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Warum ist dieses Jahr anders
als andere Jahre und diese Abstimmung anders als andere ?
Adam Keller, Gush
Shalom Crazy Country, 18.Juni 2011
http://adam-keller2.blogspot.com/2011/06/why-is-this-year-different-from-all-years.html
Seit Jahrzehnten trifft sich jedes
Jahr die UN-Vollversammlung im September. Und jedes Jahr nimmt
sie mit großer Mehrheit eine Reihe Resolutionen an, die von den
Palästinensern initiiert wurden. Diese Resolutionen werden (
wenn überhaupt) als kleine Nachrichten irgendwo auf Seite 10
gebracht und verschwinden gleich in den UN-Archiven. Keiner
erwartet ernsthaft, dass sie tatsächlich in der Realität erfüllt
werden. In diesem Jahr ist es ganz anders.
Nie hat eine UN-Abstimmung so viel
Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wie die Abstimmung, die man im
September dieses Jahr erwartet. In diesem Jahr drückte der
Verteidigungsminister Besorgnis aus, dass die erwartete
UN-Abstimmung einen politischen Tsunami auslöst. Und der
Außenminister begann mit einer Notmobilisierung all seiner
Diplomaten in allen Ländern der Welt und instruierte sie schon
viele Monate im voraus, ihre Energien auf die erwartete
Abstimmung in der UN-Vollversammlung zu konzentrieren. Und die
IDF und die Polizei halten ein halbes Jahr im voraus
umfangreiche Übungen ab, während sie die UN-Abstimmung erwarten
und seine vorausgesagte Auswirkung vor Ort. Und der
Ministerpräsident (MP) Israels und seine hochrangigen Minister
fliegen rund um die Welt von einer Hauptstadt zur anderen in
einer Non-Stop-Kampagne von Gesprächen und Reden, Überzeugungen
und Druck, um hier und dort eine Stimme in der
UN-Vollversammlung zu gewinnen. Auch der Präsident der USA in
Person unternahm einen Trip nach Europa und traf sich mit den
Ministerpräsidenten von Großbritannien und Deutschland in einem
verzweifelten Versuch zu formulieren und den Palästinensern
einen Ersatz von gleichem Wert zu präsentieren, der sie noch
überzeugen mag, ihr Gesuch an die UN zurückzunehmen, und die USA
und ihren Präsidenten vor dem schwierigen Dilemma, was zu tun
ist und wie im September abzustimmen ist, zu bewahren.
Was hat sich verändert? Es ist nicht
die UN, die sich seit letztem Jahr verändert hat. Ihr Prestige
hat sich nicht groß verändert, noch gewann sie zusätzliche
konkrete Macht. Die UN-Mitgliedstaaten beschließen ihre
Abstimmung auf Grund verschiedener Interessen und die Großmächte
geben ihre Stimme dank ähnlicher Ansichten ab. Die Situation
veränderte sich. Es ist die Situation vor Ort, die sich
verändert hat.
44 Jahre sind vergangen, seitdem
Israel die Westbank und den Gazastreifen besetzte – länger als
zwei Drittel der Zeit seit Israels Existenz. 44 Jahre seitdem
der Staat Israel Dutzende von Siedlungen errichtet und Hunderte
von neuen Tatsachen geschaffen hat und vorsichtig unterlassen
hat, diese Gebiete zu annektieren und jedem erklärte, dies wäre
eine vorübergehende Situation, und dass die Verhandlungen für
einen permanenten Status irgend wann in der Zukunft sein werden.
Und nach 44 Jahren behauptet Israels MP, dass der Endstatus
bestimmt werden würde, wenn die Palästinenser alle ihnen
gestellten Bedingungen erfüllt haben … und dass tatsächlich
nicht viel Hoffnung besteht, denn „der Konflikt sei tatsächlich
unlösbar“.
Schon seit 17 Jahren haben die
Palästinenser eine Palästinensische Behörde (PA) mit ihrem
Präsidenten und einem Parlament, Ministerpräsident und Ministern
in ;Ministerien – alles, was ein souveräner Staat hat - außer
einem: wirkliche Macht vor Ort. Auch 17 Jahre nach Schaffung der
palästinensischen Behörde hat ein 19-jähriger israelischer
Unteroffizier, der am Checkpoint auf der Straße zwischen
Ramallah und Nablus steht, viel mehr Macht und Einfluss auf das
tägliche Leben der Palästinenser als der Präsident der
Palästinensischen Behörde ….
Kein Wunder, dass die Palästinenser
immer weniger begeistert von der PA sind, die sie angeblich
vertreten soll. Kein Wunder, dass immer weniger Palästinenser
glauben, dass diplomatische Aktivitäten die Besatzungsarmee und
die Siedler verschwinden lassen, oder dass diese zur Errichtung
eines freien, souveränen Palästina führen, dessen Grenze sich
auf die 1967er-Linien gründet und die Ost-Jerusalem als ihre
Hauptstadt lässt.
Das palästinensische Vertrauen in
diese Option ist weiter geschrumpft, nachdem der Präsident der
USA zu Verhandlungen aufrief, die sich auf die 1967-erLinien
gründen, und der israelische MP sofort vom Podium des
US-Kongresses diesen Aufruf zurückwies, während er standing
ovations von den amerikanischen Gesetzesmachern beider
Parteien erhielt.
Die erwartete UN-Abstimmung in drei
Monaten im September 2011 ist der letzte Test und die letzte
Chance - jetzt oder niemals. Es ist die letzte Chance der PA,
um ihrem Volk zu beweisen, dass ihre Hoffnung, ein freies Volk
in ihrem Land zu sein, nicht umsonst ist, dass die
internationale Gemeinschaft hinter ihnen steht und dass durch
ihre Unterstützung eine elende und nichtssagende PA verbessert
wird und in einen wirklichen souveränen Staat verwandelt werden
könnte.
Im UN-Sicherheitsrat haben die USA
das Vetorecht, wie offiziell in der UN-Charta festgehalten
wurde. Im US-Kongress hat Israel Vetorecht, das in keinem
geschriebenen Dokument festgeschrieben ist, aber tief in der
amerikanischen Politik bewahrt ist, und das tatsächlich das
US-Vetorecht bei der UN kontrolliert. Und die US bleiben die
stärkste Macht der Welt; seine Ausübung des UN-Vetorechts ist
eine sehr bedeutende Geste. Trotzdem wurden in den letzten
Jahren Zweifel laut, und eine Kluft erschien in der globalen
Weltmacht: Konkurrenten und Opponenten zeigten sich mit
wachsenden Herausforderungen gegenüber der Macht des
amerikanischen Empire. Wenn sein Veto in der UN-Vollversammlung
übergangen wird, lässt es die Amerikaner in einer weniger
glänzenden Isolierung mit ihrer Opposition gegenüber den
palästinensischen Hoffnungen. Dann würde diese Kluft irgendwie
noch weiter werden.
Und was würde am Tag danach
geschehen? In seiner berühmten Rede warnte Obama die
Palästinenser, dass die UN-Abstimmung selbst noch keinen
palästinensischen Staat schaffen würde – was zweifellos wahr
ist. Eine UN-Abstimmung allein errichtet noch keinen Staat, der
vor Ort sich nicht verwirklichen kann. Auch die UN-Abstimmung
am 29.November 1947 errichtete noch nicht den Staat Israel;
sie lieferte nur einen Rahmen und die Legitimität für die
Aktionen von Ben-Gurion und seinen Kollegen. Was wird also vor
Ort geschehen?
Der einflussreiche Kolumnist Tom
Friedman drängt die Palästinenser, die Errichtung ihres Staates
praktisch durch einen gewaltlosen Kampf – jeden Freitag große
Demonstrationen nach Jerusalem in Gang setzen mit Olivenzweigen
in den Händen. Für dieses Szenarium begann sich die israelische
Armee und Polizei schon vorzubereiten. Sie haben ein breites
Spektrum von Maßnahmen, dem zu begegnen - der Armeestabschef
nennt es „die Demonstrationsbedrohung“ - von Tränengas und
Stinkwasser bis zu Scharfschützen, die instruiert sind, zu
schießen, um zu töten.
Aber ein von der internationalen
Gemeinschaft anerkannter Staat hat verschiedene neue
Möglichkeiten, selbst dann, wenn sein Gebiet noch unter der
Besatzung einer fremden Armee ist und selbst wenn seine volle
Mitgliedschaft in der UN durch ein amerikanisches Veto gestoppt
wird. Zum Beispiel beim Internationalen Gerichtshof in Den
Haag eine Klage einzureichen: Verletzung seiner Souveränität
durch die Besatzungsarmee und durch die Siedler, die illegal in
sein souveränes Gebiet durch die Armee hineingebracht wurden.
Man kann auch individuelle internationale Gerichtsverfahren
gegen besondere Offiziere der Besatzungsarmee wegen persönlicher
Akte beginnen, die Verletzungen des Völkerrechts auf seinem
souveränen Gebiet begingen.
Wenn erst einmal der Staat Palästina
anerkannt wurde, wird es viel schwieriger sein, israelische
Soldaten spät in der Nacht mitten nach Ramallah zu schicken, um
gewünschte Palästinenser für die israelischen Sicherheitsdienste
für „Verhöre unter moderatem physischen Druck“ zu verhaften. Vom
rein militärischen Standpunkt würde es kein Problem sein. …die
israelischen Offiziere, die in ein Feuergefecht verwickelt
werden, könnten unmittelbar danach juristische Hilfe benötigen.
Der Anwalt Michael Sfard wies schon darauf hin, dass der
diplomatische Tsunami, vor dem sich der Verteidigungsminister so
ängstigt, klein erscheinen mag gegenüber dem juristischen
Tsunami, dem sich der Staat Israel gegenüber sieht, wenn er
darauf besteht, die palästinensischen Gebiete nach dem September
zurück zu behalten.
Unter anderem ist ein souveräner
Staat eindeutig berechtigt, seine eigene Währung zu haben. Wenn
die Regierung Israel darauf besteht, die palästinensischen
Gebiete in einem einzigen wirtschaftlichen Rahmen mit dem Staat
Israel zu halten, könnte plötzlich in diese geteilte Wirtschaft
eine enorme Menge palästinensischer Pfundnoten und Münzen mit
großen wirtschaftlichen Effekten kommen, die von dem angesehenen
Ökonomen Stanley Fisher nicht vorausgesehen und nicht
kontrolliert wurden, der anscheinend bei seinem Versuch, der IMF
vorzustehen, scheiterte und nun der Chef der Bank von Israel
bleiben muss.
Und was passiert, wenn all dies den
Palästinensern nicht hilft? Was, wenn ihr Staat ein Stück Papier
bei der UN-Vollversammlung bleibt, ohne sichtbare Zeichen vor
Ort mit der üblichen Besatzungsroutine und den israelischen
Soldaten, die an den Checkpoints an den Schnellstraßen stehen,
und den Siedlern an Ort und Stelle, die Bulldozer fahren und
bauen und sich nach allen Seiten ausbreiten? Ein großer Sieg für
die israelische Rechte und die Vision eines Großisrael. Ein sehr
großer Pyrrhussieg.
Wenn die palästinensische Führung
erkennen lässt, falsche Versprechen und falsche Hoffnungen
gegeben zu haben, und nichts anderes seinem Volk zu bieten hat,
würden schnell die Revolutionen der arabischen Welt in den
palästinensischen Straßen ankommen. Die palästinensische
Behörde, die versagte, sich in einen Staat zu transformieren,
wird wie ein Kartenhaus zusammenfallen, seine Regierung und sein
Parlament werden, ohne Spuren zu hinterlassen, weggefegt und mit
ihnen alle verbliebene Unterstützung für eine Lösung, die sich
auf einen Palästinastaat neben Israel gründet.
Die Palästinenser würden en masse
die Forderung nach einem unabhängigen Staat aufgeben und würden
stattdessen einen Aufruf adoptieren – der schon Unterstützung
unter ihnen gewinnt – für einen einzigen Staat vom Meer zum
Fluss, für eine Demokratie mit den gleichen Stimmrechten für
alle. Alle Siedlungen würden an Ort und Stelle bleiben. Nur dass
ihre palästinensischen Nachbarn in Nablus und Hebron, Jenin und
Ramallah wie in Gaza und Rafa ihre demokratisch gewählten
Vertreter in die Knesset senden werden. Und nur dann, wenn
Unterstützung für einen demokratischen Staat vom Meer bis zum
Jordan sich in aller Welt ausbreitet, würde eine israelische
Regierung – sehr ängstlich wegen des Verlustes des „Jüdischen
Staates“ und der jüdischen Mehrheit – dann sehr dringend all das
anbieten, was es bis jetzt verweigert und zurückgewiesen hat. …
(dt. Ellen Rohlfs)
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