Von der militärischen Zensur
bis zur Entscheidung der Regierung, wer ein
Journalist ist und wer nicht, verwenden die
israelischen Behörden verschiedene
Instrumente, um in (die Arbeit) der Presse
einzugreifen. Eine wichtige Aufklärung für
unsere Leser.
Als vor mehr als fünf Jahren
das 972 Magazin von einer Gruppe von
Journalisten und Bloggern aufgebaut wurde,
beschlossen seine Gründer, dass die Seite
keine redaktionelle Ausrichtung oder
politische Agenda haben sollte außer einem
gemeinsamen Nenner, auf den sich jeder
verpflichten wollte: Menschenrechte,
Opposition zur Besatzung und
Informationsfreiheit.
Die ersten beiden Werte sind
beinahe für jeden, der durch das 972 Magazin
stolpert und sicher für jeden regelmäßigen
Leser einleuchtend. Der dritte Wert zeigt
sich in erster Linie hinter den Kulissen,
obwohl er in seinem Kern selbst Journalismus
ist.
Gegen Ende des letzten Monats
sandte das Facebook-Konto von
IDF-Chef-Zensorin Col. Ariella Ben Avraham
eine Botschaft an +972 Magazin und (ebenso
an) dutzende von Nachrichtenseiten neuer
Medien, Blogs und Facebook-Konten und
beschrieb genau "die Verpflichtung, dem
Zensor (zur vorherigen Prüfung)
Sicherheitsrelevante Artikel vorzulegen".
Col. Ben Avraham, die den
Posten des Chef-Militärzensors übernommen
hat, erweitert scheinbar die Prioritäten
ihres Büros und nimmt eine neue aggressive
Linie gegen neue Kanäle und Social Media
auf.
Vor diesem Artikel hat +972
in fünf Jahren Veröffentlichungen nie
irgendetwas dem IDF Zensor vorgelegt;
allerdings haben wir auch Material von
anderen Seiten veröffentlicht, das von
Zensor geprüft worden war.
Nach einer Beratung mit einem
Anwalt (sehen wir), dass wir zur Zeit keine
andere Wahl haben als in Zukunft bestimmte
Artikel vor ihrer Veröffentlichung dem
Militärzensor vorzulegen. Es ist uns auch
verboten, die ganze Liste der Themen zu
veröffentlichen, die zur Zensur vorgelegt
werden; dazu gehört alles über die
Ausrüstung der Armee, die in der Westbank
verwendet wird, Truppenbewegungen,
Raketenangriffe, die Identität hochrangiger
Sicherheitsbeamter sowie gewisse
Informationen über nationale Infrastruktur.
Falls und wenn der IDF Zensor
Änderungen an einem unserer Artikel fordert,
wird es uns verboten sein, Ihnen, unseren
Lesern zu berichten, wann und wo wir
zensiert worden sind. Und während wir unsere
rechtliche Verpflichtung, bestimmte Artikel
zur vorherigen Prüfung vorzulegen,
widerwillig akzeptieren, planen wir uns
gegen alle Versuche, uns tatsächlich zu
zensieren, mit allen Mitteln zur Wehr zu
setzen.
Ein Dauernotstand -
Der israelische
Militärzensor leitet seine Autorität von den
Notstandsverordnungen ab, die seit mehr als
70 Jahren gelten und aus der Zeit des
Britischen Mandats stammen.
Während andere Länder formale
Mechanismen dafür haben, Journalisten
aufzufordern, von der Veröffentlichung
bestimmter Informationen, die die nationale
Sicherheit betreffen, Abstand zu nehmen, ist
Israel unter den westlichen demokratischen
Staaten fast der einzige, der einen
rechtlich bindenden staatlichen Zensor hat.
Nirgendwo sonst muss Berichtsmaterial zur
Prüfung vorgelegt werden.
Zensur hat es in Israel aber
immer gegeben – ein Tatbestand, der effektiv
und möglich war, solange es um eine
begrenzte Zahl von Zeitungen und
Sendeanstalten ging, die zensiert werden
mussten.
Als die Anfänge des
Internet-Zeitalters die Einstiegsbarrieren
in den Journalismus und die
Massenverbreitung von Information
herabsetzten, geriet die Praxis der
staatlichen Zensur oft in den Bereich des
Absurden. In traditionellen Medien zensierte
Informationen sind gleichzeitig auf privaten
Blogs, auf Social Media und in Übersee auf
Nachrichtenkanälen für jeden mit einem
Internetanschluss zugänglich.
Einer der aberwitzigsten Fälle der letzten
Jahre war die geheime Festnahme des
Whistleblowers Anat Kamm, die Monate lang
ein offenes Geheimnis war, bis Journalisten,
Blogger und normale Bürger die Geduld
verloren. Die lächerliche Leichtigkeit den
Zensor zu umgehen (oder in diesem Fall einen
Maulkorberlass – mehr dazu später), wurde
irgendwann für jeden offensichtlich, der
durch Tel Aviv spazierte, wo er auf den
großen Boulevards Graffitti finden und lesen
konnte: "Google 'Anat Kamm'" (siehe Foto
im Originaltext).
Die frühere Zensorin, die
ihre 10-jährige Amtsperiode Ende 2015
beendet hat, hatte kein Geheimnis aus ihrem
Wunsch gemacht, der ganze Apparat möge
unmodern werden zugunsten eines mehr
freiwilligen – und zivilen – Systems, das
Israel anderen demokratischen Ländern
angleichen würde. Die Vorstellung, die die
neue Zensorin hat, ist scheinbar diametral
entgegengesetzt.
Auf Anfrage von +972 erklärte
der IDF Zensor, dass es keinen
Strategiewechsel gegeben habe, und dass
individuelle Blogger in der Vergangenheit
Inhalte vorgelegt hätten. Nach ihren
Kriterien für die präventive Kontaktaufnahme
mit Bloggern und Social Media Konten, um die
Einhaltung der Regeln zu verlangen, befragt,
weigerte sich die Zensorin, dies weiter
auszuführen. Ein Blogger, der von der
Zensorin nicht kontaktiert worden war,
beschloss kürzlich, es zu versuchen und
einen Artikel vorzulegen. Es wurde ihm
gesagt, "er solle sich darüber keine Sorgen
machen", was die Frage aufwirft, an wen
tatsächlich ein Brief wegen der Einhaltung
der Zensur-Bestimmungen geschickt worden
war.
Geheime Geheimnisse sind
kein Spaß - Die größte Bedrohung der Demokratie durch
die Zensur ist, dass sie die Möglichkeiten
der Presse als Wachhund über die Regierung
und die, die auf andere Weise unser Leben
kontrollieren, zu arbeiten, begrenzt.
Staatliche Sicherheitsbehörden, die
Regierung und einzelne Politiker haben oft
Interessen, die im Widerspruch zum Interesse
der Öffentlichkeit stehen können, und eine
unabhängige Presse arbeitet als eine
Kontrolle der staatlichen Macht.
Staaten können aber legitime
Geheimnisse haben. Genau darum schreiben die
Regeln der journalistischen Ethik und
Verantwortlichkeit vor, dass Reporter und
Herausgeber immer das öffentliche Interesse
an der Information gegen den potentiellen
Schaden, der durch die Veröffentlichung
entstehen kann, abwägen müssen. Das Problem
mit der vorherigen Einschränkung und der
staatlichen Zensur ist, dass der Staat, und
der Staat allein, entscheiden darf, was im
öffentlichen Interesse ist. Wenn der
Entscheidungsprozess einseitig ist, werden
die Bedingungen für Machtmissbrauch,
Korruption, Unterdrückung und Vertuschung
aller oben genannten Dinge reif.
Solche Befürchtungen sind
nicht unbegründet, und sicher nicht in
Israel. Der ungeheuerlichste Fall, bei dem
der IDF Zensor bei einer – uns bekannten -
Vertuschung durch die Regierung mitmachte,
war die Affäre von Bus 300, bei der
Sicherheitsbeamte den Zensor benutzten, um
außergerichtliche Tötungen zu vertuschen.
Übrigens ging es auch bei der Affäre Anat
Kamm um außergerichtliche Tötungen.
Die Auslandspresse -
Die Ironie des
israelischen Zensursystems besteht darin,
dass vieles an zensierter Information früher
oder später nach außen gelangt (Gefangener
X, Anat Kamm, Bus 300, die Lavon Affaire,
Israels Atomwaffenprogramm – "von der
Auslandspresse veröffentlicht" usw. usw.)
Der größte Teil der
israelischen Presse kommt seinen
Verpflichtungen mit dem IDF Zensor nach,
aber ein bedeutender Teil der Auslandspresse
tut das nicht.
Während größere
internationale Nachrichtenagenturen und
online-Dienste Sicherheitsrelevante Artikel
dem IDF Zensor zur Genehmigung vorlegen,
machen andere, was The New York Times "frage
nicht/hoffe, dass sie nicht auf dich
zukommen" nennt und ignoriere die rechtliche
Verpflichtung, obwohl auch das nicht
eindeutig (sicher) ist..
Auf die Frage, ob die
Zensurbestimmungen gegenüber der in Israel
arbeitenden Auslandspresse verstärkt
durchgesetzt werden, behauptete eine
Vertreterin des IDF-Zensors, die
Auslandspresse würde bereits den
Bestimmungen nachkommen. Auf die Frage nach
denen, die das nicht tun, antwortete sie,
dass der IDF Zensor bei der Polizei
Beschwerde einreichen "kann", weigerte sich
aber zu sagen, ob ein solcher Schritt in den
letzten Jahren unternommen wurde. "Wir
arbeiten in einem demokratischen Land, wir
kennen die Grenzen unserer Macht", fügte sie
hinzu.
Nachdem Israel (nach unserem
besten Wissen) in den letzten Jahren keine
Journalisten wegen Verletzung der
Zensurbestimmungen belangt hat, hat die
Regierung andere Möglichkeiten die Beachtung
der Bestimmungen durchzusetzen.
"Du kannst in diesem Land
nicht ohne eine Karte des Pressebüros der
Regierung arbeiten", sagte der Präsident der
Foreign Press Association gegenüber +972,
"und du kannst keine Karte des Pressebüros
der Regierung bekommen, ohne eine
Einverständniserklärung zu unterschreiben,
dass du dich verpflichtest, die
Zensurbestimmungen zu beachten".
Die Regierung entscheidet,
wer Journalist ist -
Die Regierung hat
verschiedene Möglichkeiten Einfluss darauf
zu nehmen, über welche Information berichtet
wird, wie über sie berichtet wird, und wer
sie über das Pressebüro der Regierung
berichten kann. (Anmerkung: Um eine Zeitung
in Israel herauszugeben, braucht man eine
Genehmigung des Innenministeriums. In den
letzten 10 Jahren wurde die Ausstellung
(solcher Genehmigungen) in 62 Fällen
verweigert.
Mit einer Karte des
Pressebüros der Regierung haben Journalisten
Zugang zu offiziellen Veranstaltungen, zum
Schauplatz berichtenswerter Vorfälle; sie
ist oft die Voraussetzung für eine
Zusammenarbeit mit offiziellen Sprechern und
bietet Schutz vor Festnahmen, wenn über
Proteste berichtet wird/Aufnahmen gemacht
werden. Mit anderen Worten, die
Akkreditierung bei der Regierung macht die
Berichterstattung sicherer und effektiver.
(Ausländische Journalisten müssen die
Unterstützung des Pressbüros der Regierung
haben, um überhaupt ein Visum für die Arbeit
in Israel zu bekommen.)
Indem es sich selbst die
Befugnis erteilt zu entscheiden, wer ein
rechtmäßiger Journalist ist, kann das
Pressebüro der Regierung (das als Teil des
Büros des Premierministers arbeitet) auch
entscheiden, wer kein rechtmäßiger
Journalist ist.
Und da jede Entscheidung, die
von Bürokraten der Regierung getroffen wird,
die Politkern unterstellt sind, können
solche Entscheidungen bisweilen von
politischen Überlegungen gesteuert werden.
Das stimmte so für die
Vergangenheit und (ebenso) unter der
derzeitigen Regierung. Es ist für
Journalisten ziemlich üblich sich für die
Sicherung und die Erneuerung ihrer
Akkreditierung einen Anwalt zu nehmen.
Anfang dieses Monats sagte der Direktor des
Pressebüros der Regierung, Nizan Chen, er
überlege den Widerruf von
Pressebeglaubigungen von Journalisten, die
Artikel verfassen, deren Überschriften ihm
nicht gefallen.
(+972 kämpft seit Jahren um
die Akkreditierung bei dem Pressebüro der
Regierung als anerkannte, das heißt
rechtmäßige (legitimierte)
Nachrichtenorganisation.)
Das Pressebüro der Regierung
ist aber nicht nur mit der Akkreditierung
und dem Kontakt zu Journalisten beauftragt.
Es ist auch ein politisches Propagandaorgan
der israelischen Regierung. Laut einem
Bericht der Knesset vom Dezember 2014 über
die Arbeit der offiziellen Hasbara
(Propaganda) "bemüht sich das Pressebüro der
Regierung die Hasbara des Staates Israel in
seiner Arbeit mit der ausländischen Presse
zu fördern", eine Arbeit, für die es
zwischen 2010 und 2014 36,5 Millionen NIS
ausgegeben hat.
Man kann sich die Risiken
politischer Intervention und
Interessenskonflikte vorstellen, wenn eine
Regierungsorganisation, die mit der Streuung
von Propaganda beauftragt ist, auch für die
Akkreditierung von Journalisten zuständig
ist, die gegenüber der Politik des Staates
kritisch sein könnten.
Maulkorberlasse -
Eine andere Methode, mit
der Israel die Informationsfreiheit und die
Arbeit informierter Organisationenbehindert, sind Maulkorberlasse.
Der IDF-Zensor könnte danach
trachten, seine Reichweite und Autorität in
die sozialen und die neuen Medien
auszuweiten, aber er ist im Lauf der Jahre
tatsächlich etwas scheuer geworden. Für den
größten Teil hat der IDF-Zensor die Schwelle
dafür, was zu zensieren er bereit ist,
angehoben und beschränkt seine Intervention
weitgehend auf Informationen, die seiner
Meinung nach eine "drohende und unmittelbare
Gefahr" für die Sicherheit des Staates
darstellen könnten.
In Reaktion darauf haben
israelische Sicherheitsagenturen – von der
zivilen Polizei über den Shin Bet, die Armee
bis zum Mossad – die Gerichte immer häufiger
gebeten anzutreten und als Wächter ihrer
Geheimnisse zu handeln.
Heute, 2016, erhalten
Journalisten und Herausgeber mindestens
einmal pro Woche einen Maulkorberlass per
E-mail, Fax und jetzt sogar per WhatsApp.
Anders als der Militärzensor, der im
allgemeinen nur die sensibelsten Details
zensieren oder verlangen wird, eine
spezifische Wortwahl in einem Bericht zu
ändern, können Maulkorberlasse des Gerichts
umfassend sein, die Veröffentlichung aller
Details einer Angelegenheit verhindern und
oft die Existenz selbst eines
Maulkorberlasses verbergen.
Und anders als bei
Verhandlungen mit dem IDF-Zensor, gibt es
generell keinen Vertreter der Presse (der
das öffentliche Interesse vertritt), der
gegen die Ausstellung eines Maulkorberlasses
argumentiert.
Selbstzensur -
Aber die problematischste
Art, in der der Staat Informationen
kontrolliert, die die Öffentlichkeit
erreichen (können), ist die eine Methode,
mit der er eigentlich die geringste
Kontrolle ausübt: die Selbstzensur.
In einem Medienmilieu, das
nie ohne verschiedene Formen akzeptierter
staatlicher Intervention und Zensur
existiert hat, beginnt die Presse
schließlich Selbstzensur zu üben. Und das
ist der gefährlichste Standort, den wir
erreichen können. Bei +972 verpflichten wir
uns wachsam zu sein und nicht zuzulassen,
dass Selbstzensur unsere Berichterstattung
und Schreiben beeinflusst.
Die palästinensische
Presse - Aber
alles, was bisher hier erwähnt wurde, ist
nichts im Vergleich mit dem Umfang und
Ausmaß der israelischen Restriktionen und
Rechtsverletzungen gegenüber der
palästinensischen Presse – sowohl innerhalb
von Israel als auch in den besetzten
Gebieten.
Im letzten Jahr haben die
israelischen Behörden zahlreiche
arabisch-sprachige Zeitungen und
Publikationen in Israel, die mit der
Islamischen Bewegung in Verbindung gebracht
werden, geschlossen. Andere Publikationen
sind einer genauen Überprüfung durch die
Geheimdienste und Sicherheitskräfte
unterworfen.
In den besetzten Gebieten
schließt das israelische Militär regelmäßig
Medien(kanäle) und zerstört und konfisziert
journalistische Ausrüstung und
Rundfunk-Equipment. Journalisten berichten,
dass sie das Ziel von Militär-Gewalt waren.
Israelische Blogger mögen
verpflichtet sein, den Facebook-Status für
die Zensur vorzulegen, Palästinenser werden
aber für Veröffentlichungen in Social Media
verhaftet. Der palästinensische Reporter
Muhammad al-Qiq befindet sich derzeit in
Todesnähe auf Grund eines langen
Hungerstreiks gegen seine Administrativhaft
– eine Praxis, die Israel anwendet, um
Palästinenser ohne Anklage oder Prozess zu
inhaftieren.
Israel schränkt auch die
Bewegungsmöglichkeiten palästinensischer
Journalisten massiv ein. Während eine Karte
des Pressebüros der Regierung israelischen
Journalisten erlaubt, frei militärische
Checkpoints zu passieren und sogar Gebiete
der Westbank zu betreten, in die ein
jüdischer Israeli keinen Fuß setzen darf,
hat das Pressebüro der Regierung schon vor
langen aufgehört, Pressekarten an
palästinensische Journalisten auszugeben.
Palästinensische Journalisten
haben nicht die gleiche Bewegungsfreiheit
wie ihre israelischen Kollegen, und Reporter
mit arabischer Herkunft haben regelmäßig
berichtet, dass sie mit diskriminierenden
Leibesvisitationen gedemütigt worden sind
sowie mit zeitlichen Verzögerungen, wenn es
um offizielle Veranstaltungen ging, zu denen
sie eingeladen waren.
Israel liegt auf dem Index
für Weltpressefreiheit der Reporter ohne
Grenzen vom vergangenen Jahr an 101. Stelle,
weitgehend wegen seiner Unterdrückung der
Pressefreiheit bei Palästinensern.
Man muss es gar nicht
erwähnen, dass diese Behandlung, der
Palästinenser ausgesetzt sind, viel
schlimmer ist als die durch die
Palästinensische Autonomiebehörde und die
Hamas.