Michael Sfard
Die Operation Cast Lead war unser
2. Unabhängigkeitskrieg. Im ersten befreiten wir uns von 2000 Jahren
Leben unter Kontrolle von anderen. Im zweiten befreiten wir uns von den
Fesseln des jüdischen Erbes und der jüdischen Moral, die uns jahrelang
gebunden haben.
Es ist ein Jahr vergangen, nur
gerade ein Jahr – aber wir können schon sagen, dieses war anders. Dieses
war nicht noch ein „Regenbogen“, kein „Sommerregen“ oder „Tage der Reue“
- IDF-Operationen der letzten Jahre im Gazastreifen. Vielleicht war
der Offizier, der sonst für die Codenamen verantwortlich war, ersetzt
worden oder vielleicht fanden wir keine pastorale Namen mehr. Auf jeden
Fall wurde unserem letzten grimmigen Angriff auf Gaza ein Etikett mit
einer gewalttätigen Assoziation gegeben: „Cast Lead“ ( geschmolzenes
Blei). In der Rückschau markiert diese Operation einen wichtigen
Wendepunkt im Wertesystem der israelischen Gesellschaft.
In jenem belagerten Streifen Land
entdeckten wir die kristallklare Wahrheit über uns selbst, ungeschminkt
und schamlos. Einmal der Wahrheit entkommen, haben wir sie unter den
Teppich gekehrt. Wir beschäftigten uns mit Selbsttäuschung, die von
Krieg zu Krieg, von Operation zu Operation immer raffinierter wurde.
Wir benahmen uns wie der Mann, der alle politische Korrektheit fallen
ließ und seine Frau wütend in die Küche schickte, so haben wir uns
geoutet. Dies waren wir - und wir sind noch stolz darauf. Während
„Cast Lead“ ließen wir drei Wochen lang Bomben auf eines der am
dichtesten bevölkerten zivilen Regionen der Welt fallen. Wir richteten
unsere Waffen auf klare zivile Ziele, wir benützen Phosphor, wir
zerstörten absichtlich und systematisch Tausende von Häusern und
öffentliche Gebäude. Wir taten dies alles, während ein dichter
Verteidigungsring die Zivilisten daran hinderte, aus der Kampfzone zu
fliehen.
Wir haben keine vorübergehenden
Flüchtlingslager für Zivilisten eingerichtet. Wir arrangierten keinen
humanitären Fluchtkorridor. Wir schonten die Krankenhäuser, die
Vorratshäuser und Wohlfahrtshäuser der UN nicht. Wir drückten kein
geheucheltes Bedauern aus. Wir behaupteten nicht, dass dies tragische
Fehler wären. Wir vermieden sogar, verletzte Kinder in Krankenhäuser
nach Israel zu bringen.
Das Ergebnis ist erschreckend. Über
1400 Getötete, mehr als die Hälfte von ihnen nahmen nicht am Kampf teil,
und unter ihnen waren mehr als 320 Kinder und 120 Frauen ( nach B’tselem).
In drei Wochen töteten wir mehr Palästinenser als während der ganzen
ersten Intifada und bei allen gewalttätigen Vorfällen in den besetzten
Gebieten seit Beginn der 2. Intifada zusammen - also von 1987 bis 2000.
Die Bewohner von Gaza, die wir
schon vorher in einen Pferch eingesperrt hatten, entdeckten, dass die
Gefängniswärter an das Gefängnis Feuer gelegt hatten und den Schlüssel
aus dem Fenster geworfen haben. Wir gaben nicht vor, uns selbst an
Standards zu halten, an die wir glauben. Wir gaben auch keine
Lippenbekenntnisse ab.
Regierungsbüros? Kein Problem . Sie
sind offizielle legitime Ziel für Angriffe. Und wenn nun in diesen Leute
arbeiten, die Zivilisten sind? Welchen Unterschied macht es, wenn sie
für das zivile Leben zuständig sind: für Transport, Landwirtschaft,
Wohlfahrt für 1,5 Millionen Menschen?
Eine kollektive Liquidation von
mehr als hundert Polizeikadetten in der Mitte ihrer Vereidigungsfeier?
Absolut – sie sind Palästinenser in Uniformen – was soll’s?
Das Abfeuern von weißem Phosphor,
der noch tagelang , nachdem er abgeworfen worden war, in den Gassen
brennt, wo Kinder spielten. Wir haben eiserne Mägen, wir können jedes
Gift leicht verdauen. Unsere Herzen sind aus kaltem Stahl. Wir haben mit
niemandem Mitleid.
„Cast Lead“ war unser 2. Krieg der
Unabhängigkeit. Im ersten befreiten wir uns selbst von 2000 Jahren Leben
unter der Kontrolle anderer. Im zweiten befreiten wir uns von den
Fesseln des jüdischen Erbes und der jüdischen Moral, die uns jahrelang
gehalten hat. Nun müssen wir uns nicht mehr an die Verbote halten, die
Gerechten mit den Gottlosen zu töten. Wir sind von den Lektionen
befreit, dass wir ein besetztes Volk ohne Rechte sind. Die
unvermeidlichen Einblicke derjenigen, die zum Schweigen gebracht worden
sind, sind gelöscht worden und durch Haltungen, die Untermenschen
vorbehalten sind, ersetzt worden.
In der Vergangenheit haben wir
einige moralische Imperative überschritten, aber dann versicherten wir
uns, dass wir es uns nicht eingestanden haben. Bei dieser Gelegenheit
entschieden wir, dass die Zeit für Täuschungen vorbei ist. Wir haben der
Welt und uns genug Lügen erzählt. Ab jetzt werden wir die Wahrheit
sagen: der jüdische Staat ist der Meinung, dass die Gesetze des Krieges
in einer Weise geändert werden müssen, dass das Risiko für die
Kämpfenden verringert wird, selbst wenn dies ein Risiko für die
Zivilisten bedeutet. Der jüdische Staat glaubt, dass auf diese neue Art
des Krieges es erlaubt, ja sogar nötig sei, Elektrizitätswerke zu
bombardieren, die Hunderttausende von Zivilisten versorgen. Es ist
erlaubt, die Nahrungsmittelinfrastruktur zu zerstören und Schulen und
Moscheen zu vernichten. Und der jüdische Staat wird keine Kritik
tolerieren - weder von innen noch von außen.
Die neue Handlungsfreiheit wurde
auch gegen israelische oppositionelle Stimmen angewandt.
Bei einer beispiellosen Maßnahme
verhaftete die israelische Polizei Hunderte von Demonstranten gegen den
Krieg. Der IDF-Sprecher, ein Offizier in Uniform organisierte eine
Kampagne der Verleumdung und der Delegitimation gegen Organisationen,
die wagten, die militärischen Aktionen zu kritisieren. Der Außenminister
bemühte ich darum, die finanziellen Quellen dieser Organisationen
auszutrocknen. Moralischer Verfall verschlingt jeden: die Kommandeure,
die die Befehle gaben, die Kämpfer, die die Befehle ausführten, die
Anwälte, die sie für legal erklärten, die Akademiker, die sich
schweigend verhielten und die Presse, die die Flammen des Krieges
anheizten und dem IDF-Sprecher so ergeben waren, dass sie zu einer
Einheit in einer Brigade unter seinem Kommando wurden.
Diese Prozesse haben einen Preis.
Sie führen zum Verlust des Glaubens in die Fähigkeit der israelischen
Gesellschaft, die Stärke zu finden, zu den Werten zurückzufinden, auf
denen sie geschaffen wurde. Sie erzeugen äußeren Druck, internationale
Untersuchungen, strafrechtliche Verfolgungen im Ausland, Boykotts und
Sanktionen. All dies hat jetzt eine legale moralische Grundlage, auf der
dies gedeihen kann. Und wir, die so süchtig nach Freiheit sind, einen
leichten Finger auf dem Abzug zu haben, denken nicht einmal daran, diese
Gewohnheit aufzugeben.