TRANSLATE
Die Wahrheit, die man nicht hört (
oder liest)
Mustafa Barghouti , Dezember 2005
Wie sieht die
Situation vor Ort in Palästina aus? Die israelische Narrative, die
weiter die internationalen Medien beherrscht, präsentiert ein Bild,
das nichts mit der Realität zu tun hat.
Der Gazarückzug
wurde als der Beginn eines Friedensprozesses propagiert; ein großer
Rückzug durch General Sharon, der nun als Friedensmann porträtiert
wurde. Doch die Fakten bleiben: Palästina besteht aus 27 000 qkm,
von denen die West Bank aus 5860 qkm bestehen und der Gazastreifen
aus 360 qkm. Das sind nur 1,3% des ganzen historischen Palästinas.
Wenn sich Sharon also wirklich aus dem Gazastreifen zurückgezogen
hätte, dann wären das nur 5,8% der besetzten Gebiete.
Aber die
Israelis sind gar nicht aus dem Gaza abgezogen. Viel Theater wurde
um das große Opfer gemacht, das Israel gebracht hätte; und wie
schmerzlich es für die Siedler gewesen sei, wegzugehen. Wenn man ein
Stück Land stielt und es 20 Jahre lang festhält, tut es einem weh,
es aufzugeben. Es ist trotzdem etwas Gestohlenes, das seinen
Besitzern zurückgegeben werden sollte. Vor dem Rückzug gab es 152
Siedlungen in den besetzten Gebieten, 101 in der West Bank, 30 in
Ost-Jerusalem und 21 im Gazastreifen. Diese Zahlen schließen nicht
die Siedlungen ein, die Sharon und die israelische Armee in der
Westbank ohne offizielle Anerkennung geschaffen haben. Mit dem
Rückzug und der Evakuierung der Siedlungen in Gaza und den vier
kleinen Siedlungen im Raum Jenin auf der West Bank sind noch 127
Siedlungen an Ort und Stelle geblieben.
Nach dem
Völkerrecht sind sie illegal, und nach dem Rechtsgutachten des ICJ
von 2004 müssen Mauer und Siedlungen in der West Bank, in
Ost-Jerusalem und im Gazastreifen entfernt werden.
Die Gesamtzahl
der Siedler beträgt 436 000: 190 000 in Jerusalem, 246 auf der West
Bank. Nur 8475 oder 2 % der Gesamtzahl der Siedler in den besetzten
Gebieten sind aus dem Gazastreifen und dem Raum Jenin entfernt
worden. In der selben Zeit ist aber die Siedlungsbevölkerung in der
West Bank um 15 800 angewachsen. Warum also die Siedler aus dem
Gazastreifen wegholen, wenn der Abzug einfach nur eine Übung der
Umsiedlung war ?
Zunächst mal:
Israel wollte sie nie dort auf ewig lassen. Sie waren nur ein
Verhandlungsobjekt, das gebraucht werden sollte, wenn der Zeitpunkt
gekommen ist, über die Zukunft der besetzten Gebiete zu reden. Aber
für diese relativ kleine Zahl von Siedlern eine ständige
militärische Präsens im Gazastreifen zu haltem, war einfach zu
teuer.
Zum andern hatte
Israel die Wasserreserven im Gazastreifen ausgeschöpft, indem es
den unterirdischen Wasserzufluss schon östlich des Gazastreifens
ableitete. Die Folge davon ist, dass Meerwasser in Gazas
Küstenaquifer eindringt. Außerdem wurde der bestehende Aquifer
durch die israelischen Siedlungen überbeansprucht. Die Bevölkerung
von Gaza wurde also mit Brackwasserressourcen zurückgelassen, die
eine hohe Rate Nierenkranker verursacht. Das oberste Maß an
Chloridgehalt, das die Weltgesundheitsbehörde zulässt, ist bei 250
mg/l. In den meisten Gebieten des Gazastreifen ist das Maß aber
zwischen 1200 und 2500mg/l.
Ein anderer
Mythos, den Israel so erfolgreich hat verkaufen können, war, dass
der Rückzug der Siedler das Ende der Besatzung des Gazastreifens
signalisierte. Doch der Streifen ist noch genau so besetzt wie
vorher. Was sich geändert hat, ist nur die Struktur der Besatzung.
Von der Verantwortung befreit, physische Präsens im Gazastreifen zu
zeigen, um die Siedler zu „schützen“, ist es jetzt viel einfacher
und weniger kostspielig, den Gazastreifen aus der Entfernung zu
kontrollieren und militärische Technologie anzuwenden.
Das israelische
Militär ist um den Erez-Bereich im Norden stationiert. Von hier
besetzt es weiterhin einen Streifen Land an der östlichen Grenze
entlang ca 1km breit – und das von nur 360 qkm. Es behält die
Kontrolle über den Luftraum des Gazastreifens, die Küstenlinie und
über das Wasser, das in den Gazastreifen vom Land her einfließt.
Jeder Zu- und Abgang wird von Israel kontrolliert und Israel
entscheidet, wer von den Hunderten von Patienten, die dringend die
Hilfe medizinischer Behandlung benötigen, den Gazastreifen
verlassen darf oder nicht. Trotz des letzten Abkommens, das mit
Condoleeza Rice über die Öffnung der Gaza/ Ägyptengrenze erreicht
wurde, behält Israel die volle Kontrolle über die Warenein- und
ausfuhr und das Recht, die Bewegung der Palästinenser zu
kontrollieren. Verantwortlichkeiten, die es häufig in der
Vergangenheit missbraucht hat.
Gaza bleibt ein
großes Gefängnis, und Aussichten für eine wirtschaftliche
Entwicklung sind düster. Das Risiko, dass Israels fortdauernde
Kontrolle über den Gazastreifen die langfristigen Bemühungen, es
von der West Bank abzutrennen, nur vertiefen wird, indem es die
Einheit und die Verbindungen zwischen den Palästinensern zerstört,
und das Recht der Palästinenser, in Zukunft in einem Staat vereinigt
zu sein , beschäftigt uns mit großer Sorge.
Sharon benützt
den Rückzug aus dem Gazastreifen, der als heldenhafte Konzession
übertrieben dargestellt wurde, um dieser Region einseitig die
Zukunft aufzubürden. Der Bau der Schandmauer und die Ausdehnung der
Siedlungen wird schließlich in der totalen Annexion von nicht
weniger als 50 % der West Bank, einschließlich Ost-Jerusalems,
resultieren und jede Möglichkeit für einen zusammenhängenden und
lebensfähigen palästinensischen Staat nehmen.
Die Mauer
schneidet bis 25 km in die West Bank hinein. Ihr Bau hat schon dahin
geführt, dass 9,5 % der West Bank annektiert wurden. Das für die
Siedlungen enteignete Land sind weitere 8 % des Landes der WB,
während der Bau der östlichen Mauer im Jordantal Israel erlauben
wird, weitere 28,5 % der WB zu annektieren.
Die Mauer wird
in sehr großer Eile gebaut, ohne sich um das Rechtsgutachten des ICJ
zu kümmern. Sie wird etwa 750 km lang sein, drei mal so lang und
doppelt so hoch wie die Berliner Mauer . Über 1,060 000 Bäume bes.
Olivenbäume sind von israelischen Bulldozern in der WB zerstört
worden. Die Mauer wird nicht innerhalb des israelischen Territoriums
gebaut, auch nicht auf der 1967-Grenze, sondern auf dem besetzten
Gebiet und trennt Palästinenser von Palästinensern und nicht
Palästinenser von den Israelis wie Sharon behauptet .
Die Mauer wird
nicht weniger als 250 000 Palästinenser in Jerusalem isolieren.
Mindestens 50-70 000 weitere Palästinenser mit einer Jerusalemer
ID-Karte werden außerhalb des Zaunes bleiben, unfähig Jerusalem frei
zu betreten und werden den Zugang zum Gesundheits- und Schulwesen
verlieren. Das wird dahin führen, dass man ihnen ihre ID-Karten
nimmt und sie zwingt, außerhalb von Jerusalem zu bleiben, auch wenn
sie zu Jerusalem gehören.
An manchen Orten
wird die Mauer die Häuser teilen. In Jerusalem, nahe Anata,
schneidet die Mauer den Spiel- und Sportplatz von der Schule ab. In
Qalqilia, sind 46 000 Menschen rund um von einer Mauer umgeben und
lassen ihnen nur eine 8m breite Straße mit einem Tor als Durchgang,
zu dem israelische Soldaten den Schlüssel haben. Sie können die
Stadt also abschließen, wann immer sie wollen.
Ein
Passierschein ist nötig, um die Mauer passieren zu können. Es ist
aber fast unmöglich, diesen zu bekommen. Und selbst wenn es einem
gelingt einen zu erhalten, muss man noch höflich um Öffnungszeiten
des Tores bitten. In der Gegend des Dorfes Yayous kann man zwischen
7 Uhr 40 und 8 Uhr und zwischen 14 und 14 Uhr 15 passieren und
zwischen 18 Uhr 45 und 19 Uhr. Das sind genau 50 Minuten am Tag.
Manchmal vergisst die Armee, das Tor zu öffnen und Schulkinder,
Lehrer, Bauern, Patienten und andere normale Leute lässt man warten.
Wenn der
1947-Teilungsplan erfüllt worden wäre, dann wären es zwei Staaten:
ein palästinensischer Staat auf 45 % des Landes und ein
israelischer Staat auf 55 %. 1949 hatte der Staat aber schon 78,5%
dieses Landes. Was übrig blieb, war die WB und der Gazastreifen.
1988 kamen die Palästinenser beim Palästinensischen Nationalrat
darin überein, dass sie eine 2-Staatenlösung akzeptierten. Dies
stellt einen beispiellosen Kompromiss für die Palästinenser dar, da
sie tatsächlich mehr als die Hälfte von dem aufgaben, was ihnen von
der UN zugesagt worden war.
Was Arafat von
Ehud Barak 2000 in Camp David angeboten wurde, war nichts anders als
„Sharons Plan“, in dem er das Jordantal, Jerusalem und einen großen
Teil der Siedlungen behalten wollte. Nachdem er die Palästinenser
auf ihren schlechtesten wirtschaftlichen und humanitären Stand
gebracht hatte, hat Sharon eine Situation geschaffen, bei der er
unabhängig/ einseitig handeln und jeden zukünftigen
„Friedensprozess“ nach seinem Willen gestalten kann. Wenn es ihm
gelingt, den Mauerbau zu vollenden und mit seinen einseitigen
Aktionen eine Lösung zu diktieren, dann wird er nach seinem Plan
einen palästinensischen Staat in etwas transformieren, das man nur
noch als Bantustans oder einen Haufen Gettos bezeichnen kann.
Hier liegen die
wirklichen Gründe für den Mauerbau. Er hat nichts mit Sicherheit zu
tun, er symbolisiert einen schon vor langem beschlossenen Plan der
Armee, die besetzten Gebiete zu annektieren und das Ende des sog.
Friedensprozesses festzusetzen. Die israelische Armee hat
Absperrungen und schwere Bewegungsbeschränkungen in der WB neu
auferlegt und erklärt, dass die Hauptstraßen für palästinensische
Fahrzeuge gesperrt seien, mit der Ausnahme von einigem öffentlichen
Transport. Die Straßen sind nur für den Gebrauch von israelischen
Siedlern und für die Armee bestimmt. Dies erinnert an eine Art der
Trennung, wie sie nicht einmal auf dem Höhepunkt der Apartheid in
Süd-Afrika praktiziert wurde.
Gewöhnliche
Palästinenser können nicht zur Arbeit gehen; hoch schwangere Frauen
können zur Geburt nicht ins Krankenhaus gelangen; Patienten, die
notwendig zur Dialyse müssen oder Herzanfälle haben, können zu Hause
sterben, weil sie nicht in der Lage sind, ins nächste Krankenhaus zu
kommen. Und die palästinensische Wirtschaft ist vollkommen gelähmt.
Wo ist in all
diesem der Friedensprozess: wenn Sharon sich weigert, die Präsenz
eines palästinensischen Partners anzuerkennen und auch die Idee
einer internationalen Friedenskonferenz? Sharon behauptet, dass es
keinen Platz gebe, um über Jerusalem, das Jordantal, die Siedlungen
zu verhandeln. Und dass er einseitig über die Zukunft entscheiden
werde - ohne Palästinenser oder eine internationale Teilnahme. Und
wenn es Verhandlungen geben wird, dann werden sie zwischen der
rechten Likudpartei und der noch extremeren Führung des rechten
Flügels, der von Netanyahu vertreten wird, statt finden oder
zwischen Sharon und den Siedlern.
Unsere Forderung
wäre eine internationale Friedenskonferenz , wo die Lösung des
Konfliktes wieder zur Basis des Völkerrechts zurückkehrt und wo man
sich an das Rechtsgutachten des ICJ hält.
Was aber vor Ort
geschieht, ist die Schaffung eines Apartheidsystems. Von den 960
Millionen cbm Wasser, die in der WB vorkommen, dürfen die
Palästinenser nur 109 cbm ,den zehnten Teil, verwenden. Der Rest
geht nach Israel. Im Durchschnitt darf ein Palästinenser der WB
nicht mehr als 36 cbm Wasser/Jahr verbrauchen, während ein
israelischer Siedler in der WB 2400 cbm Wasser verbrauchen darf. Wir
dürfen unsere eigenen Straße und Wege nicht benützen. Wir dürfen
keine Häuser bauen. Wir dürfen uns nicht frei bewegen. Unser
Bruttoeinkommen beträgt pro Kopf weniger als 1000$ während das in
Israel fast bei 20 000$ liegt. Und trotzdem müssen wir Steuern
zahlen und haben eine Marktunion, die uns zwingt, Produkte zu den
selben Preisen zu kaufen wie die Israelis.
Dies macht das
schwerwiegende Ungleichgewicht der Macht sehr deutlich, das nicht
ohne die Intervention und die Unterstützung der internationalen
Gemeinschaft beseitigt werden kann.
Eine
Möglichkeit, diese Situation zu korrigieren ist, das zu tun, was im
Falle Süd-Afrikas getan wurde: Sanktionen auferlegen. Ein wichtiger
Aspekt wäre, die militärischen Verbindungen mit Israel, dem
viertgrößten Rüstungsexporteur der Welt zu lösen. Wir brauchen
eine Bewegung militärischer Nicht-Zusammenarbeit, die sich auf
Divestments konzentriert und wirtschaftliche Abkommen mit Israels
Einhaltung der Gesetze des Völkerrechts und die Erfüllung
internationaler Resolutionen verbindet.
Die
Palästinenser haben es verdient, endlich von ihrem langen Leiden
befreit zu werden, von 600 Jahren Fremdherrschaft, 58 Jahren
Enteignung, und 38 Jahren militärischer Besatzung, die die längste
in der modernen Geschichte geworden ist. Die Israelis werden nie
wirklich frei sein, wenn sie nicht diese Unterdrückung des
palästinensischen Volkes beenden.
Im Leben eines
jeden Volkes kommt ein Zeitpunkt, an dem es die Ungerechtigkeit
nicht länger ertragen kann. Dieser Zeitpunkt ist für die
Palästinenser jetzt gekommen.
Wir verlangen
frei zu sein – und wir werden frei sein.
(dt. Ellen
Rohlfs)
|