„Präventivmaßnahme“
oder die Geschichte eines potentiellen „Terroristen“
B.Michael, Dez.2005
Abu-Daoud wurde vor kurzen 40. Er
ist ein aufrechter Mensch mit freundlichen Augen. Er muss in seiner
Familie 8 Mäuler füttern, und bis vor kurzem konnte er sich mühsam
am Qalandia-Kontrollpunkt durchschlagen. In den Jahren vor der
Intifada arbeitete Abu-Daoud im israelischen Teil von Jerusalem. Das
waren gute Jahre. Seine Augen werden traurig, wenn er sich an die
150 Schekel erinnert, die ihm sein Chef schenkte, als eines seiner
Kinder geboren wurde. Einmal wurde er sogar mit allen Angestellten
zu einem Wochenende ins Dan Hotel eingeladen. Das war ein gutes
Leben.
1982 überfuhr eine Siedlerfrau mit
ihrem PKW seinen Vater und tötete ihn – und beging Fahrerflucht. Sie
wurde erst später ausfindig gemacht. Zu ihrer Verteidigung
behauptete sie – wie das dann üblich ist – man habe vorher Steine
auf sie geworfen. Man muss ihr nicht glauben.
1992 war seine Mutter zu Tode
gekommen. Einer von Abu-Daoud jüngeren Brüdern nahm an einer
Demonstration teil. Die ältere Frau, die um ihren Sohn Angst hatte,
eilte hinaus, um den Sohn ins Haus zu holen. Ein Soldat schoss mit
Tränengas. Die Mutter rannte in die Tränengaswolke, erstickte,
verlor das Bewusstsein, wurde schnell ins Krankenhaus gebracht und
starb.
Innerhalb von 10 Jahren raubte die
Besatzung Abu-Daoud den Vater und die Mutter. Er blieb ruhig und
arbeitete weiter in Jerusalem, um für seine Familie den
Lebensunterhalt zu verdienen.
2000 wurden die Tore ( nach Israel)
geschlossen. Der Mann von „Kadima“ (Sharons neue Partei) ging auf
den Tempelplatz, und die Feuer, die er in Brand setzte, wurden bis
heute nicht gelöscht. Zehntausende von Palästinensern wurden von
ihrem Arbeitsplatz abgeschnitten. Auch Abu Daoud musste mit seiner
Arbeit in Jerusalem aufhören. Er konnte sich nur sehr mühsam am
Qalandia-Kontrollpunkt etwas verdienen.
Der Qalandia-Kontrollpunkt ist die
Hölle. Wahnsinn, Bosheit, Absurdität, Perversion und absolute
Korruption in einem Unterwelt-Fluss von Leben und Tod, Überleben und
Verlust, List und Dummheit, Menschlichkeit und Bestialität,
Grausamkeit und Leidenschaft. Hier zwischen den Stacheldrahtzäunen,
endlosen Warteschlangen und unvorstellbarer Frechheit von Kindern
in Uniform – also Soldaten - kollidieren zwei urzeitliche Kräfte:
der Überlebensinstinkt eines besetzten Volkes und der Machtinstinkt
eines besetzenden Volkes.
Diese wahnsinnige Begegnung hat
seltsame Blüten des Geldverdienens geschaffen. Abu-Daoud schob das
schwere Gepäck der Leute, die vom Besatzer als Fußgänger durch den
Kontrollpunkt durchgelassen wurden. Eine Holzkiste auf drei Rädern
diente als Schubkarre, in der er die Habe der Leute trug: eine Kiste
Tomaten, eine Matratze, einige Koffer. Ein Gepäckträger an einem
surrealen Bahnhof. An einem guten Tag brachte er 70 Schekel mit
nach Hause - an einem schlechten Tag nichts.
Noch immer haben seine Augen den
freundlichen, warmen Blick. Warum soll er sich beklagen. Seine
Kinder gehen zur Schule und sind nicht hungrig.
2001 wird sein 8jähriger Sohn
Khaled in den Kopf geschossen. Soldaten schossen in eine Gruppe
demonstrierender Jungen mit scharfer Munition. Der Kopf des Kindes
war voller Schrapnell. Khaled starb nicht. Nur sein Kopf blieb
beschädigt, sein Gehirn veränderte sich und seine Nächte waren
übervoll mit Schmerz.
Abu-Daoud sah seinen Jungen weiter
zur Schule gehen – doch war er nicht mehr so ein guter Schüler wie
vorher. Ein erster Hinweis auf Schmerz und Verwirrung überschatten
seine freundlichen und warmen Augen.
2002 brachten es ein paar gute Menschen dahin, dass Khaled im Tel
Aviver Ichilov-Krankenhaus medizinisch untersucht wurde. Vielleicht
könnte seinem Kopf etwas geholfen, seine Schmerzen gelindert werden.
(Es ist möglich – aber es ist kein Geld für eine Operation da.)
Abu-Daoud möchte seinen Sohn ins Krankenhaus begleiten und seine
Hand halten.
Da erfährt er, dass er zu denen
gehört, die vom israelischen Geheimdienst (Shabak) mit „präventiv“
bezeichnet werden.
Ihm wird verboten, Israel zu
betreten. Nicht einmal seinen 9jährigen Jungen darf er betreuen.
„Shabak-präventiv“ ist eine weitere
besatzungs-bürokratisch groteske Erfindung. „Präventiv/ verhindert“
ist wie ein „Bastard“ im jüdischen Gesetz: es ist jemand, der nichts
Böses begangen hat, aber trotzdem von der jüdischen Gemeinschaft
verurteilt wird. Keiner informiert ihn, warum und seit wann er als
„präventiv/ verhindert“ gilt. Es wird ihm auch kein Recht der
Berufung eingeräumt. Eines Tages kam sein Name auf diese Liste, und
seitdem hat er keine Chance, eine Arbeitserlaubnis, eine Magnetkarte
oder irgendein anderes Dokument auf der langen Liste widerlicher
Erfindungen zu erhalten, die eine zermalmende Bürokratie bereit hat.
Ohne solch ein Dokument findet ein Besetzter keine
Unterhaltsmöglichkeit.
Abu-Daoud weiß nicht, warum er zu
den „Shabak-Präventiv-Fällen“ gehört. Die Erklärung wurde –
überraschend genug – von dem Mann gegeben, der der Zivilverwaltung
vorsteht , von General Ilan Paz und zwar bei einem Interview mit
Tzadok Yehezkeli (Yedioth Ahronot, 23.1.04) : „Nicht nur Leute, die
selbst in Terrorismus verwickelt sind, gehören zu den „Präventiven“
– wenn der Bruder von der israelischen Armee getötet wurde, ob
absichtlich oder nicht, dann gehört man ziemlich sicher schon zu
den „Präventiv-Fällen“ . Weil es mehr als wahrscheinlich ist, dass
man dann einen terroristischen Anschlag verübt ....“
Nun ist endlich klar, warum
Abu-Daoud zu den „Präventiv“-Fällen gehört: eine Siedlerin hat
seinen Vater überfahren und getötet, einen israelischer
Tränengaskanister tötete seine Mutter, ein israelischer Soldat
durchschoss den Kopf seines Sohnes ... Sollte man ihm nach all dem -
unter diesen Umständen -Bewegungsfreiheit geben? Und tatsächlich
tat der Shabak das Richtige und erklärte ihn zu einem
„Präventiv“-Fall , um ihn nicht zu einer „tickenden Bombe“ werden zu
lassen.
In der vergangenen Woche wurde der
Qalandia-Kontrollpunkt fast vollkommen abgesperrt. Ein von Neonlicht
beleuchtetes Betonungeheuer ist an seine Stelle getreten. Es wird
jetzt „Terminal“ genannt. Nun braucht man keine Schubkarren mehr.
Abu-Daouds Verdienstmöglichkeit gibt es nicht mehr. Verzweifelt hat
er noch einmal bei den Besatzungsbehörden angefragt und um eine
Magnetkarte gebeten. Ein israelischer Arbeitgeber wäre bereit, ihn
anzustellen. „Nein“, wurde ihm gesagt, „unmöglich. Sie sind ein
„Präventiv“-Fall.“
Und Abu-Daouds Welt fiel um ihn und
in sich zusammen.
Aber nun, nachdem Abu-Daoud von
jeder Art von Lebensunterhalt abgeschnitten ist – wird er zweifellos
ein tadelloser, loyaler, friedensliebender Zivilist werden. – Oder?
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Sehr ehrenhafte Richter des Obersten
Gerichthofes,
Die oben aufgezeichnete Geschichte,
die in ihren Fakten absolut wahr ist, ist nicht nur dafür da, den
Leuten die groteske Bedeutung der Besatzung nahe zu bringen. Sie
soll nicht weniger Licht auf die falschen Behauptungen werfen, die
von der Armee und dem Shabak über die Politik der „gezielten
Tötungen“ verbreitet werden, die angeblich der Sicherheit dienen.
Während der eine Sicherheitsmann
dies behauptet, weiß der andere offensichtlich sehr wohl, dass jedes
Opfer von gezieltem Töten, wie jedes andere, das „zufällig“ von der
Armee erschossen wird, nicht nur verfehlt, den Terrorismus zu
reduzieren, sondern einen immer größer werdenden Kreis potentieller
Terroristen schafft. Warum beeilen sich denn sonst Shabakleute,
die Namen der Familienmitglieder des Opfers auf die Liste der
„Präventiv-Fälle“ zu setzen?
Bitte, nehmen Sie dies zur Kenntnis!
B.Michael
(Aus dem Hebräischen: Tal Haran, New
Profile message 48; aus dem Engl: Ellen Rohlfs)
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