Noch einmal
über die Besatzungsideologie
von Ran Ha Cohen
Die Geschichte der
Besatzung ist nicht nur eine über das palästinensische
Leiden und die israelische Aggression; sie ist auch eine
Geschichte der Ideologie, die Geschichte von Fiktionen, die
die israelische Gesellschaft fabriziert, um ihr Kolonial-
Projekt zu rechtfertigen, dass gerade seinen 40. Jahrestag
feiert. Diese Fiktionen haben ein Geschichte: man kann ihre
Karriere von Geburt bis zur Reife verfolgen, ihre
Verlagerung vom Rand ins Zentrum und umgekehrt, ihren
Aufstieg und Fall unter bestimmten Teilen der israelischen
Gesellschaft oder Medien, zuweilen ihren ( umkehrbaren) Tod.
Vor ein paar Jahren widmete ich zwei Zeitungsspalten der
Ideologie der Besatzung, indem ich einer heiklen
Zusammenfassung folgte, die ein isr. Siedler gegeben hatte.
Die meisten dieser Argumente sind heute noch auf dem Markt.
Man kann heute noch Israelis hören, die die Besatzung
wegerklären, indem sie auf die Zurückweisung des
Teilungsplanes durch die Palästinenser vor 60 Jahren
hinweisen. Auch darauf, dass „sie uns alle in Meer werfen
wollen“ , eine Fortsetzung der Pessach-Agenda ( „in jeder
Generation wollen sie uns vernichten“) bis zur
augenblicklichen politischen Anwendung der Hamas-Charta.
Aber einiges hat sich geändert. Wenn man heute einen Israeli
über die Besatzung fragt, was wird er dann antworten?
Die Orthodoxen und Hardliners vom rechten Flügel (Likud und
weiter rechts) werden wahrscheinlich mit traditionelleren
Argumenten kommen: „Es ist alles unser Land ...“ Wenn man
aber zu einem Mainstreamer kommt – einem von denen, die sich
selbst als „moderate vom rechten Flügel ansehen“, Zentrum
oder Linke (die Termini sind fast synonym im gegenwärtigen
israelischen Diskurs),Wähler von Kadima, Labor oder Meretz –
dann wird man folgendes hören:
„Die Besatzung ist beendet!“
Fast alle Israelis glauben, dass die Besatzung des
Gazastreifens zu Ende ist. Die Palästinenser sind jetzt dort
frei; sie können ihr Leben gestalten, wie sie wollen. Und
Israel hat nichts damit zu tun. Sie stellen sich ein
ähnliches Szenario für die Westbank vor, wie es schon hinter
der Mauer realisiert wurde oder bald realisiert werden wird.
Diese Fiktion ist seit dem Rückzug aus dem Gazastreifen im
letzten Sommer populär geworden, aber ihre Wurzeln gehen bis
in die Oslo-Jahre zurück, als besonders die zionistische
Linke ( Yossi Sarid u.a.) den Mythos kultivierten, dass ein
palästinensischer Staat im Grunde schon existieren würde
oder im Begriff wäre innerhalb von 14 Tagen aufzutauchen –
nicht später als 1998, wie die Oslo-Abkommen festgelegt
hatten. Man erinnere sich auch an die von Bush gebrochenen
Fristen). Tatsächlich stellt diese Fiktion einen ernsten
Wunsch der Leugnung dar: da der liberale Israeli weiß, dass
die Besatzung nicht auf ewig mit Demokratie und
Gerechtigkeit zusammen bestehen kann , sollte die Besatzung
verschwinden - aber auf virtuelle Weise, indem man sie
einfach leugnet. Auf einer anderen Ebene glauben viele
israelische Liberale, Araber könnten nicht mit Kultur und
Moderne zusammengehen – also wird ihre Existenz geleugnet,
virtuell und tatsächlich, indem man die unerwünschten
Nachbarn hinter eine große Mauer wegsperrt und alles über
sie vergisst. Dies klingt dann wie eine ziemlich gute
Lösung.
„Wir sind hier – sie sind dort“, sagt der Gefängniswärter.
„Wir sind hier, sie dort“, war Ehud Baraks raffinierter
„Friedens-Slogan“. Die tatsächlichen Machtbeziehungen
zwischen „hier“ und „dort“ müssen dabei geleugnet werden; in
der Tat werden die Israelis nur durch den palästinensischen
gewalttätigen Widerstand an diese Machtstrukturen erinnert.
Gäbe es diesen „Terrorismus“ nicht, ( ein Terminus der
unterschiedslos für legitime und illegitime palästinensische
Gewalt benützt wird), dann würden die Israelis jetzt alles
über ihre eingeschlossenen Nachbarn vergessen. Dem gemäß
werden die hartnäckigen, selbst gebauten Qassamraketen, die
die israelische Stadt Sderot terrorisieren, als typische
arabische Undankbarkeit aufgefasst, ja, als schändliche
Undankbarkeit für das große Geschenk, das Israel den
Palästinensern dargeboten habe, als es sich aus dem
Gazastreifen zurückgezogen habe und damit angeblich ihre
Freiheit, Ehre und Wohlbefinden wieder hergestellt habe.
Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Nachdem die Siedler
aus dem Gazastreifen abgezogen worden waren, verhängte
Israel über den kleinen Landstreifen eine totale Belagerung:
die 1,5 Millionen eingesperrten Palästinenser hatten keinen
Zugang zum Meer (Israel erlaubte keinen Hafenbau), keinen
Zugang über die Luft (Israel zerstörte den Flughafen von
Gaza) und alle Übergänge sind unter israelischer Kontrolle
(und praktisch die meiste Zeit geschlossen).
Seit dem Hamas-Sieg bei den Wahlen im Januar 06 hat Israel
und die Internationale Gemeinschaft eine wirtschaftliche
Belagerung über den Gazastreifen verhängt und die
finanziellen Verpflichtungen mit der Palästinensischen
Behörde gekappt. Um die Angestellten der Behörde zu
bezahlen, muss Bargeld eingeschmuggelt werden. Israels
„Sicherheitssystem“ - die leibhaftige Besatzung – ist es,
die entscheidet, ob Menschen in Gaza Mehl, Medizin oder
andere Waren erhalten – wann und wie viel.
Während diese wirtschaftliche und physische Belagerung aus
der Luft, vom Meer und zu Land verhängt wurde und während
Gaza täglich mit Granaten , durch die Artillerie und von See
her bombardiert wird, können Mitte-Links-Israelis sagen,
dass „Israel den Gazastreifen verlassen hat. Die
Palästinenser können nun endlich den Gazastreifen wieder
aufbauen, Häuser für die Flüchtlinge bauen , zu Investments
ermutigen und Arbeitsplätze schaffen, die Menschen in Gaza
könnten jetzt wieder wie Menschen leben“. (Zitiert aus einem
Brief an die ausgezeichnete hebräische Website Ha’okets) .
Die Situation in der Westbank ist nicht viel anders. Dort
sind die Palästinenser in kleinere Käfige gesperrt als im
Gazastreifen, die Belagerung ist nicht ganz so hermetisch.
Während die Palästinenser hinter hohe Mauern gesperrt
werden, mit einem satanischen System von Straßensperren und
Passierscheinen, durch Straßen „Nur für Juden“ und
Siedlungen zerteilt, Tag und Nacht durch Armeeüberfälle auf
ihre Dörfer, Häuser und Schlafzimmer schikaniert, glauben
viele Israelis, die Besatzung ziehe sich zurück, und ihr
Ende sei nur eine Zeitfrage oder gar eine Frage der
Semantik.
Leider verschwindet Kolonisierung nicht dadurch, dass man
sie leugnet. Tatsächlich ist die israelische Besatzung auf
ihrem Höhepunkt, schlimmer al je zuvor. Nichts macht dies
deutlicher als die Diskussion über „gibt es eine humanitäre
Krisis in Palästina oder nicht, das einmal ein „Land von
Milch und Honig“ war.
A Propos
Haaretz berichtete am Dienstag, dass die Knesset eine neue
Gesetzesvorlage debattiert, die von führenden Juristen hart
kritisiert wird; sie würde es ermöglichen, die
Untersuchungshaft einer Verdachtsperson zu verlängern, ohne
dass sie im Gericht anwesend ist und verhindern, dass sie
ihren Anwalt innerhalb von 30 Tagen sieht. Die
Gesetzesvorlage wurde vom Justizministerium vorgelegt und
vom Shin Beth-Sicherheitsdienst befürwortet.
Falls man sich fragt, warum auf einmal solch eine
Gesetzesvorlage nötig ist oder wer diese „Verdächtigen“ sein
mögen, der muss zunächst hebräisch lernen. Die
Haaretz-Version in dieser Sprache erklärt: „Bis zum Ende des
Militärregimes im Gazastreifen hatten die
Untersuchungsbehörden weiter reichende Befugnisse als jene,
die durch das Verhaftungsgesetz gewährt wurde. Jetzt wo das
Militärregime in Gaza beendet ist, ist ein neues Gesetz
nötig, um den Sicherheitsdiensten mehr Durchsetzungskraft/
Ermächtigung zu geben .“ Ein paar Tage nach dieser Debatte –
als ob man die Ansicht durchsetzen wolle - drang die
israelische Armee ( das erste Mal nach dem Rückzug) in den
Gazastreifen ein und entführte – „verhaftete“ – zwei
Palästinenser. Die Besatzung ist vorüber – lang lebe die
Besatzung.
Dr. Ran HaCohen wurde 1964 in den Niederlanden geboren und
wuchs in Israel auf. Er hat ein BA in
Computerwissenschaften, ein MA in vergleichender Literatur
und seinen PhD in Jüdischen Studien. Er ist
Universitätsprofessor in Israel und schreibt für die isr.
Zeitung Yedioth Achronot. Dieser Artikel erschien zuerst bei
Antiwar.com und wurde mit der Erlaubnis des Autors
veröffentlicht.
Übersetzt von: Ellen Rohlfs