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Bedingungen für den
nächsten Volksaufstand („Intifada“) in Palästina
Mazin Qumsiyeh
Im Dezember 2013 jährte sich
der Beginn der 1. Intifada (von 1987) zum 26.
mal. Jahrzehnte später ist immer
noch kein Friede in Sicht, und der Kampf dauert an.
Aus diesem Anlaß sprach der Publizist und
Friedensaktivist Professor Mazin Qumsiyeh mit dem
(israelischen) „Alternative
Information Center“ (AIC) über das Phänomen des
Aufstands und die Bedeutung des Volkswiderstands.
Mazin, Sie
nennen Ihr Buch
„Volkswiderstand in Palästina – eine Geschichte der
Hoffnung“ („Popular Resistance in Palestine – a
history of hope”) Wieso Hoffnung? Ist es nicht eher
eine Geschichte der Verzweiflung nach
über 60 Jahren
israelischer Besatzung
„Nein, wie alle kolonisierten
Länder geben auch die Palästinenser nicht auf. Wir
hatten bis heute etwa 14 bis 15 Aufstände, die alle
bestimmte Erfolge erzielten, was sich aber nur
rück-blickend erkennen lässt. So hat z. B. der
erste Aufstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts das
Osmanische Reich veranlasst, die Unterstützung der
Zionisten und die Übertragung von Landbesitz an sie
einzustellen. Aus diesem Grund mussten die Zionisten
1904 ihre Zentrale von Wien nach London verlegen.
Wenn wir uns die heutige
Situation anschauen, dann ist sie natürlich noch
nicht zufrieden-stellend. Aber ich bin fest davon
überzeugt, dass der Volkswiderstand letzten Endes
zum Erfolg führen und den Palästinensern die
Freiheit bringen wird.
Der Begriff „Volkswiderstand“ ist
sehr umfassend. Was für Aktionen lassen sich mit
diesem Begriff umreißen?
Zu allererst müssen wir erkennen,
dass Widerstand so natürlich ist wie Atmen oder
Essen, weil er zum Überleben unabdingbar ist. Und es
gibt sehr viele Formen des Widerstands. Jedes
kolonisierte Volk setzt die Mittel ein, die ihm zur
Verfügung stehen – seine geistigen Fähigkeiten,
Kultur, Religion, was auch immer ihm zur Verfügung
steht. Aktionsformen können sein: Boykott,
Sanktionen, Petitionen, ziviler Ungehorsam usw.,
aber auch was wir „Sumud“ (Standhaftigkeit) nennen.
Das heißt, auf seinem Land zu bleiben, sein Leben zu
leben, zu heiraten und Kinder zu bekommen.
Der Zionismus als eine Form des
Kolonialismus will nicht, dass wir bleiben, sondern
versucht, das palästinensische Volk von seinem Land
zu trennen, eine neue Realität zu schaffen. Insofern
ist es bereits ein Akt des Widerstands, einfach auf
seinem Land zu bleiben. Und natürlich sollten wir
auch den bewaffneten Widerstand nicht vergessen, der
normaler-weise aber eine untergeordnete Komponente
des Kampfs ist, einfach weil die Mehrheit der
Menschen gewaltlose Strategien vorzieht.
Wir widersetzen uns instinktiv.
Das ist ein kreatürlicher Prozess. Aber wie
wir uns dem Stress dieser anomalen Bedingungen
widersetzen, das ist individuell ganz
unterschiedlich und hängt von unserem persönlichen
Hintergrund und den Bedingungen ab. Einige reagieren
gewaltsam, andere nicht. Verallgemeinerungen sind da
schwierig.
Ist die Vorstellung, dass
bestimmte Umstände zur Rechtfertigung von allen
möglichen Formen der Gewalt dienen, nicht ziemlich
umstritten?
Nun, ich möchte jedenfalls nicht
urteilen, was richtig und was falsch ist. Die
meisten Men-schen finden sich irgendwo in der Mitte.
Und was heißt Gewaltlosigkeit?
Wenn ich einen Stein auf einen Panzer werfe, ist das
Gewalt oder nicht? Einige machen es von der Größe
des Steins abhängig, andere von meiner Absicht,
jemanden zu verletzen oder nicht. Gewaltloser und
gewaltsamer Widerstand sind nicht unbedingt ein
Gegensatz. Und nach dem Völkerrecht haben
unterdrückte Völker ein Recht, ja sogar eine Pflicht
zum Widerstand.
Eines der Symbole der 1. Intifada
ist der Steine werfende Junge, während in der 2.
Intifada mehr Waffen eingesetzt wurden. Wie haben
sich diese Formen des Widerstands im Laufe der Zeit
verändert?
Ich würde nicht sagen, der
Aufstand von 1987 war gewaltlos und der von 2000 –
20005 gewaltsam. Das kann man nicht so
verallgemeinern. Ich würde nicht sagen, dass es
keinen bewaffneten Widerstand im Aufstand von 1987
gab. Es gab genau so viel gewaltlosen Wider-stand
zwischen 2000 und 2005 wie 1987. Ich denke, die
Hauptform unseres Widerstands war immer unser
hartnäckiges Ausharren auf unserem Land, unsere
Standhaftigkeit, die Weigerung, unser Land zu
verlassen. Dies war während der vergangenen 130
Jahre immer die wesentliche Form unseres
Widerstands.
Wie war die Stimmung
innerhalb der palästinensischen Gesellschaft 1987
vor dem Ausbruch der 1. Initifada?
In meinen Untersuchungen fand ich
heraus, dass es vor jedem Aufstand – wo auch immer –
einige gemeinsame Kennzeichen gab. Ich glaube
übrigens nicht, dass es jeweils einen bestimmten Tag
gab, an dem es begann. Das der Phase vor allen
Aufständen gemeinsame Kennzeichen ist ein Höchstmaß
an Frustration bei den Menschen auf der Straße. Das
zweite ist, dass es einen Stillstand in den
sogenannten Friedensprozessen gibt. Dieser
Stillstand gibt den Menschen das Gefühl der
Hoffnungslosigkeit. Das dritte Kennzeichen ist, dass
die palästinensische Führung keinen Kontakt mehr mit
der Lebenswirklichkeit der Menschen hat – sie
versteht die Ängste der Menschen nicht. Diese drei
Punkte sind die ausschlaggebenden Komponenten der
Phase vor dem Aufstand.
Darüber hinaus werden die
Besatzer sehr arrogant. Sie unterdrücken immer
intensiver, bis zu einem Punkt, an dem die Menschen
es nicht mehr ertragen können. Wenn Du einen Hund in
die Ecke drängst und ihn ein- oder zweimal mit einem
Stock schlägst, wird er vielleicht keine Reaktion
zeigen, aber irgendwann wird er zumindest bellen
oder dich beißen.
Glauben Sie, man kann
voraussagen, in welchem zeitlichen Abstand es
jeweils zum nächsten Aufstand kommt?
Wie es scheint, kommt es ungefähr
alle zehn Jahre zu einem Aufstand. Der Grund hängt
mit der Generationenfolge zusammen. Junge Menschen
sind tendenziell idealistischer und können sich an
die vorherigen Aufstände nicht erinnern. Wenn sie
den Drang verspüren, die Verhält-nisse zu verändern,
kommt es zur Rebellion. Fast alle Aufstände wurden
von Studenten angeführt, junge Leute zwischen 16 und
25 Jahren.
In den letzten zwei Monaten sind
zwei israelische Soldaten im Westjordanland getötet
worden. Jetzt gibt es Warnungen vor zunehmender
Gewalt und einer unmittelbar bevorstehenden dritten
Intifada. Für wie wahrscheinlich halten Sie dies?
Die Voraussetzungen für den
nächsten Aufstand sind gegeben. Die Israelis sind
natürlich nicht dumm, sie haben diese Zyklen genau
beobachtet und glauben, sie kontrollieren zu können.
Aber das wird ihnen nicht gelingen, denn die
Palästinenser haben gelernt, sich klüger zu
widersetzen. Ich bin ganz optimistisch, dass der
Zionismus besiegt werden wird. Vielleicht noch nicht
mit dem nächsten Aufstand, aber möglicherweise mit
dem darauf folgenden.
Meiner Ansicht nach können
Kolonialismus und Zionismus im 21. Jahrhundert nicht
erfolgreich sein, denn wenn man sich die Ergebnisse
der anti-kolonialistischen Freiheitskämpfe in
anderen Ländern anschaut, dann sieht man, dass sie
besiegt wurden. Ich denke, was in Südafrika nach dem
Ende der Apartheid geschah, wird auch in Palästina
geschehen: es wird einen säkularen demokratischen
Staat geben. Und das wird sich nur durch Widerstand
erreichen lassen.
Sind nicht viele Menschen
des Kampfes müde?
Ja, es gibt eine gewisse
Depression. Aber das ist normal für die Zeit
zwischen Aufständen. Das Problem ist, dass die
Menschen ihre Gefühle immer übersteigert wahrnehmen.
Ich bin sicher, dass es in zwei Jahren auf dem
Höhepunkt des Aufstandes sehr viel mehr Begeisterung
geben wird. Gegenwärtig gibt es sehr wenig
Widerstandsaktionen – quantitativ gesehen. Es gibt
einige in Nilin, Beilin oder Al Ma’sara, aber
verglichen mit einem Aufstand ist ihre Zahl ziemlich
gering.
Haben die
Volkswiderstands-Komitees (Popular Resistance
Committees) gegenwärtig eine nationale Strategie?
Nein. Aber ich möchte diese
Einschätzung relativieren, weil es in keinem
antikolonialistischen Kampf eine nationale
Befreiungsstrategie gab. Es gab z. B. keine gegen
die Apartheid in Südafrika. Und diejenigen, die von
uns eine nationale Strategie erwarten, verstehen das
menschliche Verhalten nicht. Wir sind viele und wir
verhalten uns sehr unterschiedlich. Eine kollektive
Strategie ist die Summe aller individuellen
Strategien.
Könnte es gelingen, eine
Million Palästinenser zu einer einzigen
Demonstration zu vereinigen?
Es gibt drei Gruppen, die
behaupten, lokale Gemeinschaften zu koordinieren.
Die eine gehört der Fatah an, die andere ist von der
Linken und die dritte wurde vom Premierminister ins
Leben gerufen. Diese drei Gruppen sind nicht
miteinander verbunden, obwohl sie dies behaupten.
Für mein Buch habe ich diese Leute gefragt: Werdet
ihr es hinkriegen? Und die Antwort war: Nein, noch
nicht.
[Mir ist nicht klar, wer mit der
dritten Gruppe gemeint ist. Auffällig, dass die
Hamas nicht erwähnt wird. J.J.]
Soll „noch nicht“ heißen,
dass es während eines (möglichen) Aufstandes
gelingen wird?
Ein Aufstand wird auf seinem
Höhepunkt eine neue Generation von Führern
hervorbringen. Es werden nicht diejenigen sein, die
während der vorherigen zwei Aufstände aktiv waren.
Es werden Menschen sein, von denen man nie zuvor
gehört hat, die jung und energisch sind. Und diese
Führer sind natürlich klug genug zu erkennen, dass
es hilfreich ist, sich mit anderen ähnlich gesinnten
Menschen zu vernetzen. Dies unterscheidet sich sehr
von der Führerschaft zwischen den Aufständen.
Normalerweise verändern Aufstände die gesamte
politische Landschaft.
Veröffentlicht am
2. 12. 2013
Übersetzung: Jürgen Jung
http://www.alternativenews.org/english/index.php/politics/politico/7515-the-conditions-for-the-next-uprising-are-there
Der Palästinenser Mazin
Qumsiyeh, Friedensaktivist, Professor für
Zoologie und Genetik, lehrt an den Universitäten von
Bethlehem und Birzeit. Er lebte 27 Jahre in den USA,
wo er an den Universitäten Yale und Duke
unterrichtete. Er veröffentlicht regelmäßig Artikel
und Bücher zum Palästina-Konflikt. Er war
Vorsitzender des „Palestinian Center for
Rapprochement Between People” und sitzt im Vorstand
des Al-Rowwad-Kindertheaters im
Aida-Flüchtlingslager. Er ist verheiratet und lebt
in Beit Sahour (im besetzten Westjordan-land).
SALAM
SHALOM Arbeitskreis Palästina-Israel e.V.
www.salamshalom-ev.de
salamshalom.ak@googlemail.com
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