Predigt der Rabbinerin Sarra Lev, Rabbis for
Human Rights, in Beit Jala im Rahmen der
Friedenswoche Juli 2009:
Vor
fast acht Jahren stürzten in New York zwei Flugzeuge in die Türme des
World Trade Centers.
Ich
war zu der Zeit nur zwei Stunden davon entfernt in Philadelphia, aber
ich kann mich noch an alles an diesem Tag erinnern: Die Gesichter der
Menschen auf der Straße; die Angst derer, die sich an ihre Mobiltelefone
klammerten und auf ein Lebenszeichen ihrer Angehörigen warteten; die
Qual derer, die noch nichts gehört hatten oder die ihre Eltern, Freunde
oder Geschwister nicht erreichen konnten. Sowohl die Erleichterung auf
den Gesichtern derer, die von ihren Angehörigen gehört hatten, die in
der Nähe der Katastrophe waren, als auch das Entsetzen in den Gesichtern
derjenigen, die schreckliche Nachrichten bekamen.
Diese
Erfahrung kam mir seltsam bekannt vor. Ich hatte dieses Gefühl in
Amerika noch nicht erlebt und dennoch kannte ich es aus Jerusalem, Beit
Jala und Salfit. Ich kannte die Nachricht einer Bombe in Jerusalem oder
eines bombardierten Hauses in Beit Jala genauso wie die Gesichter jener,
die auf Nachricht ihrer Angehörigen im Libanon warten.
An
diesem Tag dachte ich mir, dass so etwas überall passiert. Dass es sich
wieder und wieder von Neuem ereignet. Die Mobiltelefone sind dieselben.
Die Gesichtsausdrücke sind dieselben. Die Erschütterung ist dieselbe.
Das Warten, das Hören, das Nicht-Hören.
An
diesem Tag fragte ich mich: „Was wird die schrecklichen Lücken füllen,
die in die Leben dieser Menschen gerissen wurden, in unser aller Leben?'
Das
Buch des Propheten Micha beginnt damit, dass Gott die Israeliten in Wut
anschreit. Micha fragt: „Was ist aber die Übertretung Jakobs? Ist’s
nicht Samaria? Was sind aber die Opferhöhen Judas? Ist’s nicht
Jerusalem?" (1:5).
Wir
können diese Verse auf sehr verschiedene Art und Weise verstehen. Gott
ist wütend auf die Israeliten, weil sie - anstatt dem richtigen Gott zu
huldigen - falsche Götterbilder verehren.
Aber
wenn man sie genauer betrachtet, erzählen uns die Wörter mehr als das.
Sie erzählen uns, dass die Sünde selbst Samaria und Jerusalem waren.
Vielleicht war die Sünde selbst dass die Leute das Land wie einen Gott
behandelt haben. „ Was sind aber die Opferhöhen Judas?", fragt Micha.
„Ist’s nicht Jerusalem?"
Am
Beginn des zweiten Kapitels, fährt Gott fort: „Weh denen, die Schaden zu
tun trachten und gehen mit bösen Gedanken um auf ihrem Lager, dass sie
es frühe, wenn’s Licht wird, vollbringen, weil sie die Macht haben! Sie
reißen Äcker an sich und nehmen Häuser, wie sie’s gelüstet. So treiben
sie Gewalt mit eines jeden Hause und mit eines jeden Erbe." (Micha
2:1-2)
Was
sind diese zwei großen Sünden von denen Micha berichtet? Zum einen
erzählt er von der Sünde, das Land als Gott zu verehren und zum Anderen
von der Versündigung, andere Leute falsch zu behandeln, sie zu
unterdrücken und ihr Land zu stehlen. Und hier sind wir, zweitausend
Jahre später und haben uns nicht geändert.
Jeden
Tag hört man von palästinensischem Land das von Israelis genommen wird.
Jeden Tag hört man, dass Israelis den Palästinensern das Leben
erschweren, und Palästinenser den Israelis. Sind nicht wir alle - Juden,
Muslime, Christen, Palästinenser, Israelis, Amerikaner - jener Sünden
schuldig von denen der Prophet Micha erzählt? Wir behandeln das Land
auch wie einen Gott. Und wir kümmern uns mehr um das Land als um uns
gegenseitig.
Ich
erinnere mich an eine der Demonstrationen gegen die Mauer bei denen ich
teilgenommen habe. An diesem Tag kam ein Israeli an der Demonstration
vorbei und fing an zu rufen „ihr wollt uns alle töten! Ihr seid
Verräter! Ihr kümmert euch nicht einmal um eure eigenen Leute!". Er
betrachtete uns Israelis, sah unsere Zuwendung zu den Palästinensern und
erkannte ... nur einen Feind.
Dann
begann einer der Menschen, die mit mir standen und für Frieden
demonstrierten, den Mann mit Beleidigungen zu überhäufen. Ich fühlte
mich augenblicklich entmutigt. Der Demonstrant direkt neben mir
betrachtete den schreienden Mann und sah ... nur einen Feind.
Und so
frage ich mich, wie lernen wir es uns gegenseitig als Freunde zu
erkennen, als Personen für die wir Sorge tragen. Nicht einfach nur
jemanden, dem ich zustimme. Aber jemanden, dem ich tiefgreifend anderer
Meinung bin. Wie gehe ich mit jemandem um, der sich von mir größtmöglich
unterscheidet ... und sehe in ihm eine Person, und nicht einen Feind.
Dazu
gibt der Prophet Micha eine Antwort: „In den letzten Tagen aber wird der
Berg, darauf das Herrn Haus ist, feststehen, höher als alle Berge und
über die Hügel erhaben. Und die Völker werden herzulaufen."
Der
Berg Gottes von dem Micha spricht ist der Berg auf dem das
Allerheiligste der Juden stand - das Haus Gottes. Es ist der Berg, auf
dem zwei der heiligsten muslimischen Heiligtümer heutzutage stehen. Und
es ist der Berg, der den Christen so heilig ist aufgrund der häufigen
Erscheinung Jesus' an diesem Ort zu seinen Lebzeiten.
Aber
Micha sagt nicht, dass zukünftig nur ein Volk dort herrschen wird.
Er
sagt, dass genau das die messianische Zukunft prägen wird, dass alle
Völker den Berg des Tempels empor gehen sollen: „Und viele Völker werden
kommen und sagen ,kommt, lasst uns auf Gottes Berg gehen..."
Michas
Prophezeiung fährt fort: „und sie werden ihre Schwertern zu Pflugscharen
machen, und ihre Spieße in Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere
das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu
führen."
Was
müssen wir tun, um unsere Schwerter in Pflugscharen zu verwandeln? Wir
müssen damit aufhören, das Land als Gott zu sehen und damit beginnen,
das Land als Platz der gemeinsam Verehrung Gottes anzuerkennen. Wir
müssen damit aufhören, den Berg des Tempels als unser Besitztum zu sehen
und damit beginnen, ihn als Platz anzuerkennen, an dem sich verschiedene
Völker versammeln.
Nur
dann werden wir eine Zeit erschaffen in der „kein Volk wider das andere
das Schwert erhebt, und sie hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen".
Aber
diese Zeit wird nicht ohne unsere Hilfe kommen. In Micha's Vision ist es
nicht Gott, der die Schwerter zu Pflugscharen macht, es sind die Leute
die diese Arbeit verrichten. Es sind wir, die einen Weg finden müssen,
uns gegenseitig zu sehen.
Nur
eine Woche nachdem das World Trade Center eingestürzt ist erzählte der
21jährige Usman Farman, der einem der beiden Türme entkommen konnte,
seine Geschichte:
„Woran
ich mich erinnere?`, fragt er. „Eine schwarze Wolke aus Glas und Schutt,
etwa 50 Stockwerke hoch stürzte auf uns zu. Ich drehte mich um und
rannte so schnell wie möglich. Ich fiel bei dem Versuch davonzukommen.
Was als nächstes passierte ist der Grund warum ich hier bin um diese
Rede zu halten.
Normalerweise trage ich einen Anhänger mit einem arabischen Gebet für
Sicherheit um meinen Hals. Ein chassidischer jüdischer Mann kam zu mir
und nahm den Anhänger in seine Hand um ihn zu betrachten. Er las das
Arabische laut vor, für eine Sekunde. Was er als nächstes sagte werde
ich nie vergessen. Mit einem starken Akzent aus Brooklyn sagte er
„Bruder, wenn es dich nicht stört, dort kommt eine große Wolke aus Glas
auf uns zu, nimm meine Hand und nichts wie weg hier!".
Er
half mir aufzustehen und wir rannten für eine gefühlte Ewigkeit ohne uns
umzusehen. Er war der allerletzte von dem ich erwartet hatte, dass er
mir helfen würde."
Das
ist Usman's Geschichte und ich wünschte, dass ich viele mehr als nur
diese eine erzählen könnte. Zu meinem eigenen Bedauern kenne ich so
viele Geschichten in denen meine Mitmenschen anderen gegenüber nicht auf
diese Art und Weise handeln. Aber diese Geschichte lässt mich hoffen,
dass die Dinge anders sein können.
Und
diese Geschichte ist die bleibende Lektion, die wir aus all dem Töten
und Zerstören lernen müssen.
Gott
sagt zu Micha: „Darum wird Zion um euretwillen wie ein Acker gepflügt
werden, und Jerusalem wird zu Steinhaufen werden und der Berg des
Tempels zu eine Höhe wilden Gestrüpps (3:12). Aber unmittelbar nachdem
er diese Worte gesagt hat, prophezeit uns Gott eine Zukunft der
Gemeinsamkeit. Auf Zerstörung folgt nicht direkt Zerstörung, sondern
Hoffnung! „Kein Volk soll wider ein anderes das Schwert heben!"
Das
ist Michas Lektion, und die Lektion die wir aus der uns umgebenden
Zerstörung lernen müssen.
Dass
wir aus der Zerstörung Hoffnung machen müssen.
Dass
unsere Zukunft nicht mehr Schutt, Unterdrückung und Schmerz ist sondern
das Reichen einer Hand und das Wort „Bruder".
Die
Vision von Völkern, die auf den Berg des Tempels strömen um gemeinsam zu
beten.
Das
Wissen, dass Gott nicht das Land ist, sondern dass man immer wenn man
sich mit anderen trifft ein Stück Gott finden kann.
Immer
dann, wenn wir unsere Arme ausstrecken um Hände zu reichen.
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