Vier Jahre Intifada
Eskalation der Angriffe und Verrohung der Vorgehensweise auf beiden
Seiten
Patriarch Michel Sabbah: Die Besatzung ist das grundlegende Übel
DT vom
28.09.2004
von Johannes Zang
Der Gedanke an das nächtliche Klacken der
Gewehre in den Straßen Bethlehems lässt Deborah Stock heute noch
erschauern. Als sich der palästinensische Widerstand zu formieren
begann, hielt sich die junge Töpferin aus Schleswig-Holstein gerade
in der Geburtsstadt Jesu auf. Es waren die ersten Tage der
„Al-Aqsa-Intifada“. Heute vor vier Jahren hat sie begonnen.
Wie konnte es damals überhaupt zu einem
zweiten palästinensischen Volksaufstand kommen, inmitten des
Oslo-Friedens-prozesses? Margret Johannsen, Politikwissenschaftlerin
und Nahostexpertin am Institut für Friedensforschung und
Sicherheitspolitik der Universität Hamburg, sieht den Grund in der
Enttäuschung der Palästinenser über den Friedensprozess, „der aus
ihrer Sicht keiner war, sondern ein Vorwand für Israel, die
Besiedlung der besetzten Gebiete voranzutreiben. Überdies
verschlechterte sich infolge häufiger und langandauernder
Abriegelungen die wirtschaftliche Lage, sodass von einer erhofften
Friedensdividende keine Rede sein konnte.“
Diese wirtschaftliche Lage hat sich im Laufe
der Intifada noch einmal verschlechtert. Schon im März 2002 schätzte
die Weltbank, dass die palästinensische Wirtschaft im Falle einer
Aufhebung der Abriegelung mindestens zwei Jahre brauche, um auf den
Gehaltsstand vor der Intifada zu kommen. Und die israelische Seite
sprach schon im Jahr 2001 vom geringsten Wirtschaftswachstum seit
1953.
Allein während der israelischen Invasion im
März und April 2002 hat die israelische Armee Sachwerte in Höhe von
361 Millionen Dollar zerstört und geplündert, so die Schätzungen der
internationalen Geber. Hunderte von Gebäuden wurden komplett, mehr
als zehntausend teilweise zerstört, darunter dreißig Moscheen und
zwölf Kirchen.
Vier Jahre Intifada: beide Seiten leben
seitdem in noch größerer Angst voreinander als zuvor. Während
zwischen 1967 und 1999 der „Jahresdurchschnitt“ der
palästinensischen Anschläge in Jerusalem bei elf Angriffen lag,
stieg diese Zahl zwischen dem Intifadabeginn und dem ersten Halbjahr
2003 auf fünfzig an.
Besonders betroffen ist Hebron, die Stadt
Abrahams
Für die palästinensischen Gebiete bedeuteten
die vergangenen vier Jahre wiederholte Invasionen in das autonome
Gebiet, verbunden mit Razzien, Verhaftungen und Ausgangssperren.
Besonders traf dies die Menschen in Hebron, der Stadt, in der
Abraham begraben liegt. Dort herrschte vom 25. Juni 2002 bis zum 3.
August 2004 während insgesamt 5828 Stunden Ausgangsverbot, das sind
mehr als siebeneinhalb Stunden pro Tag, so die Zahlen des
palästinensischen roten Halbmondes. Anfang und Ende des Verbots
waren dabei nicht absehbar, manchmal dauerte das Ausgangsverbot
sechs Tage und Nächte ohne Unterbrechung an. Gerade für Kleinkinder,
schwangere Frauen und Kranke kann dies lebensbedrohlich sein.
Die vergangenen vier Jahre brachten auch eine
Eskalation der Angriffe und eine Verrohung der Vorgehensweise mit
sich. Da sprengt sich am Vorabend des Pessach-Festes ein junger
Palästinenser in einem Hotel unter Festgästen in die Luft, dort
greifen israelische Soldaten gezielt Journalisten, diensttuende
Ärzte, Ambulanzwagenfahrer und Krankenhäuser an. Dabei kam auch der
deutsche, bei Bethlehem lebende Arzt Harry Fischer ums Leben, als er
einem Nachbarn Hilfe leisten wollte.
Die israelische Menschenrechtsorganisation „B’tselem“
legt die Daten vom Beginn des Aufstandes bis zum 12. Juli diesen
Jahres vor: 3031 Palästinenser kamen ums Leben, also zwei Menschen
pro Tag, zum überwiegenden Teil durch das israelische Militär.
Zugenommen haben die israelischen „Exekutionen ohne Prozess“ mit
Hilfe lasergesteuerter Raketen aus Kampfhubschraubern. Die
israelischen Streitkräfte nehmen dabei das Leben unschuldiger
Passanten in Kauf.
Laut „B’tselem“ kamen im genannten Zeitraum
615 israelische Zivilisten ums Leben, etwas mehr als ein Drittel
davon in den palästinensischen Gebieten. Zusätzlich verloren 284
Mitglieder der israelischen Streitkräfte ihr Leben. Erschreckend ist
die Zahl der getöteten Kinder. Allein dreißig Kinder unter fünf
Jahren kamen auf palästinensischer, 23 auf israelische Seite ums
Leben. Darunter auch ein israelisches Neugeborenes. Die Zahl der
verwundeten und behindert bleibenden Menschen ist längst
fünfstellig.
Was unterscheidet diese Intifada von der
ersten? Margret Johannsen kennzeichnet die erste Intifada „vor allem
als eine Bürgerbewegung mit Aktionen, die sich auf den gewaltlosen
Widerstand stützten“. Die zweite Intifada sei erst nach einigen
Wochen, in denen der überwiegend gewaltlose Widerstand viele Tote
unter den Paläs-tinensern gefordert hatte, militarisiert worden.
„Dazu haben sowohl die israelischen Streitkräfte mit ihrer Strategie
der harten Hand beigetragen, als auch die diversen substaatlichen
Gruppierungen der Palästinenser, die im Gegensatz zur ersten
Intifada auf den bewaffneten Kampf setzten.“
Die zweite Intifada betrifft auf
palästinensischer Seite mehr als auf der israelischen alle Bereiche
des täglichen Lebens: auch die Bildung. Schulen wurden beschossen,
Hunderte von Schultagen sind ausgefallen, Studenten und Professoren
konnten wegen zusätzlicher Kontrollpunkte ihre Universitäten gar
nicht oder nur verspätet erreichen. Mehr als hundert Kontrollpunkte,
kombiniert mit Straßensperren, teilen das Westjordanland in feinste,
voneinander getrennten Inseln.
Die israelische Journalistin Amira Hass setzt
sich damit auseinander, ob die israelische Gesellschaft überhaupt
noch den allgemeinen palästinensischen Widerstandskampf wahrnimmt?
„Kann sie die notwendige innere Revolution vollziehen, um sich
wirklich von den kolonialistischen Merkmalen des Staates Israel zu
trennen?“, fragt die einzige israelische Journalistin, die auf
palästinensischer Seite lebt.
Michel Sabbah, der palästinensisch-stämmige
katholische Patriarch von Jerusalem sieht das grundlegende Übel –
genau wie die Journalistin Hass – in der Besatzung, das beendet
werden müsse. Erst dann werde das Land Sicherheit sehen und in
Frieden leben. Der Palästinenser dürfe nicht Opfer der Unterdrückung
und der Israeli nicht Opfer seiner Angst bleiben. „Der Unterdrückung
ein Ende setzen, heißt gleichzeitig, der Angst und Unsicherheit ein
Ende setzen.“
Die Homepage von Johannes Zang:
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