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"Dieses Land ist Palestina."
Geschichte und
Gegenwart einer jüdischen Familie in Israel
Andreas Boueke
Freitagnachmittag
im israelischen Hörfunk. Guy Elhanan moderiert seine kontroverse
Talkshow mit dem arabischen Titel "Netuley Harta", kein Müll. In dem
Gespräch mit einem Studiogast geht es um das Mit- und Gegeneinander
von Juden und Arabern in Israel, Gaza und im Westjordanland. Sein
Gesprächspartner heute ist Aziz Abu Sarah, ein palästinensischer
Journalist. Noch vor wenigen Jahren wäre er nicht einmal auf die
Idee gekommen, mit einem jüdischen Moderator im Radio aufzutreten.
"Ich war sehr aktiv in der Anti-Friedensbewegung," erzählt er. "Als
ich 13 war, habe ich mich der palästinensischen Partei Fatah
angeschlossen. Ich war einer der führenden Leute ihrer
Jugendbewegung in Jerusalem. Damals habe ich geschrieben, dass
Israel ein terroristisches Land ist, dass wir nie mit den Israelis
reden oder mit ihnen Kompromisse eingehen dürfen. Mit diesem Denken
bin ich aufgewachsen. Der Umstand, dass ich jetzt hier in der
Sendung von Guy bin, ist Beleg für eine große Veränderung in meinem
Leben."
Heute sind Guy und Aziz Freunde. Kennen
gelernt haben sie sich in einer Gruppe trauernder
Familienangehöriger von Opfern des israelisch-palästinensischen
Konflikts. Die Mitglieder dieser Gruppe sagen, dass die Gewalt in
der Region nur überwunden werden kann, wenn Israelis und
Palästinenser miteinander sprechen. "Uns ist deutlich geworden, dass
Menschen auf beiden Seiten Opfer von Unrecht und Besatzung sind,"
sagt Aziz. "Um diesen Konflikt zu beenden, müssen wir
zusammenarbeiten, anstatt uns gegenseitig zu hassen. Ich glaube, der
Schmerz verbindet uns. Niemand kann Guy und mich besser verstehen,
als wir uns gegenseitig verstehen. Nachdem mein Bruder gestorben
ist, hatte ich dieselben Fragen, die auch er sich stellte, als seine
Schwester gestorben ist."
Nach
der Sendung hat Guy nur wenig Zeit für ein Interview. Er muss bald
weiter zur Hochschule der Künste. Dort arbeitet er an der
Entwicklung eines Theaterstücks über den Alltag der Palästinenser
unter der israelischen Besatzung. Er sagt, er habe verschiedene
Foren, in denen er sich ausdrücken kann. "Zum Beispiel schreibe ich
Lieber und Theaterstücke. Aber es war immer mein Traum, Radio zu
machen. Diese Sendung ist die effektivste Ausdrucksmöglichkeit, die
ich habe."
Bisher weiß ich nur wenig über den
37jährigen Guy Elhanan. Seine Eltern, sein Onkel und sein älterer
Bruder sind alle bekannte israelische Friedensaktivisten, die sich
um eine Aussöhnung mit den Palästinensern bemühen. Von militanten
rechten Israelis werden sie auf einschlägigen Seiten des World Wide
Web mit Kübeln der Verachtung überschüttet.
Guy hatte auch noch eine Schwester,
Smadar. Sie wurde 1997 getötet, als sich zwei palästinensische
Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt haben. Am Tag der
Beerdigung forderte die trauernde Mutter alle Anwesenden zur
Aussöhnung mit den Palästinensern auf. Sie sagte, die israelische
Besatzungspolitik sei verantwortlich für den Tod ihrer Tochter. Das
war ein Affront, mit dem sie viele ihrer Freunde vor den Kopf stieß.
Die waren zum Begräbnis gekommen, um ihr Beileid auszusprechen, aber
auch, um öffentlich Vergeltung und Genugtuung zu fordern.
Bild links - Guy
Elhanan im Raum seiner Theaterklasse.
Ein Deutscher im Taxi
Guy wohnt in Motza, eine Siedlung
wohlhabender jüdischer Familien in den westlichen Hügeln Jerusalems,
etwa zwanzig Minuten Autofahrt entfernt vom alten Zentrum der Stadt.
Ein Taxi bringt mich dorthin. Der Fahrer spricht nur wenig Englisch,
ich spreche überhaupt kein Hebräisch. Trotzdem bemüht er sich um ein
Gespräch. Er fragt, ob ich US-Amerikaner sei. Das passiert mir
häufig, nicht nur in Israel. Wie immer versuche ich, möglichst
gelassen zu antworten: "Nein, ich komme aus Deutschland." Wirklich
unbefangen aber fühle ich mich nie, wenn ich einem Juden sage, dass
ich Deutscher bin. Der Taxifahrer reagiert so, wie ich es schon oft
erlebe habe: Ein kurzer Moment des Schweigens, den ich als
Schrecksekunde interpretiere. Eine Mischung aus Erstaunen und
Betroffenheit. Dann sagt er betont freundlich etwas positives über
Deutschland: Dass dort so gute Autos gebaut werden. "Mercedes, BMW.
Wirklich tolle Wagen." Trotzdem kann ich den irritierenden Gedanken
nicht vermeiden, dass ich als Angehöriger des Volkes der Täter mich
von ihm, einem Nachkommen von Holocaustopfern, durch die Straßen
chauffieren lasse.
Im Haus der Familie Elhanan
Während das Taxi noch parkt, kommt Guy
schon aus dem Haus. Mit einladender Geste empfängt er mich auf den
Stufen zur Eingangstür. Neben der hängt ein Schild mit dem Namen der
Familie Elhanan. Darüber ist ein bunter Aufkleber angebracht, auf
dem vier englische Worte stehen: "Free Palestine from ocupation." -
Befreit Palästina von der Besatzung. Dass eine jüdische Familie in
Israel eine solch' deutliche Sympathiebekundung für die Sache der
Palästinenser abgibt, ist sehr ungewöhnlich. Unter den meisten
israelischen Juden gilt dieser Satz noch immer als linksradikal,
wenn nicht gar als Aufruf zum Terrorismus.
Gleich hinter der Haustür beginnt eine
große, bunte Wohnküche. An der Wand hängt eine Holzuhr neben
Landschaftsfotos und Souvenirs aus fernen Ländern. Kleider,
Zeitschriften, Pantoffeln und Babykram liegen auf Stühlen und
Tischen verstreut. Auf einer Theke steht ein großer Topf voller
Suppe, die nur darauf wartet, für das Abendessen aufgewärmt zu
werden.
Guy führt mich durch die gemütliche
Atmosphäre des Durcheinanders in das Arbeitszimmer seines Vaters.
Der Raum ist voller Bücher. An der Wand hängen schwarzweiße Fotos in
alten Bilderrahmen. Guy deutet auf ein Bild. "Der Mann dort ist mein
Großvater, Matti Pelet. Er war General im Krieg von 1967. Damals war
Israel militärisch sehr erfolgreich. Danach hat er seine Ansichten
geändert und wurde ein militanter Friedensstifter. Er wurde
Abgeordneter der ersten arabisch-jüdischen Partei in der Knesset.
Später hat er arabische Literatur übersetzt."
Guy ist schlank, aber nicht schlaksig. Er
trägt einen Vollbart. Offenbar ist schon länger kein Kamm mehr durch
sein braunes Haar geglitten. Ich wundere mich nicht, als er sagt,
politische Inhalte seien ihm und seiner Familie wichtiger als
Äußerlichkeiten und Ordnung. Das war schon so, als er noch ganz
klein war. "Ich kann mich erinnern, wie ich als Siebenjähriger auf
Demonstrationen zu Rabin, dem damaligen Verteidigungsminister,
geschrien habe. Es gab da dieses Lied: 'Rabin, Rabin, wieviele Hände
hast Du heute gebrochen?' Von ihm stammte die Anordnung, Kindern,
die Steine werfen, die Hände zu zerbrechen."
Eigentlich aber, sagt Guy, habe er eine
behütete Kindheit verlebt, abgeschottet von den sozialen Unruhen
jener Zeit. Auch seine Jugend sei nicht wirklich anders verlaufen
als die der meisten jungen Juden in Israel während der achtziger und
neunziger Jahre. Seine kleine Schwester Smadar war damals eine
seiner wichtigsten Bezugspersonen. "Wir waren uns sehr nah. Ich kam
gerade aus der Pubertät raus, als sie rein kam. Wir haben viele neue
Erfahrungen miteinander geteilt, die erste Liebe, Küssen. Über
solche Sachen haben wir gesprochen. Es war die Zeit in der
Geschwister wieder zueinander finden, nachdem sie sich lange Zeit
über angemuffelt haben."
Die Geschwisterbeziehung wurde abrupt
zerstört. Smadars Tod war ein Einschnitt in Guys Leben. "Es ist auf
ihrem Weg zur Schule passiert. Sie starb zusammen mit fünf weiteren
Zivilisten. Ich habe oft über die beiden Selbstmordattentäter
nachgedacht. Sie waren achtzehn Jahre alt, glaube ich, nicht älter
als zwanzig. Ich erinnere mich an eine Situation, als ich in Paris
lebte. Dort wurde ein Kinofilm gezeigt. Der Titel war
'Bombenangriff'. Es ging um eben diesen Bombenangriff. Eine Freundin
meiner Eltern hatte die Dokumentation gedreht. Sie hat die Familien
der Opfer und die Familien der Mörder interviewt. Man sieht die
Eltern der Jungen. Eine Familie vom Land, geradezu das Klischee
einer palästinensischen Familie, patriarchal und all das. Ich sah
die Bilder von den beiden Jungen. Ich weiß noch, wie mir die
Ähnlichkeit der Trauer auffiel. Ich konnte den Schock sehen. Die
trauernde Mutter sah genauso aus wie meine Mutter. Der Blick in
ihren Augen. Sie erlebte denselben Schock. Da habe ich plötzlich
nochmal sehr intensiv über viele Dinge nachgedacht."
Kurz
vor Smadars Tod hatte Guy seinen Militärzeit begonnen. Wie jeder
junge Israeli musste er drei Jahre lang Dienst in Uniform leisten.
"Am Ende meines Militärdienstes bin ich praktisch aus dem
Land geflohen und kam sechs Jahre lang nicht zurück. Auf der einen
Seite musste ich lernen, mit dem Trauma umzugehen. Auf der anderen
Seite musste ich mich mit der Realität in Israel auseinandersetzen,
die immer blutiger und tödlicher wurde."
Bild links -
Soldaten bewachen eine
jüdische Siedlung im Westjordanland.
Zu der Zeit war die sogenannte Zweite
Intifada ausgebrochen, ein Volksaufstand der Palästinenser, in
dessen Verlauf über tausend Israelis und etwa dreimal so viele
Palästinenser umgekommen sind. Guy meint, seither würden die beiden
Gruppen noch abgeschotteter voneinander leben als zuvor. "Dies ist
eine Apartheidsgesellschaft. Die Leute bleiben unter sich, sie
treffen sich mit anderen Leuten derselben Ethnie. Sie leben in
Gettos. Auch ich bin in einem solchen Getto aufgewachsen - 'Getto'
im Sinne von einheitlich, dieselbe Rasse, derselbe Ursprung. Die
einzigen Palästinenser, die ich kannte, waren entweder Müllmänner
oder Bauarbeiter. Ich habe nie Araber kennen gelernt. Erst als ich
nach Paris kam, auf der Universität."
Gemeinsames Abendessen
Die Tür geht auf. Guys Vater kommt
herein, Rami Elhanan. Er begrüßt mich freundlich und fragt, ob ich
zum Abendessen bleiben möchte.
Wenige Minuten später sitze ich an einem
großen Tisch zusammen mit drei Generationen einer jüdischen Familie.
Guy ist vor einem Monat Vater geworden. Seine Frau Noa hält den
kleinen Yishai an ihre Brust. Seine Mutter Nurit füllt alle Teller
mit Suppe. Sie bemerkt, dass ich mein Aufnahmegerät angeschaltet
habe. Ich erkläre ihr, dass ich atmosphärische Töne für eine
Radiosendung aufnehme. Nach einer Weile drücke ich die Stop-Taste.
Schon im nächsten Moment ärgere ich mich darüber, denn gerade jetzt
fragt Guys Frau Noa, aus welchem Land ich komme. Ich antworte: "Aus
Deutschland." Wieder dieser kurze Moment der Stille. Zu meiner
großen Überraschung beendet Noa das Schweigen mit ein paar Sätzen in
flüssigem Deutsch. Sie hat einige Monate lang in Deutschland
studiert.
Ich möchte eine Frage stellen, von der
ich nicht so recht weiß, was sie auslösen wird? Guys Vater Rami
bestärkt mich, unbefangen zu sprechen. Also sage ich:
"Wir essen
gemeinsam zu Abend. Gerade haben Sie erfahren, dass ich Deutscher
bin. Was denken sie darüber? Ist das Gefühl ein anderes, als wenn
ich zum Beispiel Belgier wäre?"
Rami antwortet: "Die Erinnerung an den
Holocaust ist ein zentrales Thema für unsere Identität, für unser
Verhalten. Du persönlich warst nicht beteiligt, aber womöglich deine
Großväter, deine Familie. Es ist da. Es ist immer in der Luft. Es
kann nicht verschwinden und es wird immer da sein."
Guys Frau Noa schaltet sich ein: "Ich
denke, das ist auch eine Generationsfrage. Für die jungen Leute
wären es andere Themen. Es wäre einfach so: Du bist deutsch? Berlin
ist so cool! Wir würden über Musik sprechen, solche Sachen."
Für Rami ist das anders. "Die Gefühle
stecken so tief in mir, dass ich keine Kontrolle über sie habe. Ich
halte oft Vorträge vor deutschen Gruppen. Deshalb bin ich schon
häufig nach Deutschland eingeladen worden. Aber ich habe immer
abgelehnt. Es ist mir unmöglich, dorthin zu gehen. Ich kann es schon
nicht ertragen, nur die Sprache zu hören. Mein Vater war ein Jahr
lang in Auschwitz. Er kam aus Ungarn und hat an dem Todesmarsch
teilgenommen. Dort hat er die meisten seiner Familienangehörigen
verloren."
Es waren Deutsche, die Ramis Vater ins KZ
gesperrt und seine Onkel und Tanten ermordet haben. Ich bin
Deutscher. Jetzt sitze ich mit dieser jüdischen Familie an einem
Tisch. Wir essen gemeinsam Suppe. Ich frage: "Ist es in Ordnung,
dass ich hier bin?"
Rami antwortet: "Es ist absolut in
Ordnung. Ich versuche, die Leute als Menschen zu sehen. Es ist nicht
meine Aufgabe, über sie zu urteilen. Ich fälle nicht einmal ein
Urteil über die Kriminellen, die meine Tochter ermordet haben."
Eigentlich bin ich in dieses Haus
gekommen, um über den israelisch-palästinensischen Konflikt zu
sprechen. Doch mit der Zeit merke ich, dass unser Gespräch über den
Holocaust notwendig war, um die Haltung der Familie Elhanan zu der
Besatzungspolitik Israels besser verstehen zu können.
Es wird dunkel
"Ein Kind zu verlieren ist wie ein
persönlicher Holocaust," sagt Rami. "Du versuchst jeden Morgen,
einen Grund zu finden, um aus dem Bett zu kommen und weiter zu
leben. Du suchst ein neues Ziel für dein Leben. Das entscheidende
Erlebnis für mich war es, trauernde palästinensische
Familienangehörige von Opfern des Konflikts kennen zu lernen. Da ist
mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass ich solche Leute nie zuvor
getroffen hatte, obwohl ich mein ganzes Leben lang neben ihnen
gewohnt habe. Aber ich bin nie über die Linie gegangen, die uns
voneinander trennt. Von diesem Moment an habe ich mein Leben der
Aufgabe gewidmet, überall hin zu gehen und zu sagen, dass wir nicht
verloren sind. Wir können unser Schicksal ändern, indem wir
miteinander sprechen. Die Lösung liegt nicht im Vergeben oder
Vergessen, sondern es geht ums Reden, mit Palästinensern, mit
Deutschen, mit Siedlern, mit Gegnern des Zionismus, mit Zionisten,
reden."
Von den trauernden palästinensischen
Familien hat Rami Elhanan viele Details über ihren harten Alltag
unter der israelischen Besatzung erfahren. Früher hat er sich nie
wirklich dafür interessiert.
Sie fühlen sich eingesperrt in ihren Dörfern, die sie nicht
verlassen dürfen. Sie werden von jungen israelischen Soldaten
schikaniert. Jeder Versuch des Aufbegehrens ist lebensgefährlich.
Jüdische Siedler nehmen ihnen ihr Land weg. Die Besatzer bauen
Wachposten und eine große Mauer. Seine Frau Nurit meint, es gebe
viele Parallelen zwischen dem deutschen Faschismus und der Situation
in den besetzten Gebieten. Sie hat keine Skrupel, die Verbrechen der
Nazis mit der Politik ihrer Regierung zu vergleichen. "Über
den Faschismus habe ich gelesen, was ich lesen musste. Ich wollte
immer wissen, wie es sein kann, dass Menschen so etwas tun. Aber
jetzt stelle ich mir dieselbe Frage über die Israelis. Wie ist es
möglich, dass gute jüdische Jungen und Mädchen im Alter von 18 zu
Monstern werden, sobald sie eine Uniform tragen? Die Fragen über
Nazi-Deutschland, die sich die Menschen immer wieder gefragt haben,
stellen sich heute über Israel. Jetzt können wir sehen, zu welchen
Taten unsere jungen Leute im Stande sind. Diese furchtbaren Dinge,
die sie palästinensischen Kindern antun, Frauen und alten Menschen.
Jetzt können wir wirklich verstehen, dass die Nazis nicht abartige
Wesen waren. Es ist sehr leicht, Nazi zu werden. "
Draußen ist es dunkel geworden. Guy und
Noa wollen gehen. Yishai muss ins Bett. Die junge Familie wohnt nur
ein paar Straßenblocks entfernt. Guy hat nichts dagegen, dass ich
mich weiter an seine Fersen heften möchte. Er schlägt mir vor, am
nächsten Tag zu der Schule zu kommen, in der er als Theaterlehrer
arbeitet. Dann verabschiedet er sich. Seine Mutter Nurit aber hat
noch Zeit. Bis spät abends sprechen wir über ihr Leben in Israel und
das ihres Sohnes Guy. "Ich denke, er sucht noch seinen Platz
in dieser Welt. Er glaubt, dass er etwas ändern kann. Das ist ihm
sehr wichtig. Ich denke, dass er ein Sohn dieses Landes sein will.
Und dieses Land ist Palästina."
Bild links -
Kinder jüdischer Siedler im Westjordanland werden oft schon früh
militarisiert.
Man könnte meinen, dass Nurit als Mutter
und jetzt als Großmutter froh darüber sei, dass Guy wieder in ihrer
Nähe wohnt. Ist sie aber nicht. "Hier werden ständig Menschen
getötet. Kinder werden ermordet. Das Leben ist gefährlich. In einem
südfranzösischen Dorf wäre Smadar nicht ermordet worden. Ich hätte
sie dorthin bringen sollen, aber ich habe es nicht getan."
In der Oase des Friedens
Guy unterrichtet an einer Schule mit dem
hebräischen Namen Neve Shalom. Auf Arabisch heißt sie Wahat al-Salam,
Oase des Friedens. Es ist eine außergewöhnliche Schule, denn die
Kinder, die hier gemeinsam unterrichtet werden, stammen sowohl aus
jüdischen als auch aus arabischen Familien.
Als ich ankomme, ist Guy noch nicht da.
Ich nutze die Zeit, um mit einer der palästinensischen Lehrerinnen
zu sprechen, die gerade Pausenaufsicht hat. "Unser Motto in
der Schule ist es, den anderen zu akzeptieren. Die Menschen in
Israel leben voneinander getrennt. Wir wollen sie zusammenführen und
ihnen zeigen, dass sie für ihre Rechte einstehen dürfen. Menschen
haben das Recht, sich frei zu äußern und respektvoll behandelt zu
werden.
Guy ist ein wunderbarer Lehrer. Er kann
mit den Kindern in beiden Sprachen sprechen, Arabisch und Hebräisch.
Das ist sehr wichtig in dieser Schule."
An diesem Morgen hat Guy erst zur dritten
Stunde Unterricht. Sobald er auftaucht, kommen einige Kinder auf ihn
zugelaufen und begrüßen ihn fröhlich. Er nimmt sich Zeit für sie und
beantwortet ihre Fragen, mal auf Arabisch, mal auf Hebräisch. Dann
gehen wir zum Theaterraum.
Handpuppen hängen an der Wand und Kostüme
in einem Schrank. Anstelle von Schreibtischen gibt es Bänke und
große Kissen. Aber nicht nur die Ausstattung ist anders als in
anderen Klassenräumen. Auch Guys Unterrichtsstil erinnert mehr an
Spiel und Spaß als an eine durchgeplante Schulstunde. Guy erlaubt
den Jungen sogar wilde Raufereien, solange sie spielerisch und nicht
böswillig sind. "Sie kommen aus sehr unterschiedlichen Dörfern,"
erklärt er. "Es gibt arabische Dörfer und es gibt jüdische Dörfer.
Das einzige gemischte Dorf in Israel ist dieses."
In palästinensischen Schulen kommt es
noch immer vor, dass Lehrer ihre Autorität mit Schlägen und strengen
Strafen zum Ausdruck bringen. Jüdische Kinder hingegen genießen eine
gewaltfreie Unterrichtsatmosphäre. "Ich finde, eine gemischte Schule
sollte der Standard sein. Es sollte normal sein, dass Araber in
deiner Klasse sind, oder dass Juden in deiner Klasse sind. Es sollte
nicht die Option geben, dass man eine rassisch pure Klasse wählen
kann. Aber in Israel gibt es heute zwei Bildungssysteme, die
komplett getrennt existieren. Eins ist arabisch, eins ist jüdisch.
Sie treffen sich nicht. Nie. So können sie sich fremd bleiben. So
können sie sich gegenseitig hassen. So können sie voreinander Angst
haben. So können sie ignorant bleiben gegenüber dem anderen."
Eine junge Liebe
Abends
fahre ich nochmal nach Motza. Diesmal, um Guy und Noa in ihrer
kleinen Wohnung zu treffen. Ihren Sohn haben sie gerade ins Bett
gebracht. Wir sitzen im Esszimmer. Der Raum ist voller alter Möbel,
die den Eindruck machen, als kämen sie direkt vom Sperrmüll. Ich
setze mich auf einen bequemen Holzstuhl, der übersät ist mit
Farbkleksen, rot, grün und weiß. Noa ist das wohl peinlich.
Jedenfalls bietet sie mir dreimal an, mich woanders hin zu setzen.
Dann sitzen mir die beiden gegenüber, eng beieinander, auf einem
schmuddeligen Sofa. Ich kann es mir nicht verkneifen zu fragen, wie
sie sich kennen gelernt haben. Guy erwähnt ein Theaterstück, das er
über die Lage der Palästinenser geschrieben hat. Er war auf der
Suche nach Mitstreiterinnen, mit denen er es auf die Bühne bringen
wollte. "Da tauchte plötzlich Noa auf. Sie hatte alle
Antworten auf einmal. Nicht nur, dass ihre Arbeit genau so war, wie
ich es mir erträumt hatte, auch die politischen Inhalte stimmten.
Ich konnte viel von ihr lernen. Bis dahin hatte ich die Dinge von
einer höheren Ebene aus betrachteten, vielleicht so wie man es in
Europa gewohnt ist. Aber Noa war mitten drin, direkt bei den Leuten,
auf Demonstrationen. Ich wusste gar nicht, das es sowas gibt."
Bild - Guy und Noa in
der Küche ihrer Wohnung.
Für Noa war Guys Theaterstück der
Auslöser ihrer Liebe. "Bevor ich es gelesen habe, hatte ich im
Theater keinen Partner, mit dem ich wirklich auf Augenhöhe über
Politik reden konnte. Es war das erste Mal, dass ich der politischen
Aussage wegen für das Projekt eines anderen gearbeitet habe."
Auch an diesem Abend ist es spät
geworden. Bevor ich gehe, erzähle ich Guy noch von meinem Gespräch
mit seiner Mutter Nurit. Ich erwähne, dass sie sich Vorwürfe macht,
weil sie ihre Kinder in Israel aufgezogen hat und nicht ins Ausland
gegangen ist. Guy weiß, dass sie nicht wirklich froh ist über seine
Rückkehr nach Israel. "Ich habe sechs Jahre lang in
Frankreich gelebt und hätte bleiben können. Ich weiß noch, wie ich
dachte: 'Ja, meine Mutter hat recht. Natürlich hat sie recht.' Aber
da war noch etwas anderes, starkes. Das habe ich in die Waagschale
geworfen und daraufhin war die Entscheidung klar: 'Ich kann nicht im
Ausland leben.' Zu der Zeit war dieser Apartheid-Staat Israel in
einer so schlimmen Verfassung wie nie zuvor. Die Zahl der Toten war
extrem hoch. Aber hätte ich mich entschieden, in Europa zu bleiben,
dann hätte ich mein Land abgeschrieben. Ich hätte es den Fanatikern
überlassen. Aber ich bin zurückgekommen. Das bedeutet, dass ich noch
immer Hoffnung habe, dass ich noch immer an das glaube, was ich tue
und was so viele andere tolle Menschen hier tun, um die Lage zu
ändern. Zum Beispiel dieses Interview. Welchen Wert hätte es, wenn
Noa und ich in Deutschland leben würden? Es hätte einen Wert, aber
nicht denselben."
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