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Heute geht es nur noch ums Überleben

 Frauen in Palästina – Interview mit Sara Roy, 6.Juni 2008  (Österreich Magazin Südwind)
Elisabeth Kasbauer, Direktorin der „Women without Borders“ spricht mit Dr. Sara Roy, Harvard University,

 

Dr. Sara Roy ist Professorin am Zentrum für Nahost-Studien an der Harvard. Sie hat die politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung Palästinas seit 1985 untersucht. Als Tochter von Holocaustüberlebenden wuchs sie in einer Umgebung auf, für die die Lehren aus dem Holocaust eine moralische Verpflichtung ist. Sie ist davon überzeugt, dass diese Lektion für alle Gemeinschaften gilt.

 

E.Kasbauer sprach mit ihr über den Alltag der Frauen auf der Westbank und in Gaza, über die selektive Verteilung der Entwicklungshilfe und die Hoffnungslosigkeit in der Region. Roy war nach Wien ins Wiener  Institut für Dialog und Zusammenarbeit eingeladen worden.

 

E.K. : Wenn man  sich den Israel-Palästina-Konflikt näher ansieht, ist es wegen seiner Komplexität sehr schwierig, wo man bei ihm beginnen soll. Die Frauen sind dabei besonders betroffen.

S.R. : Die Situation im Gazastreifen und auf der Westbank (WB)  ist im Augenblick sehr prekär. Die Frauen leiden auf  viele Weisen: Arbeitslosigkeit, zerbrochene Familien,  es ist unmöglich, die richtige Ernährung zu beschaffen, Mangel an Gesundheitsversorgung, eingeschränkte Bewegungsfreiheit -  die Liste ist sehr lang. Die Frauen sind interner und externer Unterdrückung ausgesetzt. Während des Oslo-Prozesses gab es eine Reihe starker und engagierter Frauen und es gab viele Ministerinnen.

E.K. : Gehört diese Periode der Hoffnung der Vergangenheit an?

Roy: Es war eine Periode der Möglichkeiten, die nun vorüber ist. Heute geht es nur noch ums nackte Überleben. Die primäre Rolle der Frau ist es, die Familie zusammen zu halten und in einer zerstörerischen Umgebung den Anschein von Normalität zu bewahren. Die Frauen müssen dafür sorgen, dass die Familien überleben – und das bringt uns zum Ausgangspunkt.

E.K.: demographisch gesprochen, ist die Bevölkerung  der WB und im Gazastreifen sehr jung.

Roy:  Im Gazastreifen ist die Wachstumsrate eine der höchsten in der Welt. Ich habe viel Zeit in den Flüchtlingslagern verbracht. Dort gibt es keine Privatsphäre. Ein enormer Druck liegt auf der ganzen Gemeinschaft, besonders auf den Frauen. Ich war so erschrocken über die Bevölkerungsdichte, den Mangel an Privatsphäre und den Mangel des Gefühls, an sich selbst zu denken. Es ist so, als ob  das Denken an sich als einem menschlichen Wesen oder als Frau egoistisch und illegitim sei. Und jetzt ist es noch schlimmer, weil die Anforderungen noch viel extremer sind. Was bereitet einer palästinensischen Mutter die größte Sorge: die Kinder satt zu bekommen, dass sie auf dem Schulweg nicht erschossen werden , dass sie gesund bleiben …

Wenn man schwanger ist, muss  man sehen, wie man in ein Krankenhaus kommt, damit das Baby gesund entbunden wird. Doch die Hausgeburten  nehmen immer mehr zu , weil viele Frauen wegen der Straßensperren und Checkpoints nicht mehr rechtzeitig das Krankenhaus erreichen können.

 

EK: Entwicklungsprogramme waren immer aktiv in dieser Region. Wie ist das im Augenblick?

Roy:  Es gibt im Augenblick tatsächlich keine Entwicklungshilfe, schon gar nicht im Gazastreifen . Die meiste Hilfe ist humanitärer Art und reagiert auf Notrufe. Und der größte Teil dieser Fonds werden als Schadenersatz verwendet (?) . Das ist einer der großen Unterschiede bei Entwicklungs- und wirtschaftlichen  Systemen heute. Und Entwicklung als  Ziel war in diesem Teil der Welt aus politischen Gründen immer äußerst problematisch. Israel hat Entwicklung immer gegängelt, ja, ausgeschlossen. Wirtschaftliches Wachstum würde auch politische Ermächtigung bedeuten, und das steht einfach nicht auf der Agenda.

Hilfe wurde nur auf sehr selektive Weise zugestanden – sogar humanitäre Hilfe. Meiner Meinung nach ist hier die USA vor allem schuld, aber auch die EU, die mit dem Programm einverstanden ist. US-AID würde keine Gemeinde unterstützen, egal wie verzweifelt sie Hilfe benötigt, wenn  man annimmt, dass sie von der Hamas geführt wird. Es ist keine Frage der Entwicklung oder der Veränderung, es ist nur noch eine Frage der Kontrolle.

 

EK: Wie ist es möglich, dass die palästinensische Bevölkerung als Geisel der Politik gehalten wird, während die ganze Welt zusieht.

Roy: Es geht immer um Macht . Es waren nicht nur die Israelis, die Amerikaner oder die internationale Gemeinschaft, die sich nicht in sinnvoller Weise an die palästinensische Gesellschaft wandten; auch die palästinensische Führung selbst unter Arafat versuchte, die zivile Gesellschaft an den Rand zu drängen. Wenn man einer Gesellschaft Macht gibt, schafft man ein Potential, das die eigene Herrschaft bedroht.

EK: Gibt es Hoffnung am Horizont?  Yossi Beilin, der Führer der linken Meretz-Jachad-Partei sagte vor kurzem: „Wir müssen akzeptieren, dass Israel geteilt werden wird, und dann werden wir Frieden haben.

Roy: das ist die große Frage. Der Status quo ist fürchterlich für die Palästinenser, aber auch für die Israelis. Wenn die Situation nicht in einer Weise gelöst wird, dass beide Völker friedlich leben können – friedlich zusammen leben können – dann wird es noch mehr Gewalt geben.

 

Historisch gesehen sollten die Palästinenser  die Bedingungen annehmen, die ihnen Israel und die USA  zur Konfliktlösung vorgaben. Aber die Palästinenser haben ihre Lektion gelernt: nun sagen sie: verhandelt mit uns als Menschen, auf gleicher Augenhöhe, und wir werden uns mit Israel engagieren. Sie sind bereit, mit Israel im Frieden zu leben, wollen aber keine Vorbedingungen, vorläufige Vereinbarungen oder vertrauensbildende Maßnahmen. Sie verlangen jetzt Gegenleistungen und gegenseitige Anerkennung. Deshalb hat Hamas so große Unterstützung. Hamas vertritt die einzige Lösung, die politische Lösung, die dem Westen, Israel und der internationalen Gemeinschaft stand hält und sagt: wir sind bereit, mit euch zu verhandeln, aber unter der Bedingung, dass wir gemeinsam entscheiden, nicht unter Bedingungen, die ihr uns auferlegt.

 

EK: das ist eine sensible und international kontroverse Frage.

Roy: was wäre die Alternative? Die Palästinenser sind bereit, für die Freiheit und für Menschlichkeit zu sterben. Sie haben keine Angst mehr vor der Militärmacht Israel. Sie glauben, dass sie nichts mehr zu verlieren haben.

EK:  Viele dieser Region haben nie etwas anderes gekannt als Krieg, Zerstörung und Gewalt.

Roy: Die Arbeitslosigkeit liegt im Gazastreifen bei etwa 40%. Palästinenser können nicht mehr in Israel arbeiten. Man hat sie durch Arbeiter aus Asien und Rumänien ersetzt. Ich hoffe, dass beiden Seiten klar ist, wie irrational die Situation ist. Ich finde die Situation auch persönlich verzweifelt. Ich bin jüdisch und meine Familie lebt hier. Es ist ein Teil der Welt, in der ich lange gelebt habe , persönlich und beruflich. Ich habe nie eine solche Hoffnungslosigkeit gefühlt wie jetzt. Dies trifft auch auf meine palästinensischen Freunde und Kollegen zu, auch unter meinen israelischen Freunden und Kollegen.

 

Da scheint keine Lösung in Sicht. Meine Hoffnung war immer die gewesen, dass die internationale Gemeinschaft  sich mehr einbringen würde, weil sie es in der Vergangenheit getan hat. Aber jetzt hat die EU den Standpunkt der USA übernommen und ihre historische Rolle in diesem Konflikt aufgegeben. Ich frage mich also, was werden wir nun tun?  …

 

EK: Sie haben  sich mit diesem Thema während ihrer ganzen akademischen Karriere beschäftigt. Viele fragen: welchen Sinn haben diese Untersuchungen?

Roy: Ja , diese Frage wird mir oft gestellt. Für mich persönlich war der Zweck meiner Untersuchungen, einen Gegen-Diskurs, ein Gegen-Narrativ und ein Gegen-Modell  zu dem zu geben, das man uns vorlegt. Mein Gedanke war immer der, die Leute zu erziehen und ein anderes Paradigma zu diesem Thema zu geben. Ich möchte den Leuten eines Tages sagen: „Ihr könnt nicht sagen, wir haben nichts gewusst. Wir wussten.“ Es gab genügend Informationen.

 

(dt. und etwas gekürzt und zuweilen etwas freier übersetzt:   Ellen Rohlfs)

 

 

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