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Tsafrir Cohen
Representative in Palestine & Israel
medico international e.V.www.medico.de
Sehr geehrte Damen
& Herren, liebe Freunde & Kollegen,
anbei
finden Sie, kurz vor dem Sommerurlaub, einen Beitrag über
die Lage in und um Gaza im August 2009. Die Veröffentlichung
(unter Angabe der Quelle
www.medico.de)
und die Weiterleitung sind
erlaubt und erwünscht.
Ich möchte Sie zudem auf den Besuch des "Freedom
Theatre Jenin" in September und Oktober in vielen deutschen
Städten - darunter Berlin (Schaubühne), Frankfurt, Bochum,
Bonn, Osnabrück, Bremen ("explosive!"), Kiel, Bonn,
Braunschweig, Heidelberg & Leipzig - sowie in Österreich
(Wien, Graz) aufmerksam machen. Mehr zu diesem
ungewöhnlichen medico-Partner, zum Stück "Fragments of
Palestine",sowie zu den Tourneedaten & -Orten können Sie
unter www.medico.de
lesen.
In und um Gaza, August
2009
Von mobilen Kliniken,
Frauenzentren und Menschenrechten
Frauenzentrum im Flüchtlingslager
Im Flüchtlingslager Al-Bureij
betreibt der neue medico-Partner „Culture and Free
Thought Association“ (CFTA) ein Frauenzentrum. Für
die Frauen aus dem Flüchtlingslager ist dieses die
einzige Ausflucht aus einem Leben, das immer mehr
von Hoffnungslosigkeit geprägt ist. „Was ist uns
noch geblieben?“, fragt Gründerin Majeda Al-Saqqa.
„Die Blockade beeinflusst jeden Lebensbereich. Wir
ersticken hier. Wir haben immer weniger Zugang zu
Allem, zu Gesundheit, zu Arbeit, zur
Bewegungsfreiheit. Wir können Gaza seit Jahren nicht
verlassen. Die Frauen hier können höchstens zum
Strand. Doch dieser ist zunehmend verschmutzt.
Die israelische Blockade führt
nämlich dazu, dass weder Zement noch Ersatzteile
eingeführt werden können. Die Klärwerke sind
folglich kaum funktionsfähig, und das Abwasser wird
ins Meer geleitet.“ Für die Kunstkurse muss teure
Schmuggelware gekauft werden, da Israel die Einfuhr
von Malmaterialien und Papier mit der Begründung
verhindert, diese seien Luxusartikel. Die Qualität
der durch die Tunnels aus Ägypten geschmuggelten
Ware ist miserabel. Diese Buntstifte sind nach
kurzer Zeit ausgetrocknet. Die beliebte Sauna, aber
auch Beleuchtung und Computer im Büro können nur
wenige Stunden genutzt werden, da es immer wieder zu
Stromausfällen kommt.
Mit dem Ausfall des Internets
fühlt sich Majeda vollends von der Außenwelt
abgeschnitten. Auch die Gesundheitsdienste des
Zentrums sind von der Blockade betroffen. Der Mangel
an Ersatzteilen zwang CFTA dazu, ein teures, neues
Ultraschallgerät zu kaufen, statt das alte zu
reparieren. In der angeschlossenen Apotheke müssen
sie immer wieder schauen, wie sie Medikamente stabil
kühl lagern, wenn der Strom ausfällt. Die
Mitarbeiterinnen des Zentrums, Gesundheitspersonal,
Sozialarbeiterinnen sollten in Jordanien weiter
ausgebildet werden, doch eine Ausreisegenehmigung
haben die israelischen Behörden das dritte Jahr in
Folge abgelehnt. Begründung Fehlanzeige.
Kleine & große
Erfolgsgeschichten
Trotz der schwierigen humanitären
Situation kann medicos langjährige
Partnerorganisation „Palestinian Medical Relief
Society“ (PMRS) kleine und größere
Erfolgsgeschichten vermelden.
Durch die enorme Resonanz der
medico-Spender auf die Krisensituation während und
nach den israelischen Angriffe auf Gaza, sowie mit
Geldern der Schweizer Organisationen medico Schweiz,
Caritas, Kinderhilfe Bethlehem und Kampagne
Olivenöl, sowie des Deutschen Auswärtigen Amts
konnte PMRS das umfangreichste Nothilfeprogramm
ihrer 30-jährigen Geschichte realisieren.
Tausende von Erste-Hilfe-Paketen
konnten verteilt und Hunderte von Menschen in Erster
Hilfe ausgebildet werden. Seitdem auch zwei
Übungspuppen angeschafft wurden, können die Kurse
praktischer gestaltet werden. Unter den
Kursteilnehmern waren besonders gefährdete Menschen
- etwa Fischer. Da Israel auch eine Seeblockade
verhängt, laufen diese stets Gefahr, die eng
gezogene, unsichtbare israelische Seegrenze zu
überschreiten und von der israelischen Marine
angegriffen und gerammt zu werden. Oder Bauern,
deren Felder an Israels Zaun angrenzen.
Die Angriffe der israelischen
Armee haben dazu geführt, dass sich die Situation
der unterpriviligierten Bevölkerungsschichten weiter
verschlechtert hat. Diese sind kaum noch in der
Lage, sich um die eigene Gesundheit und die ihrer
Familien zu sorgen.
Durch die Unterstützung kann PMRS
mithilfe zweier mobiler Kliniken diese Menschen
erreichen und ihnen den Zugang zu
Gesundheitsdiensten, zu ärztlicher Beratung,
Medikamenten oder Labortests ermöglichen. Etwa 3.000
Fälle behandeln sie monatlich, viele Patienten
leiden unter Atemwegerkrankungen, Madenwürmern,
Hautinfektionen oder chronischen Krankheiten. Weiter
profitieren Hunderte von Patienten im schwer
getroffenen Jabalia, im nördlichen Gazastreifen von
erweiterten Basisgesundheitsdiensten, und viele
Gazaer werden durch die drei Physiotherapeuten und
16 Sozialarbeiter betreut.
Als direkte Folge der Kämpfe sind
Tausende von Gebäuden zerstört oder beschädigt
worden. Zehntausende haben ihre Wohnungen
beziehungsweise ihr Hab und Gut verloren. Noch immer
leben viele Menschen in beschädigten Behausungen,
teilweise ohne grundlegende Haushaltsgegenstände,
ohne Wasser oder Strom.
Die SozialarbeiterInnen der PMRS
haben Tausende solcher Familien besucht, sprachen
ihnen zu, berieten sie und vermittelten sie weiter,
falls sie gravierende psychische oder physische
Probleme feststellten. Gleichzeitig konnten die
SozialarbeiterInnen den materiellen Bedarf dieser
Familien ermitteln. Daraufhin wurden in den letzten
Monaten individuelle Hilfspakete, bestehend aus
Haushaltsgegenständen oder Kleidung an viele
Hunderte von Familien verteilt. Die
SozialarbeiterInnen sind das Bindeglied zwischen den
lokalen Gemeinden und den anderen Diensten der PMRS,
etwa dem Physiotherapiezentrum. Durch unsere
Unterstützung kann dieses nun das ganze Jahr
betrieben werden. Hier arbeiten drei
Physiotherapeuten mit Verletzten und Menschen mit
Behinderungen an deren Genesung.
Schließlich konnten in dem
besonders von den israelischen Angriffen betroffenen
Jabalia im nördlichen Gazastreifen die Dienste der
dortigen PMRS-Klinik um eine Nachmittagsschicht
erweitert werden, sowie um sechs spezialisierte
Ärzte, die der Klinik jeweils einen wöchentlichen
Besuch abstatten.
Menschenrechte in Gaza
Dr. Aed Yaghi, Leiter der PMRS in
Gaza, ist zufrieden mit der Arbeit seiner Truppe,
auch wenn die Mitarbeiterzahl aufgrund des groß
angelegten Notprogramms um etwa 40 auf über 100
gestiegen ist, was zu Anpassungsschwierigkeiten
führt. Dennoch blickt er pessimistisch in die
Zukunft. Die Blockade von Gaza macht jede
Entwicklung unmöglich. Sie können nur die Lücken
füllen.
Die politische Lage in den
besetzten Gebieten gibt ihm kaum Grund zur Hoffnung.
Hamas und Fatah verfolgen ihre eigenen Interessen.
Hamas im Gazastreifen und Fatah in der Westbank
möchten vor allem eins: Ihre Macht im jeweiligen
Gebiet zementieren. Dadurch wird der Bruch zwischen
Gaza und der Westbank immer größer. Keine Partei
plant mehr für die gesamten besetzten Gebiete,
sondern nur für das „eigene“ Gebiet. Organisationen
der anderen Partei – darunter auch
Hilfsorganisationen – werden geschlossen. Damit
fallen beide Parteien in die Falle der israelischen
Politik des Trennens und Herrschens. Die Interessen
der Bevölkerung bleiben zurück.
Viele gesellschaftliche
Entwicklungen im Gazastreifen sind sehr
besorgniserregend: Der Kopftuchzwang ab der siebten
Klasse oder neulich ein Schreiben an alle
Gaststätten, das allen Frauen das Rauchen von
Wasserpfeifen an öffentlichen Stellen verbietet. Das
sind Vorboten für das, was viele befürchtet haben,
die Einrichtung eines Gottesstaates, die, so spotten
manche, eher eine Gottesenklave sei.
Noch besorgniserregender findet
die Menschenrechtsorganisation Al Mezan die
Tatsache, dass Hamas – wie auch die von Fatah
kontrollierte Autonomiebehörde in Ramallah –
Menschen ohne Haftbefehl festnimmt. Da Israel auch
die Gefängnisse bombardiert hatte, gibt es seit Ende
Juni ein neues zentrales Internierungslager. Hamas
hindert jedoch Al Mezan und andere
Menschenrechtsorganisationen, sowie Anwälte daran,
die Gefangenen zu besuchen. Obwohl das nach
palästinensischem Gesetz verboten ist. Damit kann Al
Mezan nur Zeugnisse über die dortige Lage sammeln.
Nach diesen sind die hygienischen Bedingungen dort
schlecht, die Gefangenen erhalten weder Arzt- noch
Anwaltsbesuche. Viele der Gefangenen sind politische
Gegner. Al Mezan sieht dies als Folge des
Machtkampfs zwischen beiden Parteien. Jede vergilt
eine Festnahme oder die Schließung einer ihrer
Organisationen mit gleicher Münze. Eine Eskalation
scheint vorprogrammiert. Die verbrieften Rechte
werden von beiden Seiten mit Füßen getreten.
Die palästinensische Bevölkerung
und medicos Partnerorganisationen befinden sich also
in einer der Zange, zwischen der israelischen
Besatzungs- und Blockadepolitik einerseits und der
Repressionsversuche der beiden palästinensischen
„Regierungen“. Al Mezans Berichte über israelische
Menschenrechtsverletzungen während der Angriffe auf
Gaza wurden auch von anderer Seite bestätigt.
medicos israelischer Partner „Breaking the Silence„
hat eine weltweit viel beachtete Sammlung von
Augenzeugenberichten israelischer Soldaten über
Menschenrechtsverletzungen herausgegeben.
Derweil in
Israel
Da die Gazaer Gesundheitsdienste
seit Jahren keine Entwicklung erleben, sondern
langsam implodieren, kann immer mehr Patienten nur
eine Behandlung außerhalb des Gazastreifens retten.
Da die israelischen Behörden die Überweisung von
Schwerst- und Todkranken immer wieder ablehnen,
wendet sich medicos Partnerorganisation „Ärzte für
Menschenrechte Israel“ (PHR-IL) immer wieder an ihr
Freiwilligennetz, darunter viele bekannte Ärzte und
an die Presse, um auf besonders schwere Fälle
hinzuweisen.
Am 6. Juli riefen PHR-IL dazu
auf, Druck auf die israelischen Behörden auszuüben,
damit der 28-jährigen Muhammad Abu Matir, der an
einen bösartigen Tumor am Lymphsystem leidet, von
Gaza in das Ostjerusalemer
Augusta-Viktoria-Krankenhaus überwiesen werden kann.
Bis dahin hatte er über zwei Monate vergebens auf
eine Überweisung gewartet. Mit Erfolg. Die
Überweisung des Patienten wurde drei Tage später
genehmigt. Am 12. Juli konnte der Krebskranke
Patient den Gazastreifen verlassen, nachdem er
fünfeinhalb Stunden durch den israelischen
Geheimdienst ausgefragt wurde und weitere drei
Stunden auf die Ausreise warten musste. Andere
hatten weniger Glück.
medico-Partner Al Mezan zählt 15 todkranke
Gazaer, darunter zwei Kinder, die Gaza nicht
verlassen durften und daraufhin verstarben.
Für ein Ende der Blockade des Gazastreifens
medico und seine zehn
israelischen und palästinensischen Partner sind
davon überzeugt: Eine Verbesserung der humanitären
Situation kann nur erfolgen, wenn die israelische
Blockade von Gaza für Menschen und Waren aufgehoben
wird. Dies darf nicht eine zeitlich begrenzte Geste
eines angeblich guten Willens sein, sondern muss auf
Dauer garantiert werden. Alles andere stellt eine
menschenrechtswidrige Kollektivbestrafung von
anderthalb Millionen Menschen dar.
Nachtrag:
Druck auf &
Drohungen gegen
israelische Organisationen
In Israel werden
israelische Organisationen,
die Menschenrechtsfragen und Fragen des Zugangs zu
Gesundheit Ernst nehmen als neuer
Lieblingsfeind entdeckt und avancierten in den
letzten Monaten zum Public Enemy Nummer 1.
Die Aktivisten der
Reservistenorganisation „Breaking the Silence“,
die - unterstützt von medico - Augenzeugenberichte
israelischer Soldaten über
Menschenrechtsverletzungen während der Angriffe auf
den Gazastreifen um die Jahreswende 08/09
veröffentlicht hatten, wurden im staatlichen
Armeeradio als Verräter beschimpft, denen die
Knochen gebrochen werden müssen. Sie erhalten
täglich Todesdrohungen.
Die „Ärzte für Menschenrechte –
Israel“ werden derweil von der israelischen
Ärztekammer attackiert. Deren Vorsitzender, seines
Zeichens auch Vorsitzender der World
Medical Association, also der internationalen
Ärztedachorganisation
(sic!), warf dem medico-Partner vor, ihre Berichte
über die Teilnahme von israelischen Ärzten an Folter
würden Antisemitismus und anti-israelische Gefühle
fördern und brach alle Beziehungen zu PHR-IL ab.
Gleichzeitig versuchen
rechtsradikale Knessetmitglieder – mit einigem
Erfolg – die Arbeit eines dritten israelischen
medico-Partners zu unterbinden. „Zochrot“ hat sich
zum Ziel gesetzt, die Nakba, also die Katastrophe
der Palästinenser, die 1948 aus dem heutigen Israel
vertrieben bzw. geflüchtet sind, im
jüdisch-israelischen Diskurs zu thematisieren. Die
Möglichkeit, dies anzusprechen, soll jetzt per
Gesetz eingeschränkt werden.
Der israelische Druck scheint bei
der Europäischen Kommission gefruchtet zu haben.
Haben sie bislang auch Organisationen unterstützt,
die jenseits des israelischen Konsenses auf eine auf
Menschenrechten basierende Position beharren, so
scheint sie neulich die ur-europäischen Grundsätze
zu missachten und lässt diesen Organisationen kaum
noch Mittel für
Arbeit in den besetzten Gebieten zukommen.
Schöne neue Welt.
Projektstichwort
medico hat 2009 die Arbeit
seiner Partner in Palästina & Israel mit etwa
500.000€ unterstützt. Wir möchten uns auch
weiter dafür einsetzen, Nischen von Solidarität
in Palästina und Israel zu erhalten. Dafür
benötigen wir weiterhin ihre Unterstützung.
Spenden Sie unter dem Stichwort:
Israel-Palästina, Konto-Nr. 1800, Frankfurter
Sparkasse, BLZ 500 502 01
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