Shir Hever über soziale
Ungleichheit
"Israel
exportiert die Besatzung"
Interview Johannes Zang
Israel profitiert von der Besatzung der
palästinensischen Gebiete und den internationalen Hilfen
für die Palästinenser. Shir Hever über die Ursachen der
sozialen Ungleichheit und die Rolle der Besatzung dabei.
Palästinensische Arbeiter warten im Juli 2003 am
Grenzübergang Erez darauf, vom Gazastreifen nach Israel
gelassen zu werden. Foto: reuters
taz: Herr Hever, Sie behaupten in Ihren Publikationen,
dass die israelische Besatzung der palästinensischen
Gebiete die Ungleichheit in der israelischen
Gesellschaft verstärkt habe. Wie kommen Sie dazu?
Shir Hever: 1965 war Israel eine Art Wohlfahrtsstaat,
der zwischen Finnland und den Niederlanden rangierte.
Heutzutage gilt Israel neben den USA als das westliche
Land mit der größten Ungleichheit. Es unterscheidet sich
nicht sehr von Mexiko.
Was hat das mit der Besatzung zu tun?
Shir HeverDer 30-jährige Israeli ist
Wirtschaftswissenschaftler und arbeitet für das
Alternative Informationszentrum in Jerusalem. Diese 1986
gegründete israelisch-palästinensische Organisation
befasst sich wissenschaftlich mit dem Thema soziale
Gerechtigkeit in Israel und Palästina. Shir Hever
forscht seit vier Jahren zu den wirtschaftlichen
Grundlagen und Folgen der Besatzung.
Dass palästinensischen Arbeitern in Israel die
grundlegenden Rechte verwehrt wurden, hat die
israelische Arbeiterklasse entrechtet und entmachtet.
Als Israel die Praxis der Abriegelungen begann, war die
heimische Industrie bereits dermaßen auf billige,
ungelernte Arbeitskraft angewiesen, dass man
Gastarbeiter aus Ostasien, Afrika, Osteuropa,
Lateinamerika herbringen musste, um die
palästinensischen Arbeiter zu ersetzen. Andernfalls
wären das gesamte Baugewerbe und die Landwirtschaft
zusammengebrochen.
Was meinen Sie damit, wenn Sie von der Vorenthaltung
grundlegender Rechte sprechen?
Israel behielt von palästinensischen Arbeitern Beiträge
zur Sozial- und Rentenversicherung ein sowie Steuern und
gab ihnen nichts dafür. Das ist eine andere Form der
Ausbeutung. Wurden sie entlassen, erhielten sie keine
Abfindung, wurden sie arbeitslos, krank oder
berufsunfähig, wurde ihnen nichts gezahlt.
Die israelische Besatzung hat sich von Anfang an negativ
ausgewirkt?
Anfangs waren die Grenzübergänge offen, sodass die
Palästinenser weiterhin Handel mit Jordanien und Ägypten
betreiben konnten. Israel erlaubte es palästinensischen
Arbeitern, nach Israel zu kommen und zu arbeiten.
Israelischen Touristen wurde es gestattet, ins
Westjordanland und nach Gaza zum Einkaufen zu fahren. Im
ersten Jahr nach der Besatzung verbesserte sich deshalb
die wirtschaftliche Lage in den besetzten Gebieten. Es
gab sogar Programme, palästinensischen Bauern zu helfen,
ihre Bewässerung zu verbessern.
Das klingt nicht feindlich.
Ja, aber zugleich gab es ein ungeschriebenes Gesetz, die
Palästinenser an der Entwicklung ihrer eigenen
Wirtschaft derart zu hindern, dass sie nicht mit der
israelischen Industrie konkurrieren konnte. Von Anfang
an wurde es den Palästinensern nicht erlaubt, ein
eigenes Finanzsystem zu schaffen oder Schwerindustrie
aufzubauen.
Welche anderen Formen der Benachteiligung durch Israel
gab es?
1991 war der erste Golfkrieg. Da hofften viele
Palästinenser auf einen Sieg von Saddam Hussein. Als sie
diese Meinung äußerten, erzürnte das die israelische
Regierung. Diese entschied, das palästinensische Volk
als Ganzes zu strafen, indem sie die ersten
Abriegelungen verhängte.
Was hatte das für Folgen?
Wegen der Abriegelungen waren die Palästinenser willens,
das Paris-Protokoll zu unterzeichnen, der
wirtschaftliche Anhang zum Oslo-Abkommen. Das legte eine
Art Zollunion unter Israels Kontrolle fest. Das heißt,
dass Israel alle Zollgebühren und die Mehrwertsteuer für
die palästinensische Wirtschaft erhebt, um dann dieses
Geld an die Palästinensische Autonomiebehörde
weiterzuleiten. Israel tut das manchmal, manchmal aber
auch nicht. In diesem Vertrag gibt es auch eine Klausel,
die besagt, palästinensische Arbeiter dürften jederzeit
nach Israel reisen und dort arbeiten. Israel setzte
diese Klausel nie in die Tat um.
Wie ist derzeit, 15 Jahre nach Oslo, die wirtschaftliche
Lage in den besetzten Gebieten?
Die Arbeitslosigkeit ist im Steigen begriffen. Es gibt
immer noch keine industrielle und finanzielle
Infrastruktur. Seit den Oslo-Abkommen gibt es eine neue
Einkommensquelle, die die Menschen am Leben erhält, und
das ist internationale Unterstützung: die Hilfen aus dem
Ausland. Sie tragen seit 1994/95 vielleicht am meisten
zur palästinensischen Wirtschaftsleistung bei. Im Jahr
2003 stellte sie die Hälfte des Bruttovolkseinkommens
der palästinensischen Wirtschaft dar.
Können denn die ausländischen Gelder und
Hilfslieferungen den Lebensstandard der Palästinenser
sichern?
Eine sehr traurige Seite dieser Hilfeleistungen ist: Sie
verbessern die Lage der palästinensischen Wirtschaft
überhaupt nicht, sodass heute, 2009, der Lebensstandard
der Palästinenser niedriger ist als vor zehn Jahren.
Diese Unterstützung ist nicht imstande, die Lage der
Palästinenser zu verbessern, da der größte Teil in die
israelische Wirtschaft fließt.
Wieso denn das?
Zuerst müssen alle Hilfslieferungen in israelischen
Häfen oder am Flughafen abgefertigt werden. Zollgebühren
und Lagerkosten werden an die israelische Regierung
gezahlt. Dann müssen die Waren auf israelischen
Lastwagen transportiert werden, bevor sie an die
Palästinenser übergeben werden. Wegen des
Paris-Protokolls ist es in der Tat günstiger für die
Hilfsorganisationen, die Lebensmittel von israelischen
Firmen direkt zu kaufen, obwohl sie in Jordanien und
Ägypten billiger sind. Aber dann müssten sie Zölle
bezahlen.
Israel profitiert also von der Besatzung?
Seit 1996 hat Israel sein früheres Außenhandelsdefizit
in einen Überschuss verwandelt. Denn all die Hilfsgelder
für die Palästinenser müssen von Euro und Dollar in
israelisches Geld umgetauscht werden. Daher bekommt die
Zentralbank von Israel eine Menge ausländische Währungen
und verkauft den ausländischen Spendern dafür
israelische Schekel. Die Folge davon ist, dass Israel
gewissermaßen einen Weg gefunden hat, die Besatzung zu
exportieren. Man kann sagen, dass die Besatzung der
palästinensischen Gebiete Israels zweitgrößter
Exportartikel nach der Waffenindustrie geworden ist.
Können Sie uns Zahlen nennen über den wirtschaftlichen
Verlust für die Palästinenser durch die Besatzung?
Das ist ein sehr heikles Thema, den Einkommensverlust
wegen der Zollunion zu ermitteln, die Ausbeutung
palästinensischer Arbeiter, die Enteignung von Land, den
Verlust der Flüchtlinge von 1948 und von 1967, den
Verlust durch Hauszerstörungen. Und wie will man
eigentlich den Verlust von Leben oder den Verlust an
Gesundheit für die Palästinenser berechnen?
Verursacht die Besatzung nicht auch Kosten?
Bis zur ersten Intifada 1987 hat die israelische
Wirtschaft ganz klar von der Besatzung profitiert.
Seither haben die Palästinenser Israel in der Tat
gezwungen, mehr Geld in die Sicherheit zu investieren.
Seit den 1980er-Jahren ist die Besatzung für die
israelische Wirtschaft eine immer größer werdende Last
geworden, da Israel mehr Soldaten einsetzen muss, mehr
Ausrüstung, Kameras, Zäune.
Und was kostet die Aufrechterhaltung der Besatzung den
Staat Israel?
Das ist schwer zu beziffern, aber meiner Schätzung
zufolge kostet die Besatzung Israel pro Jahr etwa neun
Milliarden US-Dollar. Davon entfallen etwa drei
Milliarden auf staatliche Beihilfen an Siedler, da
Israel die Siedlungen subventioniert. Siedler erhalten
bessere Bildung, gratis Land und bezahlen weniger
Steuern. Es gibt eine Liste an Subventionen, mit denen
Israel es Israelis schmackhaft macht, in die besetzten
Gebiete zu ziehen und Siedler zu werden.
Was wäre Ihr Wunsch an die ausländische Politik, an
Deutschland, an die Europäische Union?
Die EU muss viel strenger mit Israel sein. Die Europäer
müssen aufhören, so viel Angst zu haben. Ich meine, sie
sind in der Lage, die Besatzung sofort zu beenden, dazu
gehört gar nicht viel.
Was schlagen Sie vor?
Zuerst sollten Israelis ein Visum benötigen, um in die
Europäische Union einzureisen. Israelische
Kriegsverbrecher sollten vor Gericht gestellt werden,
wenn sie auf europäischem Boden landen. Israels
Handelsvorteile sollten aufgehoben werden, bis es die
Mindestanforderungen des internationalen Rechts erfüllt.
Ein Boykott?
Wir sprechen nicht über einen vollen Boykott, den ich im
Übrigen unterstütze. Was ich gesagt habe, ist bereits
ausreichend, um Israels Politik zu ändern. Denn Israel
ist sehr von Europa abhängig. Wenn die Elite in Israel -
die Reichen, die am meisten zu verlieren haben und die
am meisten Einfluss auf die Regierung haben - der
israelischen Regierung sagt: Wegen eurer Taten können
wir keine Geschäfte mehr in Europa machen, deshalb
verlegen wir unsere Firmenzentrale in ein anderes Land,
dann wird die israelische Regierung ihre Politik
augenblicklich ändern.
INTERVIEW: JOHANNES ZANG