Mord an Arafat
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Uri Avnery - Während
ich dies schreibe, ist Arafat noch am Leben. Aber sein Leben hängt an
einem seidenen Faden. Als wir ihn das letzte Mal in seinem
ausgebombten Mukata'ah Gebäudekomplex in Ramallah besuchten, warnte
ich ihn davor, dass Sharon sich vorgenommen hat, ihn zu töten.
Jeder, der Sharon kennt, weiß, dass er niemals etwas aufgeben wird.
Wenn er sein Ziel nicht beim ersten Mal erreicht, dann wird er es
immer und immer wieder versuchen. Niemals wird er aufgeben.
Schon im belagerten Beirut, auf dem Höhepunkt des Libanonkrieges,
versuchte Sharon, seine Hand an ihn zu legen. Dutzende von Agenten,
meist libanesische Phalangisten, durchkämmten die westlichen Viertel,
um ihn zu fangen. Er ist ihnen entkommen, wie er Dutzenden von
Mordversuchen vorher und nachher entkommen ist, u.a.. auch Abu Nidal,
(der wenigstens teilweise ein Mossadmietling war)
Nun glaubt Sharon, dass er seinem Ziel sehr nahe ist. Er braucht nur
noch Bushs Zustimmung. Nicht unbedingt eine offizielle Bestätigung.
Eine kleine Andeutung genügt, ein halbes Wort, ein Wink.
Es wird einfach sein, die Entscheidung auszuführen. Ein Unfall kann
inszeniert werden: Soldaten betreten das Dienstgebäude, um "gewünschte
Personen" gefangen zu nehmen, irgend jemand wird das Feuer eröffnen,
Arafat wird "aus Versehen" getroffen. Arafat zieht seine Pistole,
Soldaten werden "keine andere Wahl" haben als zurückzuschießen. Eine
Granate mag versehentlich das Gebäude treffen, Arafat wird unter den
Trümmern begraben. Im Krieg geschehen schließlich Unfälle, eine Menge
Unfälle.
Sharon wollte Arafat niemals nach Gaza oder an irgend einen andern Ort
in dieser Welt "deportieren". Er will ihn in die andere Welt
befördern. Jetzt wäre das möglich.
Deshalb ist es nötig, dies klar und deutlich auszusprechen:
Moralisch ist der Mord an Arafat, dem historischen und gewählten
Präsidenten des palästinensischen Volkes, abscheulich. Genau wie der
Mord an Rabin.
Juristisch gesehen ist der Mord an Arafat ein Kriegsverbrechen.
Politisch gesehen, kann über den Mord an Arafat mit einem
französischen Staatsmann über einen anderen politischen Mord gesagt
werden: "Es ist schlimmer als ein Verbrechen, es ist ein Fehler!"
Es war Arafat, der vor 28 Jahren entschied, den Weg der Verhandlungen
mit Israel zu beschreiten, um diesen Weg der nationalen Hoffnungen für
das palästinensische Volk zu verwirklichen. In jener Zeit war das eine
unglaublich kühne Entscheidung und er befasste sich damit schon lange,
bevor Rabin und Peres überhaupt von Oslo träumten. Ich weiß es; denn
ich war ein Augenzeuge des Prozessbeginns.
Seit damals hat Arafat nicht im geringsten diese Entscheidung
abgewandelt: er suchte Versöhnung mit Israel innerhalb eines
Friedensabkommens, das einen unabhängigen palästinensischen Staat
einschließt, innerhalb der Grenzen von 1967 mit kleinen gegenseitig
abgesprochenen Korrekturen, Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten,
Abzug der Siedler, geeignete Sicherheitsmaßnahmen, eine Lösung für das
Flüchtlingsproblem in gegenseitigem Einvernehmen.
Auf dieser Basis wäre sogar jetzt Frieden möglich. Und zwar sofort.
Aber Sharon weist dies mit beiden Fäusten zurück. Er wünscht ein
"Groß-Israel", die Ausdehnung der Siedlungen und schließlich die
Eliminierung der palästinensischen Präsenz westlich des Jordan.
Die Behauptung Ehud Baraks, dass Arafat seinen eigenen Friedensplan
zurückgewiesen habe, ist eine eklatante Lüge, die ein historisches
Unglück verursachte.
Baraks "großzügige Angebote" waren weit entfernt von dieser
vernünftigen Lösung.
Wie früher ist Arafat auch jetzt die einzige Person, die in der Lage
ist, ein Friedensabkommen zu unterzeichnen und sein Volk davon zu
überzeugen, dies zu akzeptieren und zu erfüllen. Kein anderer
palästinensischer Führer ist am Horizont in Sicht, der fähig wäre,
dies zu tun. Die Führung des palästinensischen Volkes wird nicht in
die Hände von "Gemäßigten" gehen, die man wie Kollaborateure oder wie
Komplizen der Mörder betrachten würde, sondern in die Hände der
Extremisten oder Fanatiker, die es nach Rache gelüstet.
Der Mord an Arafat wäre gleichzeitig
der Mord an allen Friedenschancen.
Dies wäre ein Verbrechen gegenüber dem israelischen Volk: es würde uns
über Jahrzehnte hinweg zu Kriegen verurteilen, vielleicht
generationenlang, vielleicht auf immer. Der moralische, soziale und
wirtschaftliche Niedergang, den wir gerade überall in Israel erleben,
wird Israel in noch größere Tiefen ziehen und die Auswanderung vieler
bewirken.
Der tote Arafat wird für sein Volk eine Legende des Heldentums werden
und ein neuer Che Guevara für die Welt. Seine Fehler wird man
vergessen. Für zukünftige palästinensische Generationen wird er ein
Vorbildmodell werden. Hundertmillionen von Arabern und Muslimen von
Marokko bis Indonesien werden ihre eigenen Führer mit dem toten Arafat
vergleichen und der Vergleich wird verhängnisvoll sein.
In den Augen dieser Hundertmillionen werden Israel und die Juden ein
Synonym für Betrug, Mord und Lüge sein. Die Giftpflanze des
Antisemitismus wird wie nie zuvor gedeihen. Wir erhalten schon jetzt
einen kleinen Vorgeschmack desselben.
Falls dies Unglück geschieht, ist die gesamte Regierung daran schuld.
Kein einziger Minister wird davon freigesprochen. Weder Ben Eliezer,
noch Peres oder irgend einer ihrer Kollegen. Auch kein Offizier, der
kooperierte und die politische Führung vorantrieb. Auch nicht die
Knessetmitglieder, ob sie zur Koalition oder zur Opposition gehören,
die sich in den letzten Monaten schweigend verhielten. Auch nicht die
Korrespondenten und Kommentatoren, die sich selbst zu Regierungs- und
Armeesprechern machten, noch die Professoren und Intellektuellen, die
zusahen und schwiegen. Alle werden die Verantwortung tragen.
Es ist der letzte Moment, um aufzustehen und laut zu schreien: Nein!
(Aus dem Englischen übersetzt: Ellen
Rohlfs und vom Verfasser autorisiert)
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Arafat
besuchen? Um Himmelswillen, warum?
Uri Avnery-
„Sind Sie verrückt geworden? Gerade jetzt? Er ist doch erledigt!“ Das
waren die Reaktionen von einigen Leuten, als das israelische Fernsehen
mein Treffen mit Arafat in Ramallah in dieser Woche zeigte.
Ist Arafat „erledigt“? Wenn dem so wäre - er hat nichts darüber
gehört. Ich fand ihn in bester Verfassung. Bei einigen meiner Treffen
mit ihm im Laufe der letzten Jahre sah er häufig müde aus,
zurückhaltend und in sich selbst versunken. Dieses Mal war er in guter
Stimmung. Er sprach entschieden, reagierte schnell, machte sich sanft
lustig über seine Mitarbeiter und machte auch ein paar bissige
Bemerkungen.
Bild -
Uri Avnery meets with Arafat in Beirut, 1982, in violation of
Israeli law.
( Z.B.: als er über Sharons Forderung sprach, dass Abu-Mazen
Massenverhaftungen ausführen solle, lachte er: „Aber die Israelis
haben alle unsere Gefängnisse zerstört, außer dem einen in Jericho.
Und wenn wir einen Kriminellen dorthin bringen wollen, müssen wir das
Quartett (USA, EU, UNO, Russland) um einen Wagen bitten und die
Durchfahrt durch die israelischen Checkpoints ermöglichen.“)
Man kann seine gute Stimmung verstehen. Während des letzten Jahres hat
sein Leben wie an einem seidenen Faden gehangen. Sharon hätte jeden
Augenblick seine Leute schicken können, um ihn zu töten. Mehrere Male
schien diese Gefahr so nahe, dass meine Freunde und ich es für nötig
fanden, schnell hinzueilen und menschliches Schutzschild zu sein.
Einer der israelischen Offiziere rühmte sich in dieser Woche, dass
„nur eine dünne Wand mich von ihm trennte.“
Nun ist diese Gefahr in weitere Ferne gerückt – auch wenn Arafat noch
immer in seinem kleinen Gebäude inmitten von surrealistischen Ruinen
festgehalten wird.
Während der letzten 45 Jahre war sein Leben viele Male in Gefahr.
Viele Attentatsversuche wurden auf sein Leben unternommen. Einmal
musste sein Flugzeug notlanden und mehrere seiner Mitarbeiter kamen
ums Leben. Er überlebte. Dieses Mal auch. Sein Gefühl der
Erleichterung ist nur zu verständlich.
Es gibt auch eine physische Erleichterung. Seitdem er nach Palästina
zurückgekehrt ist, war seine Arbeitslast unglaublich. Da er darauf
bestand, praktisch alles selbst zu entscheiden, große und kleine
Dinge, arbeitete er unmenschlich, oft bis in die frühen Morgenstunden.
Jetzt ist er vom wesentlichen Teil der Routinearbeit befreit und die
Folgen sind offensichtlich.
Die Hauptsache aber ist, dass Arafats Ansehen innerhalb seines Volkes
jetzt stärker als jemals zuvor ist. Seltsam genug, dass dies die Folge
der Ernennung eines Ministerpräsidenten ist. Die Ernennung von
Abu-Mazen, die von Sharon und Bush verlangt wurde, um Arafat zu
„schwächen“ und um ihn „beiseite zu schieben“, hatte den gegenteiligen
Effekt.
Das muss erklärt werden: Schon seit Jahren war in Israel und im Westen
eine andauernde und konzentrierte Kampagne geführt worden, die Arafat
dämonisierte. In den zehn Jahren nach Oslo sind in den israelischen
Medien Millionen von Wörtern über ihn gesprochen oder geschrieben
worden – aber ich erinnere mich nicht an ein einziges Wort des Lobes.
Er ist systematisch als Terrorist, Tyrann, Diktator, korrupter Lügner,
Betrüger und was noch alles beschrieben worden. Insbesondere wurde er
als der Mann hingestellt, der zu den „unerhört großzügigen“ Angeboten
von Ehud Barak und Präsident Clinton „nein“ sagte und der damit
„beweist“, dass sein wirkliches Ziel sei, Israel zu zerstören.
All diejenigen, die mit dieser Propaganda gefüttert wurden, können
nicht verstehen, warum die Palästinenser ihn verehren. Die Antwort
lautet: genau aus denselben Gründen.
In den Augen der Palästinenser – fast aller von ihnen – ist Arafat ein
furchtloser Führer, der auch unter den schwierigsten Umständen
unerschütterlich bleibt; ein Mann, der den Mumm hat, zu den
Forderungen der Mächtigen der Welt „nein“ zu sagen, da sie das
palästinensische Volk um seine fundamentalen Rechte betrügen wollen.
Ohne zurückzuschrecken stand er den Herrschern der arabischen Welt
gegenüber. In Camp David stand er unter immensem Druck von Clinton und
Barak - ohne zurückzuweichen. Er hielt unter schrecklichen Bedingungen
die Belagerung seines Amtssitzes in Ramallah aus – ohne
zusammenzubrechen.
Die Palästinenser, wie alle Araber und alle Völker, bewundern
persönlichen Mut. Arafat hat Mut unter Bedingungen bewiesen, denen
kein anderer Führer der Welt gegenüber stehen musste. Er ist zu einem
Symbol der Standhaftigkeit des ganzen palästinensischen Volkes
geworden. Dies ist die Quelle seiner Autorität, sogar in den Augen
seiner vielen Kritiker des rechten und linken Flügels.
Seine Autorität ist für Abu-Mazens politische Effektivität wesentlich.
Im Gegensatz zu Arafat ist Abu-Mazen im Westen populär. Er strahlt
Mäßigung und Bereitschaft zu Kompromissen aus. Das ist das Gesicht,
das der Westen zu sehen wünscht. Beide sind in etwa wie Ben Gurion und
Sharett in Israels frühen Tagen. Ben Gurion war das Idol der
israelischen Öffentlichkeit, während Sharett auf internationaler Ebene
populär war.
Abu-Mazen wird von der palästinensischen Öffentlichkeit akzeptiert.
Wenn jemand anders unter diesen Umständen das Amt angenommen hätte,
würde er unter Verdacht stehen, ein Kollaborateur zu sein. Aber
Abu-Mazen ist als palästinensischer Patriot bekannt und wird als einer
der Gründer der Fatah-Bewegung respektiert. Selbst in extremen
Demonstrationen hörte ich nie Protestschreie gegen ihn. Doch ist er
kein charismatischer Führer, und er hat keine solide politische Basis.
Das ist es, warum Abu-Mazen Arafat benötigt. Ohne seinen soliden
Rückhalt wird Abu Mazen weder fähig sein, Konzessionen im Ausland zu
machen, noch zu Hause wirkungsvoll handeln können. Mehr als je ist
Arafat für den Fortschritt auf dem Weg des Friedens wichtig.
Aber wünscht Arafat wirklich Frieden? Die meisten Israelis können sich
so etwas gar nicht vorstellen. Wie sollten sie auch? Hörten sie jemals
die wahre Geschichte?
Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich folgendes erzählen: Am Ende
des Oktoberkrieges, 1973, folgerte Arafat, dass wenn die Armeen
Ägyptens und Syriens nach ihren unerwartet glänzenden Anfangssiegen
besiegt werden, dass es keine militärische Lösung dieses Konfliktes
gibt. Wie gewöhnlich entschied er schnell und entschied allein. Er
wies den ihm nahe stehenden Said Hamami an, in London einen Artikel zu
veröffentlichen, um ein Friedensabkommen mit Israel mit politischen
Mitteln zu befürworten. (Dies veranlasste mich, mich mit Hamami im
Geheimen zu treffen, und seitdem habe ich Arafats Maßnahmen aus der
Nähe verfolgt)
Für die palästinensische Nationalbewegung war die vorgeschlagene Wende
radikal. Ein politischer Prozess anstelle des alleinigen Verlasses auf
den „bewaffneten Kampf“. Ein Friedensabkommen mit Israel, das 78% des
palästinensischen Landes in Besitz genommen und die Hälfte des
palästinensischen Volkes aus seiner Heimat vertrieben hat?
Das erforderte eine geistige und politische Revolution, und seit 1974
fördert Arafat diese Revolution vorsichtig, aber entschlossen -
Schritt für Schritt. (Ich konnte diese Schritte verfolgen: zuerst
durch Hamami und Issam Sartawi, später durch persönlichen Kontakt mit
Arafat). 1988 hat der Palästinensische Nationalrat - nach einer Reihe
von ambivalenten Resolutionen - zu guter Letzt diese Linie
ausdrücklich angenommen. Abu-Mazen war mit diesem Prozess von Anfang
an eng verbunden.
Während dieser Periode widersetzten sich Yitzhak Rabin und Shimon
Peres aktiv dieser Entwicklung. (Auch hier bin ich ein persönlicher
Zeuge, da ich mehrere Botschaften von Arafat an Rabin überbrachte.) Es
muss um der historischen Wahrheit willen klar festgestellt werden:
nicht Rabin und Peres waren die geistigen Väter von Oslo, sondern
Arafat und Abu-Mazen. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Peres
und nicht an Abu-Mazen war deshalb eine große Ungerechtigkeit.
Sharon wünscht natürlich keinen Frieden, der einen lebensfähigen Staat
in den besetzten Gebieten mit sich bringt – und die Evakuierung der
Siedlungen. Aber er ist viel zu schlau, um Abu-Mazen, den Protégé des
Westens, offen zu sabotieren. Deshalb konzentriert er all seine
Bemühungen, um Arafat zu brechen. Er weiß genau, Abu-Mazen ist ohne
ihn wirkungslos.
Das ist der springende Punkt bei der Sache. Arafat ist für die
Friedensbemühung wesentlich.
Genau deshalb habe ich ihn besucht.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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Der Gefangene von
Ramallah
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Uri Avnery -
Jeder TV-Zuschauer kennt die Brücke zwischen den beiden Gebäuden, die
zwischen den Ruinen des Mukata’ah-Komplexes in Ramallah stehen
geblieben sind.
Während eines meiner letzten Besuche zeigte ein palästinensischer
Offizier auf einen einfachen Tisch und Stuhl neben einem der Fenster
dieser Brücke. Durch dieses Fenster kann man ein Stück
palästinensischer Landschaft hinter Ramallah sehen. „Hier sitzt Abu
Amar gern zwischen den Sitzungen und schaut hinaus“, erklärte er. Abu
Amar ist der Kosename von Yasser Arafat.
Als ich ihm vor 21 Jahren zum ersten Mal in Beirut begegnete, war er
einer der beweglichsten Führer der Welt, wenn nicht der beweglichste
von allen. Einmal erzählte er, dass er in den letzten fünf Tagen
sieben Länder besucht und nur im Flugzeug zwischen den
Bestimmungsorten geschlafen habe. Zu jener Zeit trug er um den Hals
einen Stützapparat. Jetzt sitzt er seit mehr als zwei Jahren im
Gebäudekomplex gefangen. Zeitweise waren die Lebensbedingungen
schlimmer als in einem gewöhnlichen Gefängnis: er lebte in einem
abgeschlossenen Raum ohne Sauerstoffzufuhr und fast ohne Wasser, mit
verstopfter Abwasserleitung. Er wusste, dass in jedem Augenblick
Sharons Soldaten hereinstürmen konnten, um ihn zu töten.
In
ein paar Tagen wird er 74 Jahre alt. Er wird seinen Geburtstag in
seinem Gefängnis verbringen.
Dies ist eine gute Gelegenheit, sich über diesen Menschen und sein
Lebenswerk Gedanken zu machen.
Auf der Weltbühne befindet er sich länger als jeder andere Führer –
ausgenommen Fidel Castro. Viele der heutigen Führer der Welt , wie
Bush oder Blair, waren noch Kinder, während er schon die Verantwortung
für das Schicksal des palästinensischen Volkes in seinen Händen hielt.
Sein Gesicht ist in der ganzen Welt bekannt. Er ist einer der
verleumdetsten Staatsmänner der Welt, vielleicht mehr als jeder
andere.
Er ist die am meisten gehasste Person in Israel. Die vom rechten
Flügel wetteifern mit denen vom linken, wie sie diesen Hass am besten
ausdrücken können. Es gibt kaum einen Artikel eines israelischen
Linken, der nicht ein paar Worte des Abscheus über ihn enthält.
Er ist der bewundertste und geliebteste Führer seines eigenen Volkes
und anscheinend auch der bewundertste Führer der Massen der arabischen
und muslimischen Welt.
Gar nicht übel für einen Menschen, der 74 Jahre alt wird.
Der Titel, der seinem Namen meistens hinzugefügt wird, ist „Symbol“.
Selbst die palästinensischen Oppositionsgruppen nennen ihn „Das Symbol
des palästinensischen Volkes“. Das stimmt, ist aber auch irreführend.
Irreführend deshalb, weil eine „symbolische“ Person gewöhnlich jemand
ist, für den Denkmäler errichtet werden oder dessen Photos die Mauern
zieren. Der Präsident von Israel ist ein Symbol, wie auch die
Präsidenten von Deutschland und Italien, während Arafat ein sehr
aktiver Führer ist, der die palästinensische Szene beherrscht.
Trotzdem passt der Titel auch zu ihm. Arafats Lebenslauf vom Anführer
einer winzigen Gruppe von Flüchtlingen bis zum gegenwärtigen Stand, in
der die ganze Welt die Idee eines palästinensischen Staates
unterstützt, symbolisiert den palästinensischen Überlebenskampf.
Keiner symbolisiert die Lage des palästinensischen Volkes, sein
Leiden, seine Entschlossenheit und seinen Mut mehr als der Mann im
belagerten Mukata’ah, einem Gefängnis innerhalb eines Gefängnisses (Ramallah),
innerhalb eines Gefängnisses (alle palästinensischen Gebiete).
Viel ist schon über sein frühes Leben geschrieben worden, über seinen
Vater, einen Kaufmann aus Gaza, der nach Ägypten übergesiedelt ist;
über seine Mutter, die starb, als er noch ein kleines Kind war; über
seine Kindheit in der Familie seiner Mutter in Jerusalem.
In letzter Zeit erzählt Arafat wiederholt seinen Gästen –
Palästinensern, Israelis und Ausländern – von jenen glücklichen
Jahren, als er mit jüdischen Kindern in der Nähe der Klagemauer
spielte. Die Jahre mit der Familie seines Vaters scheinen viel weniger
Nostalgie zu wecken.
Er erinnert die Leute gern daran, dass er Ingenieurwissenschaften
studiert hat. Er führt sein legendäres Gedächtnis – besonders für
Zahlen und Fakten – auf seinen Beruf zurück. Mehr als einmal
korrigierte er mich, wenn es sich um Zahlen handelte: wie viele
ultra-religiöse Mitglieder in der Knesset seien, wie viele Prozente
genau von der Westbank Sharon als „schmerzhafte Konzessionen“ den
Palästinensern zu „geben“ bereit sei.
Seine politische Karriere begann in der Palästinensischen
Studentenvereinigung in Kairo. Diese gewann historische Bedeutung, als
er in den späten Fünfziger Jahren die Fatah-Organisation gründete -
die erste palästinensische Befreiungsbewegung seit der Katastrophe von
1948.
Befreiung – von wem? Nun offensichtlich von Israel. Aber in
Wirklichkeit auch von der Vorherrschaft der arabischen Führer. Es ist
unmöglich, Arafat zu verstehen, ohne dieses wichtige Kapitel seines
Lebens zu kennen. Damals diente die palästinensische Sache als Fußball
im inter-arabischen Spiel. Jeder arabische Herrscher
instrumentalisierte sie, um seinen Anspruch auf die Führung der
arabischen Welt zu verstärken und seine Konkurrenten zu schlagen.
Gamal Abd-al-Nasser in Ägypten, Abd-al-Karim Kassem im Irak, der junge
König Hussein in Jordanien und ihre Kollegen in Saudi Arabien, Marokko
und den andern Ländern – jeder behauptete, er sei der Verteidiger des
palästinensischen Volkes, während er gnadenlos jedes Anzeichen einer
unabhängigen palästinensischen Aktion im eigenen Lande unterdrückte.
In den Augen Arafats und seiner Genossen wurde deshalb die
Unabhängigkeit der palästinensischen Beschlussfassung zu einem
heiligen Ziel.
Fatah wurde in diese Realität hineingeboren. Arafat und seine Gruppe
wollte die palästinensische Sache den Händen der arabischen Herrscher
entreißen. Die neue Bewegung hatte keine Macht, kein Geld, keine
Waffen. Sie hatte nirgendwo eine freie Basis. Ihre Aktivisten konnten
von den Geheimdiensten jeder arabischen Regierung gefangen genommen
werden, wenn sie nicht den Befehlen der lokalen Diktatoren gehorchten.
Dies geschah viele Male. Der Höhepunkt wurde erreicht, als der
syrische Diktator die ganze Fatah-Führung, einschließlich Arafat, ins
Gefängnis warf. Nur die Frau von Abu Jihad, Umm Jihad (jetzt die
Ministerin für Soziale Angelegenheiten in der palästinensischen
Regierung) wurde draußen gelassen; sie übernahm das Kommando der
Fatahkräfte.
Damit die Bewegung überlebte, musste Arafat zwischen den Führern
manövrieren, Leuten schmeicheln, die er verachtete, sich Führern
anbiedern, die sich nicht im geringsten für die Sache der
Palästinenser interessierten. Wie eine bedeutende palästinensische
Persönlichkeit mir erzählte: „Für das Überleben unseres Volkes musste
er heucheln, lügen, tricksen, sich zweideutig ausdrücken, Listen
anwenden. Es war damals, als die für Arafat typische Redeweise sich
entwickelte.“
Trotz der Sabotage durch die arabischen Regime wuchs mit Hilfe dieser
Methoden die Macht der Fatah langsam. Um sie zu blockieren und die
Palästinenser den ägyptischen Interessen zu unterwerfen, initiierte
Abd-al-Nasser die Gründung der PLO (Palästinensische
Befreiungsorganisation) und ernannte den alternden und ineffektiven
Demagogen Ahmad Shukeiri zu ihrem Führer. Aber der Juni-Krieg 1967
zerstörte die Achtung gegenüber den Herrschern in Kairo, Amman und
Damaskus. Die Schlacht von Karameh (1968), in der die Fatahkämpfer -
von Arafat persönlich geführt - einen Sieg gegen das israelische
Militär, das sie vernichten sollte, errangen, ließ das Prestige der
Fatah himmelhoch anwachsen. Nachdem drei arabische Armeen schmachvoll
durch Israel besiegt wurden, hatten sich die Kämpfer der Fatah
heroisch halten können. Die Folge davon: Fatah übernahm die PLO, der
39jährige Arafat wurde der Führer der Nation.
Alle arabischen Herrscher, mit denen sich Arafat damals konfrontieren
musste, sind inzwischen gestorben oder wurden ermordet - allein Arafat
bleibt.
Vielleicht liegt seine größte Leistung als nationaler Führer in seiner
Fähigkeit, die Palästinenser zusammenzuhalten.
Die meisten Befreiungsbewegungen haben Bruderkriege gekannt, bittere
Abspaltungen und verzweifelte innere Kämpfe. Der vorstaatliche
hebräische Untergrund hat auch die Bruderkriegs-Saison gekannt und den
blutigen Altalena-Zwischenfall. Aber die Palästinenser, deren
Situation unvergleichlich schwieriger war, wurden vor diesem Los
bewahrt.
Fast alle anderen Bewegungen wuchsen aus der Bevölkerung, die auf
ihrem Land lebte, unter einem fremden Regime. Das palästinensische
Volk jedoch war in einem Dutzend Länder zerstreut, alle unter
unterdrückerischen Diktaturen. Der Name Palästina war gänzlich von der
Landkarte verschwunden – und selbst die Palästinenser, die in ihrer
Heimat geblieben waren, lebten unter gewaltsamen Herrschern – zunächst
unter den Jordaniern und Ägyptern, dann unter dem israelischen
Militärgouverneur.
Als die PLO wuchs, versuchten alle arabischen Regierungen Einfluss auf
sie auszuüben. Damaskus, Bagdad, Riad, Kairo gründeten - zusätzlich zu
Moskau - palästinensische Organisationen, um ihre Agenden dem
palästinensischen Volke aufzudrängen. Säkulare und religiöse, linke
und rechte Organisationen versuchten ihr Spiel innerhalb der Bewegung
zu spielen. Arafat musste mit allen fertig werden, manövrieren,
schmeicheln, drohen, befrieden. So wurde er ein Altmeister dieser
Kunst, vielleicht ihr hervorragendster Praktiker in der Welt.
Zur selben Zeit musste er den nationalen Kampf führen. Wie fast alle
Führer der modernen Befreiungsbewegungen, von Garibaldi bis Nelson
Mandela, glaubte er an den „bewaffneten Kampf“ (von den fremden
Regimen immer „Terrorismus“ genannt). Die PLO-Organisationen führten
viele blutige Attacken aus, viele von ihnen brutal, einige absolut
monströs, auch wenn die meisten von diesen durch Organisationen
geschahen, die gleichzeitig gegen Arafat kämpften. Alle PLO-Führer
glaubten, dass der „bewaffnete Kampf“ notwendig wäre, in Anbetracht
des großen Missverhältnisses zwischen der Militärmacht Israel und der
fast unbedeutenden Macht der Palästinenser.
Arafat selbst ist nach den Aussagen seiner Mitarbeiter weit davon
entfernt, grausam oder blutdurstig zu sein. Nur in seltenen Fällen
bestätigte er die Todesstrafe und nur dann, wenn die Forderung der
Öffentlichkeit unnachgiebig war. Die Zahl der in seinem Bereich
ausgeführten Exekutionen ist unvergleichlich kleiner als im Texas des
früheren Gouverneurs George W. Bush.
Kaum ein Experte in der Welt leugnet, dass die Palästinenser ohne den
„bewaffneten Kampf“ nichts erreicht hätten, ja dass sie längst ihre
Heimat verloren hätten. Sie glauben, dass die gewalttätigen Angriffe
das palästinensische Volk in die Lage brachten, wieder auf der
Weltkarte zu erscheinen und der PLO erlaubte, ihre historischen
Erfolge zu erzielen: ihre Anerkennung als die „einzige legitime
Vertreterin“ des palästinensischen Volkes zu sein, die Einladung in
die UN, ihren internationalen Rang, das Oslo-Abkommen, ihre Rückkehr
nach Palästina und die Schaffung des weltweiten Konsenses, der die
Idee eines palästinensischen Staates unterstützt.
Aber Arafat sah den „bewaffneten Kampf“ nicht als ein Ziel an sich.
Gewalt ist für ihn ein Mittel unter anderen.
Ende 1973 tat er etwas, was unter Führern selten ist. Nachdem er eine
Revolution gemacht hat (die Schaffung der Fatah und den Beginn des
„bewaffneten Kampfes“) initiierte er eine andere. (Jahre später machte
Yitzhak Rabin etwas Ähnliches.)
Der Oktoberkrieg 1973 änderte sein strategisches Konzept. Bis dahin
glaubte er, dass Israel mit Gewalt besiegt werden könne. Der
palästinensische Kampf war zunächst dafür bestimmt, eine allgemeine
militärische Konfrontation zwischen Israel und der arabischen Welt
auszulösen, wie es 1967 geschah. Im Oktober 1973 wurde Arafat klar,
dass diese Hoffnung in Wirklichkeit jeder Grundlage entbehrt. Die
Armeen von Ägypten und Syrien griffen Israel tatsächlich an und
erzielten anfangs Überraschungserfolge und einen überwältigenden Sieg.
Aber innerhalb von zwei Wochen drehte die israelische Armee den Spieß
um und näherte sich Kairo und Damaskus. Arafat – noch immer der
rationale Ingenieur - zog den logischen Schluss: es gibt keine
militärische Lösung.
Von da war es nur noch ein Schritt zur zweiten Schlussfolgerung: der
palästinensische Staat kann nur durch Kompromisse gegründet werden –
durch ein politisches Abkommen mit Israel. Er begann, daran zu
arbeiten.
Die dafür notwendige Mühe war immens. Eine ganze Generation von
Palästinensern sah in Israel einen monströsen Feind, der die Hälfte
des palästinensischen Volkes aus seinen Häusern und von seinem Boden
vertrieben hatte und fortfuhr, die andere Hälfte zu unterdrücken und
zu enteignen. In dieser Zeit der Verzweiflung klammerten sich die
Palästinenser an den Glauben, dass die pure Existenz Israels illegal
sei, und dass es zu irgendeinem Zeitpunkt irgendwie vernichtet werden
würde. Arafat musste ihnen diesen Glauben nehmen und sein Volk dahin
bringen, einen Kompromiss zu akzeptieren, der dem palästinensischen
Volk nur 22% seiner historischen Heimat lassen würde.
Er arbeitete daran, wie er es immer getan hat: mit unendlicher Geduld
und Sensibilität gegenüber den Menschen, mit taktischen Manövern,
Umwegen und Zweideutigkeiten. Er baute geheime Kontakte mit einer
winzigen Gruppe von israelischen Friedensaktivisten auf, (von denen
ich einer war), und hoffte, dass sie den Weg ins israelische
Establishment ebnen würde. Er ermutigte einige seiner Leute
(hauptsächlich Said Hamami und Issam Sartawi, die beide deshalb
ermordet wurden), seine verborgenen Gedanken öffentlich auszusprechen.
Er veranlasste den Palästinensischen Nationalrat, das Parlament im
Exil, nach und nach seine Resolutionen zu ändern. Bei diesen
Bemühungen, die sich zwischen 1974 und 1988 vollzogen, wurde er
hauptsächlich von Abu Mazen unterstützt.
Zu jener Zeit war Yitzhak Rabin noch ein extremer Gegner eines
Friedensabkommens mit den Palästinensern, und Shimon Peres war der
Pate der Siedlungen. Beide vertraten die „Jordanische Option“. Wenn
jemand den Friedensnobelpreis für das Oslo-Abkommen verdient hat, dann
war es Arafat.
Eines der Attribute, die ihn den Palästinensern teuer machen, ist sein
ungewöhnlicher Mut.
Als Ariel Sharon 1982 in den Libanon einfiel, um die Palästinenser zu
vertreiben und ihren Führer zu töten, hätte Arafat sich leicht
beizeiten aus Beirut absetzen können. Dies wäre von jedem als
verständlicher Schritt akzeptiert worden. Aber er blieb mit seinen
Kämpfern bis zum letzten Tag in der belagerten Stadt. Nach einer
langen Schlacht verließen seine Männer mit erhobenem Kopf und mit
ihren Waffen – von Arafat angeführt – Beirut.
Eine andere, fast vergessene Episode brachte ihm sogar noch mehr
Bewunderung ein. Ein Jahr nach dem Auszug aus Beirut griffen die Syrer
und ihre Agenten die palästinensischen Kräfte in den nordlibanesischen
Flüchtlingslagern bei Tripoli an. Damals war Arafat gerade Gast der UN
in Genf. Er tat etwas fast Unglaubliches: im Geheimen kehrte er in den
Libanon zurück, schlüpfte in das belagerte Flüchtlingslager und
verließ dieses schließlich mit den Kämpfern, die sich auch diesmal
nicht ergaben.
Fast immer schwebte er in Lebensgefahr; denn ein Dutzend Geheimdienste
versuchte, ihn zu töten. Er überlebte mehrere Mordversuche. Einmal
entkam er aus größter Lebensgefahr, als sein Flugzeug mitten in der
Wüste unter schwierigen Bedingungen notlanden musste. Seine
Leibwächter kamen dabei ums Leben.
Mitten in der Schlacht von Beirut fragte ich ihn, wo er wohl hingehen
würde, wenn er lebend herauskäme. Ohne zu zögern, sagte er: „Natürlich
nach Hause!“ Zwölf Jahre später – an seinem ersten Tag in Gaza -
flüsterte er mir zu: „Erinnern Sie sich daran, was ich in Beirut
sagte? Nun bin ich hier.“
Als
Chef der neuen Palästinensischen Behörde war er mit einer der
schwierigsten Aufgaben seines Lebens konfrontiert. Er sah sich einer
Herausforderung gegenüber, die jeder anderen Befreiungsbewegung
unbekannt war: er sollte eine Art Staat aufbauen, während der
Befreiungskampf noch in vollem Gange war.
Zusammen mit Arafat kehrten auch die Veteranen des Kampfes zurück, die
verständlicherweise glaubten, dass es ihr Recht sei, die Nationale
Behörde mit zu kontrollieren. Dasselbe beanspruchte auch die junge
Generation von Kämpfern, die während der Intifada herangewachsen war -
in Gefängnissen und im Untergrund. Dasselbe wurde auch von den
Tausenden von ausgebildeten Fachkräften gefordert, die an den
Universitäten überall in der Welt studiert hatten. (Einer von ihnen
sagte mir: „ OK, zeichnet all die Kämpfer mit Medaillen aus! Der Staat
aber muss von Leuten regiert werden, die dafür ausgebildet sind“.)
Arafat musste „den Kuchen“ unter ihnen aufteilen sowie unter Leute der
christlichen Minderheit, unter Frauen und Vertretern der verschiedenen
Regionen und - besonders wichtig - unter die Vertreter großer Clans,
die die palästinensische Gesellschaft seit Jahrhunderten beherrschen
und ohne die man nicht regieren kann. Alles zusammen genommen, eine
fast unmögliche Aufgabe.
Man kann nicht sagen, dass die Errichtung der Palästinensischen
Behörde ein ausgesprochener Erfolg war. Aber in Anbetracht des in der
Sache liegenden Druckes hat Arafat keine so schlechte Arbeit
geleistet.
Einer der Schwachpunkte war, dass die neue Verwaltung zentralisiert
war. Während des jahrzehntelangen Kampfes war Arafat daran gewöhnt,
alleine und schnell zu entscheiden. Seine Mitarbeiter ließen ihn allzu
willig die historischen Entscheidungen, die Mut und persönliches
Risiko verlangten, selbst zu übernehmen. Die meisten seiner engsten
Kampfgenossen waren während des Kampfes getötet worden, einige von
Israel, einige von dem irakischen Agenten Abu Nidal und andere wie er.
Wie alle Führer, die lange Zeit im Zentrum innerer Machtkämpfe und der
Verantwortung standen, ist Arafat einsam und misstrauisch geworden.
Einige palästinensische Persönlichkeiten glaubten, dass mit der
Einrichtung der Behörde der Kampf zu einem Ende gekommen sei. Sie
begannen damit, ihren eigenen persönlichen Interessen nachzugehen,
einige wurden korrupt, indem sie sich den Normen der Nachbarländer
(und nicht nur dieser) anglichen. So erhob sich in der
palästinensischen Öffentlichkeit Verstimmung. Israelische Linke
begannen, die „korrupte Behörde“ zu verurteilen, die offizielle
israelische Propagandamaschine nahm die Geschichte auf und verbreitete
sie fröhlich in der ganzen Welt. Dies schadete der palästinensischen
Sache während einer sehr schwierigen Zeit.
Aber nicht der leiseste Verdacht konnte Arafat selbst angehängt
werden. Während Ariel Sharon im Begriff ist, in einem Morast von
Korruptionsaffären zu versinken, und führende Politiker wie Helmut
Kohl in Deutschland und Jacques Chirac in Frankreich in größeren
Skandalen eine Rolle spielen, bleibt Arafat außerhalb eines solchen
Verdachtes. Weder seinen Gegnern zu Hause noch den israelischen
Geheimdiensten gelang es, „Schmutzflecken“ zu entdecken. Er führt ein
sehr einfaches Leben, hat kein eigenes Haus, seine Kleidung besteht
aus seiner Khakiuniform.
Während seines Lebens hat Arafat viele Fehler gemacht. Er mag seine
Opposition gegenüber der Sadat-Initiative 1977 übertrieben haben,
indem er dem Druck seiner wütenden Mitarbeiter nachgegeben hat. Seine
Unterstützung für Saddam Hussein während des 1. Golfkrieges war ein
größerer Fehler, der teuer bezahlt werden musste. Mehr als einmal
irrte er sich bei der Auswahl der Mitarbeiter und Vertrauten.
Aber gegenüber seinem eigenen Volk ist er der einzige Führer
geblieben, dem bedingungslos vertraut werden kann. Ausländer können
dies nicht verstehen. Sie finden es merkwürdig, dass dieselben
Attribute, die ihn für viele Leute im Westen verhasst machen, ihn zu
einem Helden seines Volkes werden lassen.
Zum Beispiel: als Arafat in Camp David (2000) ein klares „Nein!“ zu
den Vorschlägen von Ehud Barak und Bill Clinton sagte, wurde er von
den meisten im israelischen „Friedenslager“ verurteilt. Aber mit
palästinensischen Augen gesehen, war dies der Inbegriff von Mut und
des nationalen Stolzes. Als er zum Gipfeltreffen ging, fürchteten
viele Palästinenser, dass er in eine Falle ginge, und dass er nicht
die Kraft haben würde, sich da herauszuziehen. Es war klar, dass die
„großzügigen Vorschläge“ von Barak nicht dem Minimum entsprachen, das
für Palästinenser annehmbar war. Als er zurückkam, ohne nachgegeben zu
haben, wurde er wie ein Held empfangen.
Nun sind die Palästinenser bereit, Abu Mazen, der davon überzeugt ist,
dass er Konzessionen von Israel und den US erhalten kann, einigen
Glauben zu schenken. Abu Mazen ist ein alter Mitarbeiter von Arafat
und wird von der Öffentlichkeit geachtet. Aber kein Palästinenser kann
sich vorstellen, ihm das Schicksal der Nation anzuvertrauen.
Nur eine Person erfreut sich dieses Vertrauens: der belagerte Mann im
Mukata’ah. Er bleibt der letzte Schiedsrichter.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |
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