vorgebracht wird - voll vom
Völkerrecht gedeckt ist. Israels Vorgehen gegen die
Palästinenser und die Besetzung ihres Landes widersprechen
klar internationalem Recht, etlichen UNO-Resolutionen und
Gutachten des Internationalen Gerichtshofes in den Haag. Es
gibt überhaupt keinen Grund, warum das für alle Staaten der
Welt geltende Völkerrecht und die Charta der Menschenrechte
für Israel nicht gelten sollen. Es darf hier keine wie auch
immer begründeten Ausnahmen geben, wenn die Welt sicherer
und friedlicher werden soll. Auch in Bezug auf die Kaperung
des Schiffskonvois durch Israel sind sich so gut wie alle
Völkerrechtler weitgehend einig, dass hier durch Israel ein
klarer Gesetzesverstoß vorliegt. Sind wir wirklich schon so
weit, dass man sich bei einer Demonstration auf dem Bremer
Marktplatz nicht mehr auf das Völkerrecht und die Charta der
Menschenrechte berufen darf?
Zum Beleg des Gesagten. Erst
gestern haben die EU-Außenminister in Luxemburg die
israelische Blockade des Gazastreifens als unakzeptabel und
politisch kontraproduktiv bezeichnet. Israels Politik müsse
sich grundlegend und fundamental ändern, um eine dauerhafte
Lösung für die Situation in Gaza zu finden. Sie forderten
eine wirklich unparteiische und umfassende Untersuchung der
israelischen Militäraktion gegen die Gaza-Hilfsflotte. Das
Nahostquartett (bestehend aus UNO, USA, Russland und der EU)
forderte am selben Tag die komplette Aufhebung der Blockade
Gazas. Und der UN-Sondergesandte Robert Serry nannte
ebenfalls gestern den Angriff Israels auf die
Gaza-Hilfsflotte das "letzte Symptom einer gescheiterten
israelischen Politik". Etwas anderes wollten die
Demonstranten auf dem Bremer Marktplatz auch nicht zum
Ausdruck bringen. Es ist bezeichnend, dass Grigori
Pantelejew auf diese Zusammenhänge mit keinem Wort eingeht
und sich einzig und allein auf das eine zweifellos
missratene Transparent bezieht. So lenkt man vom Kern der
Sache ab und will zugleich die Debatte über die eigentlich
wichtige politische Frage - hier die Erstürmung der Schiffe
und die Notsituation in Gaza - ersticken.
Zudem irrt Herr Pantilejew,
wenn er jede Kritik an der israelischen Politik mit
Antisemitismus gleichsetzt. Dieser Irrtum rührt daher, dass
einseitige Interessenvertreter Israels wie er Judentum und
Zionismus nicht auseinander halten. Außerdem wollen oder
können sie nicht zwischen Israelkritik, Antizionismus und
Antisemitismus unterscheiden. Der israelische Historiker
Moshe Zuckermann, der in Tel Aviv deutsche Geschichte lehrt,
sagt dazu, dass Leute, die so argumentierten, hätten "nicht
begriffen, was Israel damit an Horrendem anrichtet und auch
zwangsläufig den realen Antisemitismus in der Welt nährt.
Man kann offenbar nicht den Apfel essen und ihn gleichzeitig
behalten."
Interessant ist in diesem
Zusammenhang auch gerade für uns Deutsche die Stellungnahme
des israelischen Literaturkritikers Ran MaCohen zu dem
Zusammenhang Kritik an Israel und Antisemitismus. Er
schreibt. "Der Missbrauch von angeblichem Antisemitismus ist
moralisch verabscheuungswürdig. Es waren hunderte von Jahren
nötig und Millionen von Opfern, um Antisemitismus - eine
spezielle Form von Rassismus, der historisch zum Genozid
führte - in ein Tabu zu verwandeln. Menschen, die dieses
Tabu missbrauchen, um Israels rassistische und genozidale
Politik gegenüber den Palästinensern zu unterstützen, tun
nichts anderes, als die Erinnerung an jene jüdischen Opfer
zu schänden, deren Tod aus humanistischer Perspektive nur
insofern Sinn hat, als er eine ewige Warnung an die
Menschheit ist vor jeder Art von Diskriminierung, Rassismus
und Genozid."
Man könnte etliche weitere
solche Zitate und Stellungnahmen von vielen Juden und
Israelis anführen, die im Gegensatz zu den Anklagen und
Aussagen von Grigori Pantelejew von großer universaler
Humanität zeugen. Was aber nur belegt: Keineswegs alle Juden
und Israelis sind mit der israelischen Politik
einverstanden. Ganz im Gegenteil: Der Widerstand aus
jüdischen Kreisen gegen das Vorgehen Israels wächst ständig.
Man kann sagen: Das Judentum ist zutiefst gespalten über
diese Frage. Diese jüdischen Gegner der israelischen Politik
führen auch immer wieder das Argument an, dass es gerade
diese verhängnisvolle Politik ist, die die Existenz und die
Zukunft Israels bedrohen - und nicht die arabische Seite,
die schon 2002 einen Friedensplan angeboten hat, der im
Austausch für die Räumung der besetzten Gebiete und die
Schaffung eines palästinensischen Staates dort die volle
Anerkennung Israels durch alle arabischen Staaten vorsah.
Israel hat den Plan abgelehnt.
Von jüdischen und israelischen
Kritikern der Politik dieses Staates wird immer wieder
hervorgehoben, dass es zur Zeit kein Land der Welt gebe, in
dem Juden bedroht und verfolgt würden - außer in Israel, wo
die Sicherheitslage durch Israels Besatzungs-, Abriegelungs-
und Unterdrückungspolitik prekär sei. Wenn sich
Antisemitismus ausbreite, dann sei dafür eben diese Politik
Israels verantwortlich. Antisemitismus fällt also nicht ohne
Ursache vom Himmel, sondern hat einen klaren Ausgangpunkt.
Um noch einmal Moshe Zuckermann zu zitieren: "Die Ächtung
des Antisemitismus ist zweifellos eine gesellschaftliche
Notwendigkeit. Problematisch und kontraproduktiv wird es
dort, wo ein vermeintlich kritischer Diskurs in
herrschaftliches Bekenntnis umschlägt, wo
Anti-Antisemitismus politisch missbraucht wird, wo sich eine
vermeintlich kritisch auftretende Rezeption als ideologisch
entpuppt... Der Vorwurf des Antisemitismus dient
israelischen Lobbies als Instrument, ihre Gegner mundtot zu
machen, notwendige Debatten im Keim zu ersticken."
Darin, was Moshe Zuckermann
hier schreibt, hat uns Grigoris Pantilejew in dem WK-Artikel
eine Lehrstunde erteilt. Die muslimischen Gruppen und
Gemeinden, die sehr stolz auf ihre so friedlich
durchgeführte Demonstration waren, reagierten mit
sprachlosen Entsetzen auf die Vorwürfe aus der jüdischen
Gemeinde. Grigori Pantilejew hat gespaltet, er hat die Kluft
zwischen den Religionsgruppen in Bremen mit seiner wilden
Polemik vertieft. Er hat Panik geschürt, indem er Angst und
Schrecken vor einem Gespenst verbreitet, zu dessen Umtrieben
er durch die Verteidigung der völker- und
menschenrechtswidrigen Politik Israels selbst beiträgt: dem
Anwachsen des Antisemitismus.
Es wäre fair und anständig, die
Bremer Friedens- und Nahostgruppen in den Medien der Stadt
bisweilen auch einmal zu Wort kommen zu lassen, damit deren
Argumente und Anregungen nicht unterdrückt werden, wie es
zur Zeit geschieht. Zu dem Gespräch zwischen Frau Linnert
und Grigori Panteljew hätte man ja auch Vertreter dieser
Gruppen hinzuziehen können, um den Eindruck totaler - um
nicht zu sagen totalitärer - Einseitigkeit zu vermeiden. Zur
Demokratie gehört der offene Dialog - und an dem fehlt es
was die Debatte über den Nahost-Konflikt in der Hansestadt
angeht. Die Bremer Friedens- und Nahostgruppen sind zu ihm
jederzeit ohne Vorbehalte bereit.
Arn Strohmeyer
Bremen, den 17.6.2010
Mitglied im "Bremer Netzwerk
für seinen gerechten Frieden im Nahen Osten" und im
"Friedensforum"