Bis zum
heutigen Tag prägen drei grundlegende Mythen die
israelische Kultur. Das ist erstens die „Negation des
Exils“ (sheilat ha-galut), zweitens die „Rückkehr ins
Land Israel“ (ha-shiva le-Eretz-Yisrael) und drittens
die „Rückkehr in die Geschichte“ (ha-shiva la-historia).
Sie sind alle unauflöslich mit der Selbstdarstellung
(master-narrative) des Zionismus verbunden. Genau
diese Darstellung erklärt, so Gabriel Piterberg, „wie
wir dorthin kamen, wo wir jetzt sind und in welche
Richtung wir uns in Zukunft entwickeln sollen.“
Die Tilgung der Erinnerung
von Gabriel
Piterberg
Die Negation des
Exils stellt eine Verbindung her zwischen einer weit zurückliegenden
Vergangenheit, in der es einmal eine jüdische Souveränität über das
Land Israel gegeben hat und einer Gegenwart, in der diese
Souveränität durch die Wiederansiedlung Palästinas erneut
hergestellt wird. Zwischen diesen beiden Perioden liegt eine nicht
näher bestimmte Zwischenzeit. Alle Zionisten sind sich einig darin,
dass die Zeit des Exils ausschließlich negativ
zu betrachten ist. Das geschieht zwar mit unterschiedlichen
Abstufungen, aber es entspringt einer nicht weiter hinterfragten
Voraussetzung: nämlich dass die Juden schon immer (seit undenklichen
Zeiten) eine Territorialnation darstellten. Daraus folgt
zwangsläufig, dass eine nicht-territoriale Existenz als „unnormal“
und nicht authentisch erscheinen muss. Für sich selbst genommen
erscheint dann auch die geschichtliche Erfahrung des Exils als
(eher) unbedeutend. Wenn das Exil auch kulturelle Leistungen
hervorgebracht hat, so kann es per definitionem dennoch nicht den
Geist der Nation widerspiegeln. Insofern Juden als Individuen oder
als Gemeinschaften zum Exil verdammt waren, galt ihre Existenz als
Lebensform, die vorübergehend sie – per se im Übergang – ein Dasein,
das erlitten, eine Existenz, die bedauernswerterweise zu fristen
war. Die Juden des Galut mussten auf die Erlösung, auf die Rückkehr
(aliyah) ins Land Israel warten. Nur hier konnte sich das nationale
Vermächtnis erfüllen. Folgt man dieser mythischen Erklärung, dann
haben die Juden im Exil immer nur ein provisorisches Leben geführt.
Schon immer haben sie die Rückkehr ins Land Israel angestrebt und
waren also schon immer potenzielle Zionisten (Proto-Zionisten).1
An dieser Stelle
verbindet sich nun der zweite Mythos mit dem ersten. In der
zionistischen Terminologie ausgedrückt: Wenn die Menschen sich
wieder ihre Heimat zu eigen machen, dann wird sich dadurch die
jüdische Existenz (das jüdische Leben) normalisieren. Der für diese
Wiederinkraftsetzung des Exodus
vorgesehene Ort war das Territorium, auf dem sich die biblische
Geschichte abgespielt hat, ganz so wie das im Protestantismus des
18. und 19. Jahrhundert schon ausgemalt wurde. Die zionistische
Ideologie definierte dieses Land als leer. Dies bedeutet nun nicht,
dass die zionistischen Führer und die Siedler die Präsenz der Araber
in Palästina schlicht ignorierten. Israel war in einem „tieferen
Sinne“ leer.
Die
„Wiedergewinnung“ des Landes erforderte eine koloniale
Herrschaftsstruktur
Denn auch für
dieses Land galt, dass es zum Exil verdammt war, so lange keine
jüdische Souveränität über dieses Territorium bestand: Solange hatte
es auch keine bedeutende und Authentizität schaffende Geschichte
vorzuweisen, sondern „es“ wartete auf Erlösung durch die Rückkehr
der Juden. „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“, in diesem
wohl bekanntesten zionistischen Slogan werden gleich zwei Dinge
geleugnet: Zum einen die historische Erfahrung der Juden im Exil und
zum anderen die Geschichte Palästinas ohne jüdische Souveränität. Da
das Land nun wirklich nicht im Wortsinne „leer“ war, erforderte
seine Wiedergewinnung eine koloniale Herrschaftsstruktur. Diese
wurde mit der Bibel legitimiert. Da standen dann die historischen
Hüter gegen „Eindringlinge“, die auch nach der Rückkehr der dafür
Vorbestimmten immer noch blieben. Die jüdischen Siedler erhielten
einen privilegierten Status, der sich aus dem Pentateuch ableitet,
während die Araber sozusagen als Teil des Inventars behandelt
wurden. Wenn die Bibel davon spricht, dass man eine Frau kennt, dann
meint das in der modernen, macho-geprägten hebräischisraelischen
Kultur, dass man diese Frau besitzt. Genauso wurden jetzt das „Land
kennen“ und das „Land besitzen“ austauschbare Begriffe. Die
zionistischen Siedler handelten als ein kollektives Subjekt, während
die Palästinenser zu Objekten wurden, über die man verfügt hat.
Mit dem dritten
grundlegenden Mythos, „Rückkehr in die Geschichte“, zeigt sich so
deutlich wie nirgendwo sonst, wie eng die zionistische Ideologie im
Europa des 19. Jahrhundert mit der Entwicklung des romantischen
Nationalismus und des deutschen Historismus verbunden ist. Seine
Grundannahme ist, dass die natürliche und unabänderliche Form
menschlichen Zusammenlebens die Nation ist. Von Anbeginn der
Geschichte an haben sich die Völker in solchen Einheiten
zusammengefunden. Wenn sie auch von Zeit zu Zeit durch innere
Spaltungen geschwächt oder durch fremde Mächte unterdrückt wurden,
so zielte doch alles darauf ab, dass die Völker im souveränen
Nationalstaat ihren politischen Selbstausdruck finden. Der
Nationalstaat ist (in dieser Sicht) das geschichtliche Subjekt par
excellence, der Staat ist das Ziel, auf das das politische Handeln
letztlich hinausläuft. Wenn man dieser Logik folgt, dann standen die
Juden, solange sie sich im Exil befanden, außerhalb der Geschichte,
in der sich die europäischen Nationen platziert hatten. Demgemäß
sind allein Nationen, die auch den Boden ihres Heimatlandes besitzen
und die politische Souveränität darüber ausüben, in der Lage, ihr
eigenes Schicksal zu bestimmen und so Eingang in die Geschichte zu
finden. Nur durch die Überwindung der Passivität im Exil und die
Rückkehr der jüdischen Nation in das Land Israel konnte man wieder
Anschluss an die Geschichte der zivilisierten Völker finden.
„Cleansing
Palestine“
Palästina war nur
metaphorisch gesprochen „leer“, tatsächlich war es ja von Arabern
bewohnt. Wie aber nun sollte Palästina „geleert“ werden, um so die
Gründung Israels zu ermöglichen? (In den letzten zwei Jahrzehnten)
sind längst überfällige Kontroversen über die Entstehung des
jetzigen Staats Israel geführt worden. Sie wurden durch Arbeiten von
Historikern ausgelöst, die diesen grundlegenden Mythen nicht (mehr)
verpflichtet sind. Das ist eine begrüßenswerte Entwicklung, weil so
viele leere Mystifikationen einfach weggeblasen worden sind. Aber
es besteht die Gefahr, dass die Debatte zu sehr auf die Frage
verengt wird, ob es einen ausgereiften israelischen Plan gegeben
hat, die palästinensischen Araber im großen Stil 1948 aus ihren
Häusern zu vertreiben. Es ist verständlich und zu respektieren, dass
hinter dieser drängenden Frage ein moralische Dimension steht. Aber
es ist auch wahr, dass hinter dieser Fragestellung die Perspektive
der Täter als das gilt, was zählt. Dagegen kommt die Sichtweise der
Opfer zu kurz. Die Israelis sollten sich selbst schon mit der Frage
beschäftigen, ob es eine explizite zionistische Absicht gegeben hat,
unter dem Deckmantel des Kriegs eine ethnische Säuberung
durchzuführen. Aber für die Palästinenser, die ihre Häuser, ihr Hab
und Gut, ihre Rechte und ihre Identität verloren haben, ist es
ziemlich unwichtig, ob die Katastrophe, die ihnen zugestoßen ist,
ausgelöst wurde durch die spontanen Entscheidungen von
Militärkommandeuren und Bürokraten vor Ort oder ob diese damit
implizit den Wünschen der zionistischen Führung entsprachen oder ob
– als dritte Variante – eine nicht näher bestimmbare, verbreitete
Atmosphäre und Geisteshaltung vorherrschte, in der großflächige
massive Vertreibungen als wünschenswert betrachtet wurden. Man kann
sich aber auch eine Kombination zwischen diesen Erklärungsansätzen
vorstellen. Was aber für die Araber, die von ihrem Land vertrieben
worden waren, zählte, war der Umstand, dass sie so enteignet und zu
Flüchtlingen wurden. Wenn man nun nachträglich, das eigene schlechte
Gewissen beklagt, besteht die Gefahr, dass dies zu einem Ritual
wird, das sich nur die Sieger leisten können, ohne dass dies
irgendwelche Folgen für die Opfer hat, die mit den Ergebnissen der
Taten leben müssen.
Tatsache ist, dass
die Möglichkeit einer massiven Vertreibung schon lange vor dem
Kriegsausbruch von 1948 in der Art und Weise der zionistischen
Kolonisierung (Besiedlung) Palästinas angelegt war. Die Überlegungen
darüber, wie ein solcher „Bevölkerungstransfer“ vonstatten gehen
könnte, waren am Ende der 30er Jahre, als der Bericht der
Peel-Kommission erschien, schon weit mehr als nur eine abstrakte
Idee. Zeev Sternhell hat völlig Recht, wenn er feststellt, dass der
Zionismus ein typischer Vertreter des „organischen“ Nationalismus in
Mittel- und Osteuropa ist, der sich vom (in Westeuropa
vorherrschenden) „zivilen“ Nationalismus unterscheidet. 2
Ein wesentliches
Merkmal des „organischen“
Nationalismus ist das Streben nach ethnischer Homogenität und damit
war von vornherein ausgeschlossen, dass die zionistische Bewegung in
Palästina einen binationalen Staat akzeptieren würde. Wenn man nun
die demographischen Gegebenheiten in Palästina im Jahre 1947
betrachtet, dann erforderte die Errichtung eines jüdischen Staats
ganz unausweichlich die Vertreibung der Palästinenser aus ihren
Dörfern und Städten. Allerdings war die Art und Weise dieses
„Bevölkerungstransfers“ nicht davon abhängig, ob es einen zuvor
minutiös ausgearbeiteten Plan der israelischen Regierung für die
Vertreibungen gegeben hat oder nicht. (Hingegen hat es sehr wohl
detaillierte Berechnungen und Überlegungen einzelner Beamter und
Dienststellen gegeben). Vielmehr war die wichtigste Entscheidung
die, die palästinensischen Araber unter keinen Umständen mehr in
ihre Häuser zurückkehren zu lassen. Dabei spielte keine Rolle, unter
welchen Umständen sie ihre Häuser „verlassen“ hatten. Auch dann
nicht, wenn klar war, dass sie diese nur zeitweise verlassen haben,
um sich vor akuten Kriegseinwirkungen in Sicherheit zu bringen. Es
gab natürlich auch ganz bewusst organisierte großflächige
Vertreibungen. Die berüchtigte Operation Dany vom 10. bis 14. Juli
1948 in den Städten Ramleh und Lydda, die 10 Meilen südöstlich von
Tel Aviv lagen, ist dafür ein gutes Beispiel. 3 Während dieser
Operation wurde in Lydda ein Massaker verübt und es kam zum
zwangsweisen Transfer aller Einwohner von Lydda und Ramleh nach
Jordanien.
Die wichtigste und
sehr bewusst getroffene Entscheidung war aber die, dass der
Zusammenbruch des palästinensischen Gemeinwesens als Folge des
offenen Krieges zwischen Israel und den arabischen Staaten,
unumkehrbar gemacht werden sollte. Es durfte nicht wieder entstehen.
Der „retroaktive
Transfer“4
Im April 1948 fiel
Haifa nach einem israelischen Angriff. Im Juni hat dann
Außenminister Mosche Scharett, der bis heute von den „Gemäßigten“ in
Israel verehrt wird, seinen Kabinettskollegen erklärt:
„Meiner Auffassung
nach ist das doch wohl die überraschendste Entwicklung überhaupt: Es
gibt keine Araber mehr im Land, sie haben es verlassen. Diese
Entwicklung ist noch überraschender als die Gründung des hebräischen
Staats… Weil die Araber aus freien Stücken geflohen sind, ist ihre
Flucht eine der revolutionären Veränderungen, nach denen die
Geschichte nicht mehr so weiter geht wie vorher… Wir sollten uns
bereit erklären, für das Land zu zahlen. Das bedeutet aber nicht,
dass wir jedes Grundstück aufkaufen und jeden Araber entschädigen.
Wir sollten Ländereien und Immobilien zur Verfügung stellen, damit
die Araber in anderen Ländern angesiedelt werden können. Aber sie
sollen nicht zurückkehren.“5 […]
Überall auf der
Welt haben Bürokraten ihre eigene Denkart und Sprache, und dabei
werden von ihnen gelegentlich messerscharf passende Ausdrücke
geprägt. Yosef Weitz, der Direktor der Landabteilung der Jewish
Agency und einer der führenden Verfechter der Transfer-Idee, hat
einen solchen Ausdruck erfunden. Schon am 28.
Mai 1948, nachdem
er eine Sitzung des halb-offiziellen dreiköpfigen Transferkomitees
geleitet hatte, vermerkte er ein Treffen mit Scharett in seinem
Tagebuch. Bei diesem Treffen hatte Weitz Scharett gefragte, ob man
gezielte Aktionen unternehmen solle, die sicherstellen, dass die
Flucht der Araber aus der Kriegszone irreversibel gemacht wird.
Weitz hat dafür den Terminus „retroaktiver Transfer“ (transfer
be-di’avad) gebraucht und Scharett hat diese Frage mit „Ja“
beantwortet.6
Der Ausdruck von
Weitz spiegelt wider, was zu dieser Zeit intern zwischen
israelischen Funktionären und Politikern diskutiert wurde.
Angefangen mit der Eroberung von Haifa wurden in allen
palästinensischen Gebieten, die von den Israelis erobert wurden, die
Araber vertrieben. Mit besonderer Rücksichtslosigkeit geschah dies
im Herbst 1948, auch ohne dass es hierfür eines ausgefeilten Plans
bedurft hätte. Es gab eine Reihe von Möglichkeiten, das Land
„araberleer“ zu machen: durch die Flucht zuerst der Wohlhabenden,
durch die zeitweise Flucht von Zivilisten aus dem jeweiligen
Kampfgebiet, durch das bewusste Auslösen von Panik, indem das
israelische Militär Gewalt, Terror und Propagandamittel einsetzte.
Schließlich gab es auch die minutiös geplanten Vertreibungen. Man
kann heute anhand der Dokumente gut nachweisen, dass der auf diese
Maßnahmen folgende „retroaktive Transfer“ kalt und berechnend in die
Praxis umgesetzt wurde.
Das war die
grundlegende Entscheidung, die in den 50er Jahren mit weitreichenden
Folgen für Palästinenser wie Juden innerhalb und außerhalb Israels,
systematisiert, in Gesetzesform gegossen und bürokratisch umgesetzt
wurde. Bis zum heutigen Tag bestimmt die Rückkehr der Juden und die
Verweigerung der Rückkehr der Araber nach Palästina die Struktur des
israelischen Staats. Wenn der Zusammenhang zwischen der Rückkehr der
einen und der Verweigerung der Rückkehr der anderen verschwinden
würde, dann würde der zionistische Staat seine Identität verlieren.
Die offizielle
Darstellung
Die physische
Umsetzung der Politik der Nicht-Rückkehr bedeutete die brutale
kriegsmäßige Zerstörung der besetzten Dörfer wie auch von einigen
städtischen Wohnvierteln. Es bedeutete die Konfiszierung von Land
und Eigentum und schließlich die Ansiedlung von Juden in den Orten,
die jetzt ohne Araber waren. Die so geschaffenen Tatsachen wurden in
den 50er Jahren durch eine systematisch angelegte Gesetzgebung
rechtlich abgesichert. Diese betraf sowohl die Flüchtlinge außerhalb
Israels als auch die noch in Israel verbliebenen Araber, die der
Staat nun als seine Staatsbürger (zweiter Klasse) definierte. Aber
die Auslöschung der arabischen Existenz in Palästina geschah nicht
nur physisch.
Die Tilgung dieser
Existenz wurde auch diskursiv vollzogen. Eine Gruppe von
Funktionären, die als Experten für die „arabische Frage“ galten, war
für diesen Aspekt verantwortlich. Sie unterteilte sich wiederum in
zwei Gruppen. Da waren zum einen diejenigen, die den
außenpolitischen Apparat der Jewish Agency durchlaufen hatten oder
die in der Zeit vor der Staatsgründung Mitglieder der
Aufklärungsabteilung der Haganah waren. Sie konnten Arabisch
sprechen, hatten Erfahrung im Umgang mit Arabern und waren stolz auf
ihre Felderfahrung. Diese Gruppe nannte man die „Arabisten“
(Arabistim).
Die andere Gruppe
hatte an europäischen, und da vor allem deutschen Universitäten,
eine gründlichere und bessere Ausbildung erhalten. Zum Teil waren
sie auch schon Absolventen der Hebräischen Universität in Jerusalem.
Sie waren vor allem des geschriebenen Arabisch (fusha) mächtig, und
sie waren davon überzeugt, als Akademiker ein tieferes und besseres
Verständnis des Feindes zu haben als ihre Kollegen Praktiker. Diese
zweite Gruppe bezeichnete man als die „Orientalisten“. Nach der
Gründung des Staats kamen die meisten von ihnen im
Geheimdienstapparat oder in der Nahostabteilung des
Außenministeriums unter. Andere gingen in die Forschung oder sie
arbeiteten als „Experten für arabische Angelegenheiten“.7
Nach dem Krieg
wurde das palästinensische Flüchtlingsproblem zu einem „humanitären
Problem“ deklariert. Das war die wichtigste grundlegende
Entscheidung dieses Apparats. Als „humanitäres Problem“ sollte das
palästinensische Flüchtlingsproblem im Rahmen einer Gesamtlösung des
israelisch-arabischen Konflikts angegangen werden, obwohl jeder
wusste, dass eine solche Gesamtlösung überhaupt nicht in Sicht war.
Bombaji-Sasprotas stellt richtigerweise fest, dass diese Strategie
dazu diente, die Palästinenser ihrer Rolle als Opfer der
israelischen Expansion zu berauben: Ihre Identität, ihr Gedächtnis
sowie ihre Ansprüche und Erwartungen wurden einfach ignoriert.
Stattdessen wurde ganz bewusst ein gordischer Knoten geschnürt.
Dieser gordische Knoten wurde von den israelischen Akademikern, ganz
gleich ob sie nun dem Mainstream zuzurechnen sind oder eine
kritischere Haltung einnehmen, als Tatsache akzeptiert.8 […]
Das halboffizielle
Transfer-Komitee unter der Leitung von Yosef Weitz hat in seinem
ersten Bericht vom November 1948 schon die Position formuliert, die
später die offizielle Darstellung des „Flüchtlingsproblems“ werden
sollte.9 Die wichtigste Aufgabe dieses Komitees war es, dafür zu
sorgen, dass es keine Rückkehr mehr geben konnte. Um das zu
erreichen, wurden zuerst die palästinensischen Dörfer und
Wohnviertel systematisch zerstört. Anschließend wurde das Land und
das Eigentum der Palästinenser systematisch beschlagnahmt. Der
umfangreiche Bericht vom November 1948 enthält viele detaillierte
Informationen über die Palästinenser und die Aktivitäten des
Komitees. Der Sinn und Zweck der Übung bestand im Großen und Ganzen
darin, mit gebotener Autorität und scheinbarer Objektivität den
Schluss nahezulegen, dass die einzige Lösung darin bestünde, die
Flüchtlinge in den anderen arabischen Staaten anzusiedeln. Im
Rückblick erscheint dieser Bericht so etwas wie der Urtext zum
gesamten israelischen Diskurs über das Schicksal „derer, die
gegangen sind“. Akademiker, Bürokraten und Politiker – alle hatten
dessen Grundannahmen verinnerlicht, zumindest bis zu dem Zeitpunkt,
zu dem die Arbeiten von Benny Morris veröffentlicht wurden, also bis
weit in die 80er und 90er Jahre hinein. Dieser Bericht des
Transferkomitees lieferte die Standarddarstellung der Geschichte -
so wie sie in der Propaganda und für außenpolitische Zwecke benutzt
wurde.
Seine Darstellung
war fehlerhaft und tendenziös, und es gibt genug Hinweise darauf,
dass sie auch bewußt so „gestrickt“ wurde. 10 Die zentrale Aussage
war, dass die Palästinenser selbst, ihre Führer wie auch ihre
Verbündeten in den arabischen Staaten, die alleinige Verantwortung
für die Entstehung des „Flüchtlingsproblems“ trügen.[…]
Das Verschwinden
des Dorfes Shayk Mu’nis
Ein logischer und
damit einhergehender Schritt ist das systematische Bemühen, alle
Spuren einer palästinensischen Vergangenheit auf dem eroberten Boden
zu tilgen. In den Memoiren von Zwi Yavetz findet sich ein gutes
Beispiel dafür, wie diese Politik in die Praxis umgesetzt wurde. Zwi
Yavetz, emeritierter Professor für römische Geschichte, gehört zu
den Gründern der Universität Tel Aviv. Drei Jahrzehnte lang war er
ein mächtiger Königsmacher in der geisteswissenschaftlichen
Fakultät. In seinen Memoiren erinnert er sich an die ersten
Verhandlungen mit Akademikern, Bürokraten und Politikern, die zur
Gründung der Universität führten. Er beschreibt, wie die
Entscheidung getroffen wurde, den ersten noch provisorischen Campus
aus dem Zentrum von Tel Aviv nach Shayk Mu’nis zu verlagern. 11
Den Ort Shayk
Mu’nis erwähnt auch Golda Meir… Sie sprach vor dem Zentralkomitee
der Mapai (Arbeiterpartei). Was denn nun mit den Orten geschehen
solle, die von den Arabern verlassen worden sind, war eine der
Fragen, die sie behandeln wollte. Dabei sollte man ihrer Meinung
nach zwischen „feindlichen“ und „freundlichen“ Dörfern
unterscheiden. „Was machen wir mit Dörfern“, so fragte sie, „die
verlassen von uns freundlich gesonnenen Arabern wurden, ohne dass es
einen Kampf gegeben hat. Sollen wir diese Dörfer erhalten, so dass
ihre Einwohner zurückkehren können. Oder aber wollen wir auch in
diesen Fällen alle Spuren verwischen, die darauf hinweisen, dass
hier einmal ein Dorf gestanden hat.“12 Golda Meirs Antwort war
unmissverständlich: Es sei undenkbar, dass wir Dörfer wie Shayk
Mu’nis, dessen Bewohner geflohen sind, weil sie nicht gegen uns
kämpfen wollten, in der gleichen Weise behandeln wie feindliche
Dörfer, also wie solche, die unter die Prinzipien des ‚retroaktiven
Transfers’ fielen.
Aber die Bewohner
von Shayk Mu’nis hatten nicht viel davon, dass ihr Dorf als
„freundlich“ eingestuft wurde. Dabei hatten noch bis Ende März 1948
die Führer dieses nördlich von Tel Aviv gelegenen Dorfes arabische
Kämpfer davon abgehalten, das Dorf zu betreten und sie haben sogar
eng mit der Haganah zusammen gearbeitet. Doch dann wurden fünf
Dorfnotable von der Irgun entführt. Daraufhin floh die Bevölkerung
in großer Zahl und Shayk Mu’nis verschwand förmlich von der
Bildfläche – eine Tatsache, die drei Monate später auch von der
Aufklärung der israelischen Streitkräfte bestätigt wurde. Golda Meir
stellte ihre scheinbar drängenden Fragen nach dem Schicksal von
Shayk Mu’nis Anfang Mai, obwohl sie damals schon wusste, dass dieses
Dorf seit Ende März 1948 nicht mehr existierte. Das ist ein
typisches Beispiel für die Krokodilstränen, die die
Arbeiterzionisten vergießen, wenn sie sich über von ihnen
geschaffene fait accompli das Herz zerreißen. Wo einst Shayk
Mu’nis stand, steht heute im Norden Tel Avivs das ziemlich
wohlhabende Viertel Ramat Aviv. Dort, wo nicht einmal zwanzig Jahre
vorher das Dorf Shayk Mu’nis stand, wurde in den 60er Jahren die
Universität Tel Aviv gebaut. Yavetz, „linker“ Kriegsveteran des 48er
Krieges, verliert darüber in seinen Memoiren kein Wort. Shayk Mu’nis
existierte nicht mehr und 30 Jahre lange erinnerte daran auch
nichts. Doch dann passierte etwas Unvorhergesehenes. In den 90er
Jahren wurde die Universität größer und sie hatte auch mehr Geld.
Also baute sie auf ihrem Campus einen luxuriösen VIP-Club, dem sie
den Namen das „Grüne Haus“ gab. Seine Architektur entspricht dem in
Israel sogenannten orientalischen Stil, und es sieht aus wie eine
arabische Villa. Nun steht dieses „Grüne Haus“ auf dem Hügel, auf
dem einst das Haus des Mukhtars von Shayk Mu’nis stand. Jetzt kann
man Informationen über die Geschichte dieses Ortes und wem er einst
gehörte in der Speisekarte des Grünen Hauses finden.
„Operation
Flüchtlinge“
Von Beginn an war
es den israelischen Beamten und Funktionären sehr bewusst, dass der
Faktor „Erinnerung“ von außerordentlicher Bedeutung war und dass sie
diese Erinnerung unbedingt tilgen mussten. Denn: Um den jüdischen
Staat gründen zu können, war es wichtig, auch vor den Juden selbst
geheim zu halten, was passiert war. Noch wichtiger aber war es, die
Erinnerung der Palästinenser an ihre eigene (jüngste) Vergangenheit
auszulöschen. Schamai Kahane hat eines der Schlüsseldokumente in
diesem Zusammenhang verfasst. Kahane war ein hoher Beamter des
Außenministeriums und von 1953-1954 diente er Mosche Scharett als
persönlicher und diplomatischer Sekretär. Er war auch beteiligt am
Aufbau eines großes Aktenbestands, bekannt unter dem Namen
„Operation Flüchtlinge“. Am 7. März 1951 13 legte er dem amtierenden
Direktor der Nahostabteilung des Außenministeriums (Divon) ein
Memorandum vor, in dem es um diesen Punkt, die Erinnerung der
Flüchtlinge, geht:
„Propaganda unter
den Flüchtlingen, um sie von der Illusion abzubringen, nach Israel
zurückkehren zu können.
Es erscheint als
sehr wirkungsvoll, diese Propaganda mit Hilfe von Fotos zu
betreiben, damit ihnen (den Flüchtlingen) sehr deutlich wird, dass
es nichts mehr gibt, wohin sie zurückkehren können. Die Flüchtlinge
glauben, dass ihre Häuser, ihre Möbel und sonstiges Hab und Gut
immer noch intakt sind und dass sie nur zurückkehren müssen, um es
wieder in Besitz nehmen zu können. Stattdessen muss man ihnen vor
Augen führen, dass ihre Häuser zerstört sind und sie ihren Besitz
verloren haben. Die Juden, die jetzt dort leben, werden auch nicht
mehr wegziehen, sie haben sich jetzt dort fest eingerichtet. Alles
dies kann man auf indirekte Weise vermitteln, so dass dadurch nicht
unnötigerweise Rachegefühle geweckt werden. So kann man die
Wirklichkeit darstellen, wie bitter und grausam sie auch immer sein
mag.
Wege, um dieses
Material zu verbreiten:
Man kann eine Broschüre oder eine Serie von Artikeln mit Fotos in
Israel oder im Ausland in begrenzter Auflage veröffentlichen, so
dass sie außerhalb der arabischen Welt nicht zu hohe Wellen
schlagen, sie aber dennoch ihren Weg in die Hände arabischer
Journalisten finden. Diese könnten dann entsprechend den
Vorabsprachen die Flüchtlinge von dem besagten Material in Kenntnis
setzen. Ein anderer Weg wäre die Fotos mit den dazugehörenden
Überschriften (und die Überschriften sind das Wichtigste!) in einer
Broschüre zu drucken, die so aussieht, als wäre sie in einem
arabischen Staat gedruckt worden. Mit Hilfe der Fotos kann man dann
den Unterschied zeigen, wie die arabischen Dörfer früher ausgehen
haben und wie es jetzt nach dem Krieg und der Ansiedlung der Juden
dort aussieht. Diese Fotos sollten belegen, dass die Juden dort nur
Ruinen und Trümmer vorgefunden haben und dass sie viel Arbeit in den
Wiederaufbau der verlassenen Orte gesteckt haben, dass sie hier für
sich selbst ihre Zukunft sehen und sie nicht bereit sein werden, sie
wieder zu verlassen.
Dieser Vorschlag
ist sicher mit einem gewissen Risiko verbunden, aber ich glaube,
dass seine Vorteile die möglichen Nachteile überwiegen. Wir sollten
ihn sorgfältig prüfen und dann auch wirksam umsetzen“. 14
Kahanes Memorandum
zeigt, wie kaltblütig sich das israelische Establishment daran
machte, das Bewusstsein und die Erinnerung der Opfer zu verändern.
Das Memorandum war nur der Vorlauf zu einem umfassenden Bericht, den
Kahane etwas später im Jahr 1948 verfasste und in dem er alle
möglichen Aspekte des „Flüchtlingsproblems“ abhandelte. Dieser
Bericht wurde mit Blick auf die Aktivitäten des UN Appeasement
Committees und einer von diesem Committee unterstützten Konferenz in
Paris abgefasst.15 Der Bericht ist in mehrfacher Hinsicht
bemerkenswert: Er belegt, wie schnell das arabische Erbe (und die
arabische Präsenz) in Palästina von Seiten der Regierung als eine
nur vorübergehende Episode betrachtet wurde. Er zeigt zudem, wie
sehr die Rückkehr der Flüchtlinge als eine objektive Unmöglichkeit
dargestellt wurde, um ja nicht zu zeigen, dass es der Staat war, der
alles daransetzte, um diese Rückkehr zu verhindern.
Damit wurde die
gängige Auffassung bestätigt, dass die Araber selbst schuld sind an
ihrem Unglück. Kahane macht auch deutlich, wie sehr seiner
Auffassung nach Palästina bereits ein Land ohne Araber geworden ist.
„Von einem nationalen Standpunkt aus gesehen wird das Wachstum der
arabischen Minderheit Israels Entwicklung als homogenen Staat
behindern.“ Eine Repatriierung, so fügte er mit einem altruistischen
Unterton hinzu, würde auch für die Flüchtlinge selbst nicht von
Vorteil sein:
„Wenn die
Flüchtlinge nach Israel zurückkehrten, dann würden sie ein Land
vorfinden, dessen wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische
Strukturen sich grundlegend von dem Land unterscheiden, das sie
verlassen haben. Die Städte und die meisten der verlassenen Dörfer
sind bereits von Juden bewohnt und sie prägen diese Orte bereits…
Wenn die Flüchtlinge nun in die Realität zurückkehren würden, die
sich seither bereits in Israel entwickelt hat, würden sie sich hier
nur noch sehr schwer zurechtfinden. Freiberufler, Kaufleute und
Beamte müssten in den Städten, wo schon alle Schlüsselpositionen von
Juden besetzt sind, einen wirtschaftlichen Überlebenskampf führen.
Für die meisten Bauern ist eine Rückkehr auf ihre Ländereien nicht
mehr möglich.“
An dieser Stelle
nimmt Kahane die Argumentation eines früheren Berichts des
Außenministeriums vom 26. März 1949 wieder auf. Auch dieser Bericht
war mit Blick auf das UN-Appeasement Committee erstellt worden. Die
Autoren des Berichts waren wohl Michael Comay, der Direktor der
Commonwealth-Abteilung des Außenministeriums und Zalman Liftshitz,
ein früheres Mitglied des Transfer-Komitees und Berater Ben-Gurions
für Fragen des Landbesitzes. Der in Englisch verfasste Bericht mit
dem Titel „Das arabische Flüchtlingsproblem“ unterstreicht
ebenfalls, dass eine Repatriierung der Flüchtlinge vollkommen
unmöglich ist. Er tut dies in einer überheblichen Art und zieht
dabei alle Register nach dem bekannten Strickmuster: „Es hat sich
alles geändert; es ist nichts mehr so, wie es einmal war“ 16. In dem
Bericht wird dem Ganzen jedoch noch eine tragische Note hinzugefügt.
Das Schicksal der Flüchtlinge wird als eine Naturkatastrophe
gewertet. Deren Folgen seien zwar bedauernswert, aber eben auch
unabwendbar und unabänderlich. Dagegen hätten diejenigen, die diese
Vertreibung verursacht haben, sprich also der Staat, gar nichts mit
der Sache zu tun. An diesem Bericht, der eine Verlautbarung des
Staats darstellt und dessen Autoren Staatsdiener waren, fallen der
unpersönliche Stil und der häufige Gebrauch von Passivsätzen auf:
„Während des
Krieges und mit der Flucht brach die wirtschaftliche Lebensgrundlage
der Flüchtlinge weg. Das bewegliche Hab und Gut, das sie nicht
mitnehmen konnten, ist inzwischen verschwunden. Das Vieh wurde
geschlachtet oder verkauft.
Im Verlauf der
Kämpfe wurden Tausende von Wohnunterkünften in Städten und Dörfern
zerstört. Andere wurden bewusst zerstört, damit sie nicht von
feindlichen Kombattanten genutzt werden konnten. In den meisten
Unterkünften, in denen man noch wohnen kann, leben jetzt (jüdische)
Einwanderer (…). Aber selbst wenn eine Repatriierung wirtschaftlich
möglich wäre, ist sie auch politisch erwünscht? Würde es einen Sinn
machen, wieder eine duale Gesellschaft aufzubauen, mit der sich
Palästina schon so lange herumgeplagt hat und die am Ende zum
offenen Krieg geführt hat. Selbst unter den glücklichsten Umständen
würde eine komplexe und instabile Situation entstehen, wenn in einem
einzigen Staat zwei oder noch mehr Völker von unterschiedlicher
Rasse, Religion, Sprache und Kultur zusammenleben müssten.“
Die anwesende
Abwesenden (Hanifkadim Hanokhahim)
Der von Yosef Weitz
geprägte bürokratische Begriff vom „retroaktiven Transfer“
beschreibt nicht nur messerscharf den Gegenstand; er erzählt auch
die Geschichte, wie die Israelis Palästina in ein Land verwandelt
haben, in das die während des Kriegs ins Ausland Geflüchteten nicht
mehr zurückkehren durften.
Ein weiterer
Begriff, der für die Binnenflüchtlinge, die innerhalb der
israelischen Staatsgrenzen geblieben sind, geprägt wurde, hat ebenso
bedeutende bürokratische, juristische und moralische Auswirkungen.
Die palästinensischen Binnenflüchtlinge wurden als anwesende
Abwesende (present absentees) bezeichnet. Bombaji-Sasportas zeigt an
diesem Beispiel (S. 44-99), wie sehr das israelische Establishment
den Kontext von „außen“ und „innen“ benutzt hat, um die Flüchtlinge
zu einem puren Objekt zu machen, sie zu kontrollieren und zu
enteignen. Wir beleuchten den Begriff hier, um zu zeigen, welche
Realität hinter dieser Begrifflichkeit steckt. Der Terminus der
„anwesende Abwesenden“ bezeichnet die Geschichte der Palästinenser,
die zwischen 1948 und 1952 noch im Innern, in Israel, blieben. Es
sind dies ca. 160 000 Palästinenser gewesen und in diesem Terminus
ist wiederum eine Geschichte von Vertreibung und Enteignung
enthalten und er erzählt noch mehr: nämlich etwas über jene
stillschweigende Apartheid, die Israel bis heute prägt. Es handelt
sich um das Zusammenspiel zwischen formaler Einbeziehung der
Palästinenser als Staatsbürger und ihrer strukturellen Ausgrenzung,
indem man ihnen gleiche Rechte verweigert. Das schafft eine
besondere Dialektik der Unterdrückung. Einerseits ist dieser
Bevölkerungsteil formal zwar anwesend, aber in vielerlei Hinsicht
sind die Palästinenser auch nicht da. Das lässt die
rechtlich-bürokratische Definition dieser Palästinenser so kalt und
korrekt erscheinen.
Ursprünglich war
die Kategorie der „Abwesenden“ ein juristischer Begriff, der
diejenigen Flüchtlinge bezeichnete, die zwar von ihren Wohnungen
„abwesend“ waren, aber noch innerhalb der Staatsgrenzen, so wie sie
die Waffenstillstandsabkommen von 1949 festlegten, „anwesend“ waren.
Der großen Mehrheit der so klassifizierten Palästinenser wurde die
Rückkehr in ihre Häuser verweigert. Sie konnten ihr Eigentum nicht
wieder einklagen, es wurde ihnen aber auch keine Entschädigung
gezahlt. Denn der Staat hat 1950 das Gesetz über das Eigentum der
Abwesenden verabschiedet, mit dem die Plünderung ihrer Besitztümer
legalisiert wurde. Der groß angelegte Diebstahl arabischen Eigentums
kam im Gewand einer riesigen Grundstückstransaktion daher, die der
Staat sozusagen mit sich selbst durchführte. Dafür wurde ein
besonderes Amt, der Treuhänder (Hüter) geschaffen, wobei man
nur schlecht verbergen konnte, dass es sich hierbei um einen
Regierungsfunktionär handelt. Der Treuhänder war berechtigt,
das Land der Abwesenden (so wie es im Paragraph 1b des Gesetzes
definiert ist) an die Entwicklungsagentur zu verkaufen. Auch diese
Behörde wurde für eben diesen Zweck von der Regierung eigens
gegründet. Sie hat dann das Land an den Jüdischen Nationalfond
weiterverkauft. Am Ende dieser Kette wurden diese Ländereien dann
nur an Juden vergeben. Der Jüdische Nationalfond arbeitet laut
seinem Statut nur im Interesse der Juden. So wurden diese Ländereien
faktisch privates Eigentum, während sie de jure in Staatsbesitz
blieben.
Die Zerstörung der
Kultur
Ihr rechtlicher
Status hatte für die „Abwesenden“ schon schlimme Folgen. Die ganze
Dialektik des Status der „anwesend Abwesenden“ erschließt sich aber
erst, wenn man liest, was Alexander Dotan, auch er ein hoher Beamter
des Außenministeriums, zu diesem Thema zu Papier gebracht hat. Im
Frühsommer 1952 arbeitete Dotan in der Abteilung für Internationale
Organisationen. Zu diesem Zeitpunkt beendete die UNRWA gerade ihre
Aktivitäten in Israel und übergab der israelischen Regierung die
Verantwortung für die „internen“ Flüchtlinge. Im Juli wurde Dotan
zum inter-ministeriellen Koordinator und zum Vorsitzenden des
Beratenden Komitees für Flüchtlingsangelegenheiten ernannt. Nachdem
er sich eine Zeit lang in dieses Thema eingearbeitet hatte,
verfasste er eine Reihe von Memoranden, in denen er neben
Hintergrundinformationen auch Lösungsvorschläge für das
„Flüchtlingsproblem“ offerierte. Das erste dieser Memoranden datiert
vom 9. November 1952 und befasst sich speziell mit den Flüchtlingen
innerhalb Israels, denen nicht erlaubt wurde, in ihre Heimatorte
zurückzukehren und die jetzt in anderen palästinensischen Dörfern
und Städten untergekommen waren. Dotan war wohl der erste, der diese
Menschen als anwesend Abwesende bezeichnete und der auch ihren
Status näher definierte.17 Dieses Memorandum hat schon literarische
Qualitäten. Da werden ein tragischer Komplott, eine angeblich
vorhandene Empathie und eine anthropologische Distanz dazu benutzt,
ein ‚realistisches’ Bild davon zu zeichnen, wie sich die „anwesend
Abwesenden“ wohl an die Vergangenheit erinnern werden:
„Das grundlegende
Problem eines Flüchtlings, der vollständig von der Regierung
abhängig ist, ist sein Grund und Boden. Viele der Flüchtlinge leben
heute in Dörfern in Galiläa, ganz nah an ihren verlassenen eigenen
Dörfern und Ländereien. Sie haben hier sozusagen ihren
Aussichtsturm. Die Entfernung beträgt oft nur ein paar Kilometer und
in den meisten Fällen wären die Flüchtlinge in der Lage, auch ohne
dass sie in die verlassenen und zerstörten Dörfer zurückkehren
müssten – falls man es ihnen erlauben würde – ihre Ländereien von
ihrem jetzigen Aufenthaltsort aus zu bewirtschaften. Von seinem
momentanen Aufenthaltsort aus kann der Flüchtling beobachten, was
mit seinem Land passiert. Er hofft zwar auf die Rückkehr, er sieht
aber auch die neuen (jüdischen) Einwanderer, wie sie versuchen, sich
auf seinem Land einzurichten und Wurzeln zu schlagen. Er bemerkt
auch, wie andere Ländereien vom Treuhänder zur Bearbeitung an andere
weitergegeben werden. Er kann auch beobachten, wenn der Obstgarten
verwildert, weil sich niemand mehr um ihn kümmert. Der Flüchtling
sehnt sich nach der Rückkehr auf sein Land, auch dann, wenn es nur
ein Teil seines Besitztums wäre und das meiste seines Landes schon
von Juden besiedelt und bewirtschaftet wird. Er wünscht sich, dass
er das verbliebene Land wenigstens vom Treuhänder pachten kann, aber
auch das wird ihm verwehrt.“
Dotan macht den
Lesern seines Memorandums auch klar, dass eine Verlängerung dieses
Zustands aus politischen und kulturellen Gründen unmöglich ist. Aber
seine Schlussfolgerung ist nicht etwa die, dass die Flüchtlinge ihr
Eigentum zurückerhalten und zumindest die „internen“ Flüchtlinge die
vollwertige israelische Staatsbürgerschaft erhalten. Es gehört bis
heute zu den fundamentalen zionistischen Tabus, dass man die Wörter
„Rückkehr“, „Araber“ und „Palästinenser“ nicht in einem Zusammenhang
aussprechen darf. Dotan hatte denn auch etwas ganz anderes im Sinn:
Er wollte die vollständige Assimilation (hitbolelut) dieser
Palästinenser in den jüdischen Staat und in die israelische
Gesellschaft betreiben, indem ihre Erinnerung, ihre Identität und
ihre Kultur zerstört wird. Dotan hat den Terminus hitbolelut
ganz bewusst gewählt, der für die zionistische Bewegung eine
besondere Bedeutung hat. Denn dieser bezeichnet die Katastrophe, die
eine Rückkehr ins Land Israel unmöglich machen würde: nämlich die
Assimilation des jüdischen Volkes in der Diaspora und dadurch sein
Verschwinden. Aber eben dieses Schicksal wollte Dotan den Arabern in
Israel angedeihen lassen. In einem zweiten Memorandum warnte Dotan
vor der Gefahr, dass durch die Verlängerung des jetzigen Zustands,
die Palästinenser in Israel sich als „verfolgte nationale Minderheit
verstärkt mit der arabischen Nation identifizieren könnten“ 18 Um
dieses Risiko zu vermeiden, schlug er eine Doppelstrategie vor. Auf
der einen Seite sollte man die Araber in den Staat integrieren und
ihnen „die Tore zur Assimilation öffnen“, auf der anderen Seite
sollte man aber „all diejenigen, die unwillig oder unfähig sind,
sich dem (jüdischen) Staat anzupassen, mit aller Härte bekämpfen.“
Dotan war sich bewusst, dass eine solche Politik auf Widerspruch
stoßen würde, und er hat sich auch gleich der Gegenargumente
angenommen:
„Wie hoch ist die
Wahrscheinlichkeit, dass sich die Araber in dieser Weise
assimilieren wollen? Das ist eine berechtigte Frage. Beantwortet
werden wird sie erst durch Erfahrungen, die man machen wird. Aber
wenn man die Geschichte zu Rate zieht, dann stellt man fest, dass
Assimilationsprozesse sich schon sehr häufig im Nahen Osten
vollzogen haben.“
Dass diesem ganzen
Konzept eine koloniale Logik zugrunde liegt, wird sehr deutlich,
wenn Dotan näher erläutert, wie er denn die Zerstörung der
palästinensischen Identität erreichen will:
„Um diese Politik
umsetzen zu können, bedarf es eines entschlossenen und planvollen
Vorgehens des Staats und der jüdischen Öffentlichkeit gegenüber der
arabischen Minderheit. Die Bildung einer säkularen
jüdisch-kulturellen Missionsbewegung wäre in diesem Zusammenhang ein
wichtiges Instrument. Die Missionsbewegung würde als Botschafter des
jüdischen Volkes und des israelischen Fortschritts in den arabischen
Dörfern arbeiten. Unter keinen Umständen darf dies aber
parteipolitisch instrumentalisiert werden. Die Missionsbewegung
müsste an speziellen Schulungsstätten jüdische Berater ausbilden,
die anschließend in den arabischen Dörfern arbeiten. Das müsste dann
so ähnlich ablaufen, wie es bereits unsere Berater in den
Aufnahmecamps für die neuen Einwanderer (ma’abarot) machen oder so
wie es in Mexiko die Missionen in den indianischen Dörfern
vorgemacht haben. Diese Berater würden zusammen mit den Flüchtlingen
in die (verlassenen) Dörfer kommen und sie würden diese vom ersten
Tag ihrer Wiederansiedlung begleiten. Eine solche Beratergruppe
bestehend aus jeweils zwei bis drei Männern und Frauen für 20 oder
auch 30 Dörfer sollte ausreichen, um in den agrarischen Strukturen
Veränderungen zu bewirken. Sie müsste in dem jeweiligen Dorf wohnen,
sie müsste Hebräischunterricht erteilen, landwirtschaftliche
Beratung und medizinische Versorgung anbieten. Zudem müsste sie
insgesamt eine gesellschaftliche Orientierung geben. Sie wären die
natürlichen Vermittler zwischen dem Dorf und Behörden sowie mit der
hebräischen Gesellschaft und schließlich müssten sie aus
Sicherheitsgründen alles, was in und um das Dorf passiert, im Auge
behalten. Solch eine Mission könnte Einfluss auf die
Dorfangelegenheiten gewinnen und die Dörfer innerhalb weniger Jahre
grundlegend verändern.“
Dieser Vorschlag
Dotans stieß auf heftige Ablehnung bei Josh Palmon, Ben-Gurions
einflussreichem Berater für arabische Angelegenheiten. Palmon
plädierte für die Fortsetzung der äußerst repressiven
Militärverwaltung, der die Araber in Israel unterworfen waren. Er
tat dies in der Hoffnung, dass sich durch sie doch noch ein
„retroaktiver Transfer“ ergeben würde – sprich, dass auch die
„internen“ Flüchtlinge eines Tages nach „außen“ vertrieben werden.
Aber Dotan ließ sich von diesem Widerstand nicht beirren. In seinem
nächsten Memorandum vom 23. November 1952 warnte er davor, dass
auswärtige Mächte versucht sein könnten, eine „kulturelle Autonomie“
für die palästinensische Minderheit durchzusetzen, falls seine
Assimilierungsstrategie nicht umgesetzt wird. Der letzte Baustein in
Dotans Assimilationsgebäude zeigt noch einmal deutlich, wie sehr es
darum ging, die Erinnerung an ein arabisches Palästina auszulöschen.
So schrieb er an den Außenminister:
„Ein ganz wichtiger
Schritt wäre es, wenn wir sehr schnell die alten (antiken)
geographischen Bezeichnungen wieder verwenden und arabische
Ortsnamen hebräisieren (shi’abur). In diesem Zusammenhang wäre das
Wichtigste, die neuen Namen im tagtäglichen Gebrauch durchzusetzen.
Aber damit stoßen wir auch schon auf Probleme bei den Juden. In
Jaffa ist der Name ‚Jibaliyya‘ immer noch gebräuchlich, obwohl er
langsam durch ‚Giv’at Aliya‘ ersetzt wird. Im Unterschied dazu, hat
man noch keinen hebräischen Namen für ‚Ajami‘ gefunden und einige
neue Einwanderer nennen das arabische Wohnviertel unkorrekter Weise
das ‚Ghetto‘ oder das ‚arabische Ghetto‘. Wenn man es konsequent und
mit entsprechender Indoktrination angeht, dann ist es möglich, die
arabischen Bewohner von ‚Rami‘ im oberen Galiläa dazu zu bringen,
dass sie ihr Dorf in Schrift und Sprache ‚Ha-Rama‘ (Ramat Naftali)
nennen. Man kann auch die Einwohner von ‚Majd al-Krum‘ (ebenfalls im
Oberen Galiläa gelegen) daran gewöhnen, dass sie ihr Dorf ‚Beit
ha-Kerem‘ nennen. Von den Einwohnern des Ortes, den die Araber
‚Shafa’amer‘ (in der Nähe von Haifa) nennen, habe ich schon den
hebräisierten Namen Shefar’am gehört.“19
Dotan hat sein
zweites Memorandum als die „Endgültige Lösung des
Flüchtlingsproblems in Israel“ beschrieben. Es fällt auf, wie
leichtfertig dieser Begriff benutzt wird. Hier liegen die
historischen Wurzeln für jenes obsessive Beharren darauf, dass es
für die Palästinenser kein Recht auf Rückkehr geben kann. Diese
Position findet heute in der israelischen Politik den breitesten
Rückhalt. Der Konsens ist hier noch größer als bei der Frage, ob
Jerusalem wieder geteilt werden soll. Dies erklärt auch, weshalb der
Rückzug aus den 1967 besetzten Gebieten und die Aufgabe der
Siedlungen, tatsächlich von vielen grotesker Weise als schmerzlicher
Kompromiss betrachtet wird.
Gabriel Piterberg,
University of California, Los Angeles (UCLA), Department of History.
Wir danken dem Autor für die
Überlassung seines Beitrags. "Erasures," erschien zum ersten Mal in
New Left Review, 10 (July-August 2001).
Aus dem Englischen von
Johannes Berger.
1 Dieser Artikel basiert auf einem
längeren Aufsatz mit dem Titel ‘Can The Subaltern
Remember? A
Pessimistic View of the Victims of Zionism’, der in Ussama Makdisi /
Paul Silverstein (Hg.) Memory and Violence in the Middle East and
North Africa, Bloomington, 2006 erschienen ist..Meine Interpretation
dieser grundlegenden Mythen wird geprägt durch die Lektüre von Boas
Evron, National Reckoning [Hebräisch], 1986; Yitzhak Laor,
Narratives with no Natives: Essays on Israeli Literature
[Hebräisch], 1995; David Myers, Re-Inventing the Jewish Past,
Oxford 1995; Amnon Raz-Krakotzkin, ‘Exile within Sovereignty’
[Hebräisch], 2Teile, Theory and Criticism, 4, 1993, S. 23–56
und 5, 1994, S. 113–32.
2 Zeev Sternhell, The
Founding Myths of
Israel,
Princeton 1998, pp. 3–47.
3 Benny Morris, Birth
of the Palestinian Refugee Problem, 1947-49, Cambrigde 1987. pp.
203–12.
4 Haya Bombaji-Sasportas,
‘Whose Voice is Heard/Whose Voice is Silenced: the Construction of
the Palestinian Refugee Problem in the Israeli Establishment,
1948–52’, unveröffentlichte MA Thesis, 2000.
Ich bin der Autorin sehr dankbar dafür,
dass sie mir die Dokumente zugänglich gemacht hat.
5 Yigal Elam, The
Executors (Hebräisch), 1990, p. 31.
6 Vgl. Morris, 1948 and
After, pp. 89–144.
7 Vgl. Bombaji-Sasportas,
‘Whose Voice..., S. 17–22; Joel Beinin, ‘Know
Thy Enemy, Know Thy Ally’,
in Ilan Pappé, ed., Arabs and Jews during the Mandate
[Hebrew], 1995, S.
179–201; Gil Eyal, ‘Between East and West: The Discourse on
“the Arab Village” in
Israel’ [ Hebräisch], Theory and Criticism, 3, 1993, pp.
39–55; Dan Rabinovich, Anthropology and the Palestinians [Hebräisch
], 1998.
8 Bombaji-Sasportas,
‘Whose Voice..., pp. 31–3.
9 SA/FO/CMDG, 3/2445. Dort vor allem
Dokumente zum Zeitraum zwischen August und November 1948.
10 Der Vergleich zwischen der
offiziellen Darstellung und den vertraulichen Unterlagen aus dieser
Zeit legt eine bewusste Irreführung sehr nahe. Yaacov Shimoi, ein
hoher Funktionär in dieser Zeit, gestand 1989 ein, dass eine
„bewusst falsche Version“ fabriziert wurde.
11 Zvi Yavetz, ‘On the
First Days of Tel Aviv University: Memories’, Alpayim, 11,
1995, pp. 101–29.
12 Vgl. Morris, Birth
of ...p. 133. Golda Meir,
Übersetzung von G. Piterberg. Sie basiert auf der hebräischen
Ausgabe von 1991 (Seite 185).
13 Über Shamai Kahane, vgl.
Bombaji-Sasportas, S. 100, 119 und 163–8.
14 SA/FO/CMDG 18/2402.
15 SA/FO/CMDG 18/2406.
Das Komitee war im Zusammenhang
mit der UN-Resolution 194 gegründet worden (Red.)
16 SA/FO/CMDG 19/4222, Bd.
II.
17 SA/FO/A/2/2445 (a-948 II).
18 SA/FO/CMDG 2/2445 A (a-948
II).
19 Zit.
nach Yitzhak Laor, Narratives with no Natives, S. 132.
Laors kritische
Arbeit ist der bislang beste Versuch zu zeigen, wie das literarische
Establishment vom israelischen Staat dazu gebracht wurde, eine
hegemonial wirkende Darstellung zu schreiben, die die Erinnerung der
Palästinenser völlig ausblendet.
Vgl
besonders zu Amos Oz ‘The Sex Life of the Security Forces: and ‘We
Write Thee Oh Homeland’, S. 76–105, 115–71.
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