„Deutschland begeht Verrat an menschen- und völkerrechtlichen
Grundprinzipien“ Interview mit Norman G. Finkelstein zur deutschen
Verantwortung im Nahost-Konflikt
Fragen: Arn
Strohmeyer, Journalist, Bremen
Übersetzung: Maren Hackmann
Der amerikanisch-jüdische Politikwissenschaftler Norman G.
Finkelstein ist ein scharfer Kritiker der israelischen Politik. In
der vergangenen Woche wollte er in Deutschland mehrere Vorträge
halten. Die Veranstalter – darunter auch Kirchengemeinden, die
Heinrich-Böll- und die Rosa Luxemburg-Stiftung – zogen ihre
Teilnahme und die Zusage eines Raumes für die Veranstaltung aber
wieder zurück, daraufhin sagte Finkelstein seine Deutschland-Reise
ab. Da es anderen jüdischen Intellektuellen schon ähnlich ergangen
ist (etwa Ilan Pappe oder Felicia Langer) ergibt sich die Frage:
Haben jüdische Israel-Kritiker in Deutschland Redeverbot?
Finkelstein veröffentlichte bisher fünf Bücher, die alle auch auf
Deutsch vorliegen, darunter Die Holocaust-Industrie und
Antisemitismus als politische Waffe. Ende
März erscheint sein neuestes Werk, „This Time We Went Too Far”:
Truth and Consequences of the Gaza Invasion, bei OR Books in New
York. Im Jahr 2009 erschien ein neuer Dokumentarfilm über
Finkelstein mit dem Titel American Radical. Seine Website ist
www.normanfinkelstein.com.
Herr Dr. Finkelstein, in Deutschland
öffentlich Kritik an der israelischen Politik zu üben, ist selbst
jüdischen Intellektuellen nicht ohne Weiteres möglich. Denn unter
dem Deckmantel der Antisemitismusbekämpfung versuchen selbsternannte
Freunde Israels – neuerdings verstärkt – die Veranstalter so weit
unter Druck zu setzen, dass sie angekündigte Referenten kurzerhand
wieder ausladen beziehungsweise Raumzusagen rückgängig machen. So
erging es kürzlich beispielsweise dem israelischen Historiker Ilan
Pappe und der israelischen Menschenrechtsanwältin Felicia Langer.
Nach der gegen Sie gerichteten Schmutzkampagne der letzten Tage
sahen Sie sich zur Absage Ihrer Vortragsreise nach München und
Berlin genötigt. Wie beurteilen Sie das aktuelle politische Klima in
Deutschland und wie wird es sich Ihrer Meinung nach entwickeln?
Finkelstein:
Aus der Ferne drängt sich mir der
Eindruck auf, dass Bundeskanzlerin Merkel mit ihrer hysterischen
Unterstützung Israels und ihrer unablässigen Berufung auf den
Holocaust eine ohnehin schon toxische Atmosphäre noch weiter
vergiftete und überdies Henryk Broder und Konsorten dazu ermutigte,
in die Offensive zu gehen. Doch darf man nicht vergessen, dass diese
Leute, wenngleich lautstark und aggressiv, in der Minderheit sind.
Nach Meinungsumfragen sieht der überwiegende Teil der deutschen
Bevölkerung die israelische Politik durchaus kritisch und ist nicht
der Ansicht, dass den Deutschen aus der Massenvernichtung der Juden
durch die Nazis eine besondere Verantwortung gegenüber Israel
erwächst.
Man hat Sie dafür angegriffen, dass Sie
die israelische Politik mit Hitlers Nationalsozialismus verglichen.
Deutschen fällt es aufgrund ihrer historischen Schuld gegenüber dem
jüdischen Volk nicht leicht, über einen derartigen Vergleich auch
nur nachzudenken, geschweige denn ihn zu akzeptieren. Halten Sie ihn
wirklich für passend?
Finkelstein:
Es gab eine Zeit, in der Vergleiche
dieser Art notwendig waren, um die Leute aus ihrer Gleichgültigkeit
aufzurütteln. Heutzutage genügt aber der Hinweis auf Aussagen von im
Mainstream zu verortenden Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty
International und Human Rights Watch, um das Ausmaß der Brutalität
und Ungesetzlichkeit der israelischen Politik zu verdeutlichen.
Nach Meinung mancher Leute steht es den
Deutschen gar nicht zu, Israel in irgendeiner Weise zu kritisieren.
Die Bundeskanzlerin und andere hochrangige Amtsträger betonen stets,
die Solidarität mit Israel sei deutsche Staatsräson, eine Haltung,
die schon seit Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen den
beiden Ländern vorherrscht. Dass Israel die Menschenrechte der
Palästinenser verletzt, wird in Deutschland teils geflissentlich
übersehen, teils gerechtfertigt. Es gibt sogar eine enge
deutsch-israelische Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet, und bei
seinem Gazakrieg zur Jahreswende 2008/2009 setzte Israel auch
deutsche Waffen ein. Ist es nicht gefährlich für Deutschland, die
eigenen außenpolitischen Belange der israelischen Sicherheitspolitik
unterzuordnen und sich in Israels Kriege hineinziehen zu lassen? Und
hat Deutschland nicht auch eine historische Verantwortung gegenüber
den Palästinensern?
Finkelstein:
Die Beschäftigung mit der Massenvernichtung der Juden durch die
Nazis sollte eigentlich mit der Erkenntnis einhergehen, dass
Wahrheit und Gerechtigkeit von höherem Wert sind als Unterwürfigkeit
gegenüber einem Staat. Amnesty International hat dazu aufgerufen,
ein uneingeschränktes Waffenembargo über Israel zu verhängen, weil
das Land nicht aufhört, die Menschenrechte zu verletzen. Als
Waffenlieferant Israels begeht Deutschland Verrat an menschen- und
völkerrechtlichen Grundprinzipien. Es ist paradox, dass Deutschland
zur Rechtfertigung seiner kriminellen Politik auf den Holocaust
verweist.
Sie haben die Regierung von George W.
Bush als „Gangsterregime“ bezeichnet. Was halten Sie von der
Regierung Obama? Obama stellte ja eine Verbesserung der
US-amerikanischen Beziehungen zur islamischen Welt in Aussicht und
weckte Hoffnungen auf eine Beilegung des
israelisch-palästinensischen Konflikts. War das bloß Wortgeklingel?
Finkelstein:
Obamas außenpolitisches Team besteht
fast ausschließlich aus Leuten, die auch schon unter Clinton und
Bush dienten. Insofern wäre es überraschend, wenn die Regierung
Obama sich anders verhalten würde als ihre Vorgängerinnen. Wie der
brillante Journalist Allan Nairn neulich bei Democracy Now!
darlegte, sieht es vielmehr ganz danach aus, als habe Obama im
ersten Jahr seiner Amtszeit mehr unschuldige Zivilisten umgebracht
als George Bush.
Israel hat anscheinend immer noch vor,
den Iran anzugreifen. Vor kurzem soll der israelische
Ministerpräsident Benjamin Netanyahu bei einem Moskaubesuch Russland
um Unterstützung für einen solchen Plan gebeten haben. Was würde ein
israelischer Angriff auf den Iran für die Region und die Welt
bedeuten? Stellt der Iran wirklich eine Bedrohung für Israel, die
einzige Atommacht in der Region, dar?
Finkelstein:
Ich glaube nicht, dass Israel den Iran angreifen wird, ohne zuvor
grünes Licht von der Regierung Obama erhalten zu haben, und danach
sieht es derzeit nicht aus. Beweise für ein laufendes iranisches
Atomwaffenprogramm gibt es ebenso wenig wie Beweise dafür, dass der
Iran, einmal in den Besitz solcher Waffen gelangt, eine Bedrohung
für Israel darstellen würde. Die iranische Führung hat langsam, aber
sicher an regionaler Stärke gewonnen und will nicht von einer
atomaren Feuersbrunst dahingerafft werden. Den Nahen und Mittleren
Osten in eine atomwaffenfreie Zone zu verwandeln, ist auf jeden Fall
die beste Lösung. Einer israelischen Zustimmung zu einem solchen
Plan würde die iranische notgedrungen auf dem Fuße folgen; ein
iranisches Nein wäre so gut wie ausgeschlossen.
Politisch rückt Israel näher an den
rechten Rand, und es scheint, dass Israel, statt sich um Frieden zu
bemühen, auf die Überlegenheit seiner Waffen setzt.
Sehen Sie dennoch Grund
zur Hoffnung?
Finkelstein:
Israel setzt seit jeher auf die Überlegenheit seiner Waffen und hat
sich nie um Frieden bemüht, außer nachdem es auf dem Schlachtfeld in
arge Bedrängnis geriet. Israels Zustimmung zu einem Friedensschluss
mit Ägypten im Jahr 1978 ergab sich aus der im Oktoberkrieg von 1973
erlittenen Schmach. Heute ruhen die Friedenshoffnungen hauptsächlich
auf etwas anderem: Die Tatsache, dass Israel zu einer Bedrohung für
den Weltfrieden geworden ist, dringt immer stärker ins öffentliche
Bewusstsein. Das von Israel vor einem Jahr in Gaza angerichtete
Massaker markierte in dieser Hinsicht eine Zäsur. Vielen Leuten
wurde damals klar, dass das, was Israel tat, unmoralisch und durch
nichts zu rechtfertigen war.
Woher rührt Ihrer Ansicht nach der
scheinbare Widerwille der Europäischen Union, Druck auf Israel
auszuüben, damit es mit seinen Nachbarn Frieden schließt? Die EU tut
ja gerade so, als ob mangelndes friedenspolitisches Engagement von
Wohlwollen gegenüber Israel zeuge.
Finkelstein:
Die EU sieht nicht ein, warum sie sich wegen der Palästinenser
Scherereien mit den USA einhandeln sollte. Sie ist nicht motiviert
genug, um sich zur Verteidigerin der Palästinenser aufzuschwingen,
hat aber allen Grund, die Auseinandersetzung mit den USA zu scheuen.
Das Abstimmungsverhalten der EU bei der UN-Generalversammlung ist
meist gar nicht schlecht, nur hört man keinen Mucks von ihr, wenn
sie aufgerufen ist, nach ihren erklärten Grundsätzen zu handeln.
Gehen die Vereinten Nationen und die
internationale Gemeinschaft Ihrer Meinung nach angemessen mit dem
Goldstone-Bericht über Gaza um?
Finkelstein:
Aufgrund der US-amerikanischen Unterstützung Israels und der
Feigheit der EU ist nicht zu erwarten, dass der Goldstone-Bericht
bedeutende Rechtsfolgen haben wird. Weil er aber die Weltmeinung
aufgerüttelt hat, bereitet der Bericht Israel dennoch starke
Kopfschmerzen. Die verheerenden Untersuchungsergebnisse lassen sich
nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass Israel Goldstone, wie in
solchen Fällen üblich, als Antisemiten, sich selbst hassenden Juden
oder Holocaustleugner verunglimpft, prallen diese Schimpfwörter doch
allzu deutlich an ihm ab. Goldstone ist, wie Gideon Levy in der
Haaretz schrieb, „propagandaresistent“.
Der Goldstone-Bericht wirft Israel vor,
„Kriegsverbrechen“ begangen zu haben. Sie haben von einem
„Holocaust“ gesprochen, um zu beschreiben, was passiert ist. Halten
Sie diese Analogie wirklich für angebracht?
Finkelstein:
Dass ich diese Analogie bemüht habe, ist mir zwar nicht erinnerlich,
aber es mag schon sein, dass ich das Wort benutzt habe, um zu
verdeutlichen, wie obszön es ist, wenn das historische Leid des
jüdischen Volks zur Rechtfertigung des High-tech-Infernos in Gaza
herangezogen wird. Normalerweise spreche ich jedoch nicht von einem
„Holocaust“, um zu beschreiben, was dort stattgefunden hat. Vielmehr
halte ich mich strikt an die Feststellungen angesehener, im
Mainstream zu verortender Menschenrechtsorganisationen und Juristen
– und die werfen Israel vor, während seines Angriffs auf Gaza
Kriegsverbrechen sowie potenzielle (beziehungsweise gewisse)
Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben.
Glauben Sie, dass Israel erst einmal
seine Geschichte aufarbeiten und sich von seinen zionistischen
Mythen verabschieden muss, bevor im Nahen Osten wirklich Frieden
einkehren kann?
Finkelstein:
Israel wird einer Konfliktbeilegung zustimmen, wenn es sich dazu
gezwungen sieht. Ausüben lässt sich ein solcher Zwang auf vielerlei
Art, etwa durch „die Macht der öffentlichen Meinung“ und
gewaltfreien zivilen Ungehorsam.
Zur Rechtfertigung seines Handelns
bezieht Israel sich immer wieder auf den Holocaust. Gleichzeitig
lehnt Israel es aber ab, moralische und völkerrechtliche Einwände
gelten zu lassen. Was kann man dagegen tun? Halten Sie einen
internationalen Boykott israelischer Waren und Produkte für ein
legitimes und wirksames Mittel und wäre eine deutsche Beteiligung an
solch einer Kampagne in Ihren Augen angemessen?
Finkelstein:
Ich unterstütze jede Taktik, solange sie moralisch vertretbar und
Erfolg versprechend ist. Eine abstrakte, verallgemeinernde
Diskussion führt allerdings nicht weiter. Man muss sich schon jede
Initiative einzeln ansehen, um festzustellen, ob die Vor- oder die
Nachteile überwiegen. Die größte Aussicht auf Erfolg haben jene
Initiativen, die, wie das Waffenembargo, von den im Mainstream zu
verortenden Menschenrechtsorganisationen vorgeschlagen wurden.
Herr Dr.
Finkelstein, ich danke Ihnen für das Gespräch.
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