Unser
Schatten
Meron Benvenisti, Haaretz, 5.11. 2004
Die von
mehreren Kommentatoren geäußerte Vorwegnahme des Ablebens des
palästinensischen Präsidenten Yasser Arafats, war nicht die
Vorwegnahme eines freudigen Ereignisses, sondern eine der
Furcht: was wird uns die Zukunft ohne ihn bringen? Selbst die,
die nicht zögerten, sich mit öffentlichen Plänen seiner
„gezielten Ermordung“ zu befassen, kamen , um ihm medizinische
und logistische Hilfe anzubieten. Man versuchte, jeden Vorwand
im voraus zu beseitigen, der Israel Schuld geben könnte,
Bemühungen zu verhindern, um Arafat zu retten. Vielleicht war es
aber auch ein Zeichen für eine gewisse Ehrfurcht vor dem Feind,
der am Ende ist.
Die zwanghafte
Beschäftigung mit den Zusammenhängen seines Ablebens und mit
dem pathetischen „Vermächtnis“, das er zurücklässt – ein
verfolgtes und verarmtes Volk zu regieren - zeigt den
wirklichen Status des Gefangenen der Muqata auf. Genau die
Leute, die sich darum bemühten, die ganze Welt von Arafats
„Irrelevanz“ zu überzeugen und den Führer des palästinensischen
Volkes zu demütigen, erkannten die historische Stellung des
Mannes an, der ein halbes Jahrhundert lang die Sehnsüchte eines
ganzen Volkes verkörperte.
Wenn alles
gesagt und getan ist, dann ist Arafat der Schatten, der uns (ver)folgt.
Die Stationen seines Lebens – von der arabischen Revolte bis zur
Al-Aqsa-Intifada – sind die Stationen auch unseres Lebens, nur
umgekehrt. Ohne ihn und ohne die von ihm geführte Generation
gibt unsere Geschichte keinen Sinn, weder was die Opfer noch was
die Siege betreffen. Jeder, der seinen Feind verachtet,
verkleinert seinen eigenen Sieg und nimmt der eigenen
Geschichte die Bedeutung. Wir gehen weiter und mit uns geht
unser Schatten, das palästinensische Volk; wir schlagen den
Schatten mit einem dicken Knüppel – doch lässt er uns nicht los.
Was werden wir
tun, wenn die Sonne aufgeht und wir auf einmal entdecken, dass
der Schatten, der in der Figur des „zweibeinigen wilden Tieres“
verkörpert ist, verschwunden ist? Wer soll nun die Rolle des
dämonischen Schurken übernehmen? Niemand kann in die Schuhe der
Person schlüpfen, die diese Rolle so perfekt spielte.
Derjenige, der
das am besten verstand, war der frühere Minister Ehud Barak, der
den Mythos Arafat geschaffen hat, den „ Verweigerer von Camp
David“, der Mann, dem der Mond angeboten wurde und der dies
Angebot ablehnte – und der einen Krieg mit Terror begann, um
mit Blut zu erreichen, was er nicht durch Verhandlungen
erreichte. Wer ist nicht auf diesen Mythos reingefallen? Es ist
kein Wunder; denn wie sollten wir andrerseits mit der Realität
voller Gewalt, mit der grausamen Unterdrückung und dem gequälten
Gewissen fertig werden?
Wir benötigen
einen Sündenbock und jemanden, dem wir die Schuld für alles
aufladen können, um unser Gewissen zu reinigen. Als er jetzt
diesen Job des Dämons aufgab und entdeckte, dass er sterblich
ist, schauen wir uns nach einem Erben um – nicht nach einem
Partner, sondern nach einem Sündenbock, der unsere Sünden,
unsere Frustrationen und unsern Hass wegträgt.
Und dies ist
nicht das erste Mal, dass Arafat dazu herhalten musste, um unser
(schlechtes) Gewissen zu heilen .Das Elend des palästinensischen
Volkes und seine persönliche Notlage zwangen ihn am Vorabend der
Oslo-Verträge, seine stärkste Waffe aufzugeben, nämlich die
Legitimität der zionistischen Entität anzuerkennen. Obwohl es
stimmt, dass die Palästinenser ein besetztes und besiegtes Volk
sind, sind allein sie – die Opfer des zionistischen Unternehmens
- in der Lage, diese Legitimität zu gewähren. Arafat entschied
mit Unterstützung vieler Aktivisten der ersten Intifada und mit
der Opposition anderer, Israel anzuerkennen - als Gegenleistung
für die Anerkennung der PLO ( als alleinige Vertretung des
palästinensischen Volkes)
Diese
Anerkennung ließ die linken Kreise erleichtert aufatmen; denn
diese befreite sie von den Schuldgefühlen, die mit dem
zionistischen Unternehmen - und damit auch der Zerstörung des
palästinensischen Volkes - verbunden waren. Wenn Arafat Israel
anerkennt, sind sie von moralischen Dilemmas befreit, die ihnen
durch den Konflikt und ihre Siege auferlegt waren.
Es dauerte
nicht lange, um Arafats historischen Schachzug, zusammen mir dem
ehemaligen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin, vergessen zu
lassen. Neue moralische Dilemmas machten es notwendig, die
Definition Arafats neu zu bestimmen: Arafat war ein Terrorist
und die PLO eine Terrororganisation. Der Wunsch nach Anerkennung
wurde durch „Es gibt keinen Gesprächspartner“ ersetzt – und der
Partner wurde ein gedemütigter Gefangener. Nur wenige
verstanden, dass die Anerkennung der Legitimität der
zionistischen Entität kein irreversibler Schritt ist. Und
tatsächlich hat die Rücknahme der „gegenseitigen Anerkennung“
Arafat und den Palästinensern sehr geschadet – aber auch
Israel, das niemals Zweifel hegte, dass seine Aktionen legitim
seien, ja bis zu dem Ausmaß, was es jetzt tut.
Es war das
Schicksal Arafats, im Leben wie im Tode ein Symbol zu sein.
Ministerpräsident Sharon hat dies anscheinend begriffen, als er
erklärte, dass Arafat, so lange er selbst lebe, nie in
Jerusalem beerdigt werden könne. In aller Eile musste der kranke
Arafat noch einmal gedemütigt werden: Sharon versah das
Schicksal Arafats, das er mit vielen Palästinensern teilt, mit
einem klaren Symbol: sie haben keine Heimat und keinen Friedhof,
in dem sie mit ihren Vorfahren vereinigt sein können.
Wenn wir nun
Verständnis und Empathie für unsern Schatten – den besiegten
Führer – für sein Leiden, seine Erfolge und seine Fehler gezeigt
hätten --- wie zivilisiert wäre das wohl gewesen?
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs)