Dr. Abed Schokry
Sehr geehrte Damen und Herren, Liebe
Freundinnen, Liebe Freunde,
am Mittwoch, den 17.11. 2009,
Es ist lange her, seit ich Ihnen/Euch ein Rundschreiben gesendet habe….
Die Verzweiflung und die Frage nach dem –WARUM- waren sehr stark… Die
fehlende Perspektive und die Hoffnungslosigkeit sowie dass ich keinen
Licht am Ende des Tunnels blicken kann, haben zu dieser Stagnation bei
mir geführt. Meine Arbeit an der Uni, widme ich sehr viel von meiner
Zeit…. Und die sozialen Verpflichtungen nehmen einen nicht kleinen
Anteil meiner Zeit auch in Anspruch…
Die ganze Zeit, hoffte ich, Ihnen bzw. Euch einmal eine sehr gute
Nachricht mitzuteilen aber ich warte immer noch sehnsüchtig danach….
Anfang Juni mussten wir aus der gemieteten Wohnung ausziehen und die
Suche nach einer anderen Wohnung, hatte uns auch sehr viel Zeit geraubt…
Denn durch den Krieg und durch das Fehlen von Baumaterialien, stiegen
die Mietpreise hoch und ebenso die Preise für Eigentumswohnungen…..
Das Abtragen der Schotthaufen (was von den zerstörten Häusern) hatte
bereits begonnen und es w(u)erden Versuche unternommen, soviel
Materialien wieder zu verwenden, wie nur möglich. Ich las sogar davon,
dass eine spezielle „Mühle“ aus Deutschland nach Gaza gebracht wurde, um
diese Betonblocke bzw. Steine zu zermahlen. Ich habe sie nicht gesehen.
Gedanken zur aktuellen Lage aus dem Gazastreifen
ZEHN Monate sind nun vergangen, nach dem Ende des „Krieges“
(stellvertretend für ein anderes geeignetes Wort) gegen den Gazastreifen
„beendet“ wurde. Dennoch hat der Wiederaufbau gar nicht begonnen.… Wir
sind mitten im Herbst und es hat angefangen zu regnen… Ich rede davon,
weil es Menschen gibt, die in Zelten leben… Vergleicht man die Bilder
von 1948, 1967 und 2009, so findet man leider Etliche Gemeinsamkeiten…
Wie lange müssen wir uns so ergehen lassen? Haben wir noch Kraft? Stehen
wir kurz vor der nächsten Explosion, welche viel stärker sein wird, als
alles was je zuvor war…
Ist es nicht die Verantwortung dieser Welt (auch Deutschland,
Großbritannien, UNO usw.) , die uns in dieser Lage versetzt haben und
nun uns einfach fallen lassen.. Glauben Sie wirklich, dass der Frieden
dadurch erreicht erden kann! Glauben Sie wirklich, dass die israelischen
Nachbarn in Ruhe und Frieden leben werden können, während wir hier
ausgehungert werden, kein Wasser zum Trinken haben, keinen Strom usw.
haben. Wenn wir nicht einmal ein Haus
auf(wieder)bauen können, keine Fensterscheiben ersetzen können, welche
durch den „Krieg“ zerbrochen wurden.
Infolge dieser prekären Situation steigt die Anzahl der armen Menschen
und in meiner Umgebung gibt es sehr viele bedürftige Familien, wo ich
früher dachte, dass es ihnen doch gut geht.... Das ist sehr bedrohlich,
bedauerlich und enttäuschend bzw. sehr traurig...Eigentlich ist es eine
Schande, die die Welt um uns herum, uns verschuldet hat...
.
Wir wollen arbeiten, Wir wollen nicht am Tropfhahn der Welt stehen und
immer betteln.
.
Wir wollen lediglich in Würde und Frieden leben, uns Freibewegen können,
uns entwickeln, so wie wir es wollen und nicht, wie die Ägypter, Syrer,
Iraner, und/oder Israelis bzw. Amerikaner oder wer auch immer, es uns
vorschreiben..
.
Wir wollen genau so wie jeder anderer Mensch auf der Welt planen können,
Häuser bauen, Familien gründen, auch mal Urlaub machen können... Niemand
mag eingesperrt sein, nicht einmal die Tiere... Ich fürchte mich sehr
davor, dass es eines Tages richtig sehr laut kracht...
Im Sep. sollte es angeblich mit den Verhandlungen weitergehen. Was soll
da nun geschehen? Wieder mal sich treffen und nichts Weiteres… Ja wir
haben uns wieder mal getroffen und uns verabredet, uns wieder mal zu
treffen und es kommt aber nichts bei all diesen Treffen heraus…Warum
treffen wir uns denn? Wie lange soll es so weiter gehen? Verhandelt man
da, den Verhandlungswillen oder verhandelt man um Annäherungen zu
erreichen, um Lösungen zu finden oder warum sonst?
Es wird immer von uns verlangt, Kompromisse einzugehen… Was soviel
heißt, 20% der Gesamtfläche des historischen Palästinas sind auch noch
zuviel… Worauf müssen wir da noch verzichten? Ist da noch etwas
geblieben, worauf wir noch verzichten sollten…Wenn Ja, dann soll(t)en
Sie uns das sagen, damit wir es ja uns überlegen können…..
Ohne genügend Druck von Ihnen „Verehrte Außenwelt“ wird sich NICHTS an
unserer Lage ändern… Das wissen wir, genau so wie Sie es auch wissen…
Also warum sollten wir ständig Umwege suchen, wo wir doch „einen
kürzeren Weg“ kennen.
Wie soll es mit uns hier weitergehen? Werden wir weiterhin durch die
Hilfsgüter am Leben erhalten, ohne Perspektive und Hoffnung? Was
geschieht hier eigentlich? Und warum geschieht das? Wo sind die Hüter
der Menschenrechte? Und wo sind die demokratischen Kräfte (Präsidenten)
dieser Welt…
Diese Gedanken rauben mir den Schlaf nachts, daher entschied ich mich,
sie hier niederzulassen und nicht mit mir rumzuschleppen. Ich will mal
auch „Freisein“.
Nun aber komme zum Alltag zurück
Die Schule hatte in der zweiten Hälfte des Monats August begonnen und
ging meine Tochter hin. Sie hat Englisch, Arabisch, Mathematik,
Religion, Kunst, Sport, Computer, Allgemeine Wissenschaft (so etwas wie
allgemeine Einführung in Biologie, Chemie und Physik), dann Nationale
und Zivile Gesellschaftsfächer. Das ist ganz schon viel für
ErstklässlerIn… Aber so ist das System aufgebaut… Es kommt auf die
Quantität und nicht auf die Qualität, -so scheint es mir zu sein-… Ich
hoffe so sehr, dass ich mich dabei irre…. Allerdings reichen die Schulen
nicht mehr aus, da auf der einen Seite viele Schulen während des
„Krieges“ zerstört wurden, und auf der anderen Seite wegen dem
natürlichen „Wachstum“ der Bevölkerung. Leider fehlen immer -bis heute-
Schreibhefte und wir hoff(t)en, dass diese Hefte bald in den
Gazastreifen gebracht werden aber bis heute haben wir sie nicht erhalten
können. Über die Tunnel Hefte zu bringen, würde sich nicht lohnen, las
ich mal im Internet….
Vor ca. einigen Wochen wurden wir von sehr lauten Geräuschen gegen 6:00
Uhr früh geweckt, es war sehr erschreckend für meine Kinder, denn
infolgedessen haben beide angefangen zu sehr laut zu schreien und die
ältere Tochter zitterte am ganzen Körper… Traumatisiert…..Eigentlich
benötigen alle Einwohner des Gazastreifens Betreuung, da alle
traumatisiert sind… Wie soll es aber mit den Kindern weitergehen?
Vorgestern hatte ich Alpträume und da ging es nur um F16-Kampfflugzeuge,
und dass ständig um mich herum geschossen wurde, so dass ich immer
fliehen musste….Sind diese Trauma - Erscheinung?
Die Wasserprobleme sowie das Problem mit dem Strom, sind die Gleichen
geblieben…Aber mit dem Strom klappt es besser (wir kriegen keinen Strom
nun an zwei Tagen wöchentlich, einmal tagsüber und einmal abends… Es
kommt auch zur weiteren Unterbrechungen der Stromversorgung aber es
dauert dann nicht so lange und dann ist der Strom wieder da. Eine
Entspannung ist auch nicht in Sicht (zumindest hinsichtlich des Wassers,
da die Ressourcen nicht ausreichen). Was den Strom aber angeht, so
scheint es mir möglich, dass das Problem gelöst werden kann, wenn es den
nötigen Willen auch dafür gebe… En anderes Problem steht uns bevor mit
dem Abwasser. Das Abwasser wird in Grabungen in der Nähe von
Wohngegenden aufbewahrt (Die Seitenwände auch aus Sand) und mit dem
Regen, da wächst die Gefahr, dass diese Wände den dadurch entstehenden
Druck nicht durchhalten und brechen werden…. Die Folgen sahen wir
bereits einige Jahre zuvor.
Leben an der UNI in Gaza:
Das Uni-Jahr hat in Gaza DREI Semester…Erstes Semester beginnt in der
Regel um den 01.09. herum und endet im Jan. Gegen Mitte Feb. fängt das
zweite Semester an und dauert bis ca. Ende Juni. Dann folgt das dritte
Semester (intensiv) und geht über Sieben Wochen usw. Das System ist nach
Stundenzahl aufgebaut (ähnlich dem neuen European Credit Transfer and
Accumulation System, ECTS). Sonst sind die Prüfungen meistens
schriftlich.
Mündliche Prüfungen sind eher eine Rarität…Ich rede hier nicht über die
Präsentationen der Abschlussarbeiten und deren Diskussionen.
In der Fakultät für Ingenieurwissenschaften, finden fast alle
Vorlesungen in Englischer Sprache, wie eben die Prüfungen auch…
.
Zurzeit finden die Prüfungen zur Hälfte des Semesters statt und da sind
wir sehr damit beschäftigt. Unsere Sachen UND das Leben geht tatsächlich
WEITER:
Unsere Sachen lagern immer noch in Israel….
Und daher haben wir uns nun ein gebrauchtes Fernsehgerät angeschafft und
manchmal kommt es sogar vor, dass ich mir die Euronews anschaue und
gelegentlich schalte ich auch auf die Deutsche Welle um, wenn unsere
Kinder es uns „erlauben“. Es ist nicht immer leicht, sich Zeit zum
Erholen zu nehmen oder aber sich einwenig entspannen zu können. Hier in
dem Gazastreifen ist immer etwas los….Und so habe ich kaum Zeit fürs
Fernsehen.
Neue Fernsehgeräte gab es nicht (aber jetzt findet man doch fast alle
elektrischen Geräte über die Tunnel zu drei- bis vierfachen Preisen).
Das Käuferverhalten ist hier ganz anders, denn die Händler verlangen
meisten einen höheren Preis, denn es kommt immer zum Feilschen…Und ohne
Feilschen und Handeln kommt kaum ein Geschäft zustande. Hat man nun um
ein Beispiel zu nennen, eine Hose gekauft, so kann man sie binnen Drei
Tagen umtauschen, Rückgabe ist meistens nicht möglich, Quittungen kriegt
man fast nie…Ebenso ist es mit der Garantie, denn meistens gibt es keine
Garantie… Von meinen Freunden höre ich immer wieder, dass es früher mal
auch Garantie gab. Gelegentlich erzähle ich auch von meinem Leben in
Deutschland, wie es war und wie alles so sehr gut organisiert und wie
das System aufgebaut ist und wie es in der Tat auch funktioniert.
Es kommt sogar vor, dass die Freunde weiterfragen, während andere zu mir
sagen, ich solle nicht allzu viel träumen, so etwas würde hier niemals
laufen….
Jedes Haus eine Nummer in Gaza Stadt:
Heute las ich im Internet, dass die Weltbank ein Projekt finanzieren
wird, so dass jedes Haus am Ende des Projektes eine Nummer haben wird
und jede Straße wird einen Namen bekommen, so dass ein Postsystem
entwickelt werden kann. Das Rathaus der Stadt Gaza übernimmt die
Durchführung des Projektes. Viele Straßen haben zwar Namen aber selten
kennen die Bewohner der jeweiligen Straßen diese Namen.
Zum Schluss, noch eine Information, ich sollte eigentlich nach
Deutschland fliegen, da ich zur Teilnahme an dem Kirchentag in Bremen
eingeladen wurde aber leider hat es nicht geklappt.
Es ist ganz schon sehr schwer den Gazastreifen zu verlassen und ebenso
ist es sehr schwer wieder in den Gazastreifen einzureisen.
In der Hoffnung, dass es nicht wieder zum Krieg hier kommt, verbleibe
ich
mit freundlichen Grüßen
Dr. Abed Schokry
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