Prof. Dr. Ernst Tugendhat, emeritierter
Professor für Philosophie an der FU Berlin,
Schirmherr der Nakba-Ausstellung im evangelischen Gemeindehaus „Lamm“ am
Markt in Tübingen vom 13.- 26.6.2010
Rede zur Eröffnung am 13.6.2010
Ich habe die Schirmherrschaft über diese Ausstellung über das Schicksal
der palästinensischen Flüchtlinge gerne übernommen. Erstens weil diese
Ausstellung nach meiner Meinung vorzüglich zusammengestellt ist und ein
wichtiges aufklärerisches Potenzial hat und zweitens, weil ich zu
denjenigen Juden gehöre, die angesichts des dauernden Unrechts, das vom
israelischen Staat an den Palästinensern verübt und von der großen
Mehrheit der israelischen Bevölkerung mitgetragen wird, mit Scham, ja
mit Fassungslosigkeit dastehen. Wie kommt es, so fragen wir uns, dass
ausgerechnet Teile, ja große Teile, dieses unseres Volkes, das sein
Überleben über die Jahrhunderte hinweg einer religiös-moralischen
Tradition verdankt, der zufolge alle Menschen, auch die Fremden, die
anderen, zu respektieren sind, eines Volkes, das zudem soviel Unrecht
von anderen über sich ergehen lassen musste, bis hin zum totalen
Exterminismus der Nazis, nun ihrerseits eine Haltung so
menschenverachtende Haltung einnehmen. Ich werde nachher auf diese Frage
zurückkommen.
Aber zunächst zur Ausstellung. Es ist ein besonderes Verdienst, dass sie
denjenigen Teil des von Israel an den Palästinensern begangenen Unrechts
darstellt (ohne es ausdrücklich als Unrecht zu bezeichnen), das
scheinbar in der Vergangenheit liegt, in der Vertreibung eines großen
Teils der Palästinenser aus ihrem Land in der Zeit kurz vor und nach der
Ausrufung des israelischen Staates (1947-48). Dieses zurückliegende
Unrecht ist im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit in den Hintergrund
getreten angesichts des neueren Unrechts, das seit 1967 in der
militärischen Besatzung und Unterwanderung von Restpalästina besteht und
täglich neue Formen annimmt. Man muss, wenn man von Unrecht spricht,
unter dem die Palästinenser leiden, zwei Teile der palästinensischen
Bevölkerung unterscheiden, die sich freilich partiell überlappen:
diejenigen, die noch im Lande leben, also seit 1967 unter israelischer
Besatzung in einem weitgehend rechtlosen Zustand sich befinden, und
andererseits die Flüchtlinge, die heute über 4 Millionen betragen und
von denen sehr viele immer noch, seit nunmehr 62 Jahren, mit ihren
Kindern und Kindeskindern ihr Leben in Lagern an den Peripherien von
Palästina fristen, wo sie von der UNO dürftig am Leben erhalten werden.
Und es ist deren Schicksal, das in dieser Ausstellung dargestellt wird.
Sollte es je zu einem Frieden zwischen den Palästinensern und Israel
kommen, müssten nicht nur Israel und die in Palästina verbliebenen
Palästinenser sich in ihrem Existenzrecht und in ihrem
Sicherheitsbedürfnis wechselseitig anerkennen, auch die Flüchtlinge
müssten in ihrem Rückkehrrecht anerkannt werden. Das setzt voraus, dass
Israel für ihre Flucht verantwortlich zu machen ist. Und das ist der
Fall, weil, egal wie ihre Flucht im Einzelnen verlaufen ist, Israel
allemal dadurch die Verantwortung für ihren Flüchtlingsstatus übernommen
hat, dass es die Rückkehr für illegal erklärte und das zurückliegende
Eigentum konfiszierte.
Die Ausstellung stellt diese Flucht und ihre Vorgeschichte sowie die
jetzige Lage der Flüchtlinge in außerordentlich prägnanter und
aufklärender Weise dar. Das Bewusstsein, das in Deutschland und in der
Weltöffentlichkeit von den damaligen Ereignissen besteht, ist in Vielem
korrekturbedürftig. Ich muss jedenfalls für meine Person bekennen, dass
mein Verständnis des Geschehens in den Jahren 1947 und 48 durch diese
Ausstellung in wesentlichen Punkten korrigiert worden ist. Ich hatte z.B.
nicht gewusst, in welchem Ausmaß die Väter des Zionismus wie Ben Gurion
und sogar schon Theodor Herzl von vornherein der Meinung waren, dass der
jüdische Staat nur durch eine Aussiedlung der palästinensischen
Bevölkerung zu erreichen sein würde.
Es ist ferner ein Verdienst der Ausstellung, dass sie rein deskriptiv
ist und alle wertenden Stellungnahmen vermeidet. Von Unrecht ist
nirgends die Rede. Nur ich, der ich nur Schirmherr bin, und nicht zu den
Verfassern gehöre, erlaube mir, solche wertenden Folgerungen zu ziehen.
Es wäre dieser Ausstellung zu wünschen, dass sie auch in Israel (auf
Hebräisch oder Englisch) gezeigt werden könnte. Aber sie ist auch für
Deutschland wichtig genug. Es gibt in Deutschland immer noch die weit
verbreitete Meinung, dass eine Kritik an Israel oder überhaupt an Juden
oder auch nur, wie in diesem Fall, die Darstellung von Fakten, die für
das israelische Selbstverständnis ungünstig sind, einem Deutschen nicht
anstehe. Vielleicht war diese Haltung in den ersten Nachkriegsjahren
verständlich, heute ist sie es nicht mehr. Wenn man es sich verbietet,
bestimmte Menschen oder eine Nation kritisieren zu dürfen, gewinnt man
ein unfreies Verhältnis zu ihnen, man wickelt sie gewissermaßen in
Watte. In Wirklichkeit lässt sich Kritik von Antisemitismus klar
unterscheiden. Antisemit ist, wer Juden schon als solche, einfach weil
sie Juden sind, für schlecht hält. Wer hingegen Juden, nur weil sie
Juden sind, für gut, für nicht kritisierbar erklärt, ist, was man als
einen Philosemiten bezeichnen kann. Es ist leicht zu sehen, dass der
Philosemitismus in der Befürchtung gründet, als Antisemit zu erscheinen
und also im Antisemitismus seinen Grund hat. Man kann sich vom
Antisemitismus nicht befreien, indem man Juden für nicht kritisierbar
erklärt, sondern nur, indem man sich zu ihnen wie zu normalen Menschen
verhält, die wie alle Menschen je nach den Umständen, in dem, was sie
tun, kritisiert oder gelobt werden können. Man darf Gut und Schlecht
nicht substanzialisieren: nicht Personen oder gar Völker sind an und für
sich gut oder schlecht, sondern gut oder schlecht sind ihre Handlungen,
und ein und dieselbe Person kann einmal gut und ein anderes Mal schlecht
handeln, einmal im Recht und einmal im Unrecht sein, oder auch einmal
Opfer und ein anderes mal Täter. Das sind Trivialitäten, aber in
Deutschland besteht ein Aufholbedarf, um aus dem Gespinst von
Antisemitismus und Philosemitismus herauszukommen.
Für die vorliegende Ausstellung kann ich bezeugen, dass nicht in einem
einzigen Satz dieser Texte auch nur ein Hauch von Antisemitismus zu
finden ist. Hingegen stellt die Ausstellung einen mutigen Beitrag dar
zur Entkrampfung im Verhältnis der Deutschen zu Israel und damit zu uns
Juden überhaupt. Israel ist in der international isolierten Lage, in die
es sich verstrickt hat, wirklicher Freunde bedürftig und nicht solcher,
die ihm aus Philosemitismus nach dem Munde reden.
Zum Schluss möchte ich noch auf die Frage eingehen, die ich am Anfang
gestellt habe, die, wie man es sich verständlich machen kann, dass in
Israel soviel Arroganz gegenüber den Palästinensern besteht und so wenig
Respekt für ihre Rechte als Menschen:
Die gegenwärtige Ausstellung stützt sich an mehreren Stellen auf
Ergebnisse von israelischen Historikern, die das historische
Selbstverständnis der israelischen Nation in Frage stellen. Aber auch
diese Kritiker halten, soweit ich ihre Schriften kenne, am Zionismus als
solchem fest. So schreibt z.B. Simcha Flapan in seinem lehrreichen Buch
„Die Geburt Israels“: „Ich bin nie der Meinung gewesen, dass der
Zionismus zwangsläufig mit den Rechten der Palästinenser kollidieren
muss, und ich glaube das auch heute nicht.“ (S.19). Ich halte das für
einen Irrtum. Die Idee eines essentiell jüdischen Staates auf dem
Territorium einer nicht-jüdischen Bevölkerung – und das war die
Grundidee des Zionismus – musste, meine ich, notwendig zum
Nicht-wahr-haben-wollen der Rechte dieser Bevölkerung führen. Die
ethnische Intoleranz war in der Idee eines sich ethnisch verstehenden
Judenstaates in Palästina vorprogrammiert, und die Väter des Zionismus
hatten das gewusst. Sie haben freilich geglaubt, dieses Problem durch
eine einmalige Vertreibung lösen zu können, während doch Aktion zu
Reaktion führt.
Zwar gehört zur jüdischen Tradition der moralisch-universalistische
Strang, den ich eingangs erwähnte, aber es gibt im Judentum auch, schon
seit Esra und Nehemia, einen partikularistischen, ethnozentrischen
Strang, die ausschließliche Sorge nur um das Überleben des eigenen
Kollektivs verbunden mit dem Gefühl des Auserwähltseins, und der
Zionismus ist aus diesem ethnozentrischen Strang erwachsen.
Dass die zionistische Idee, als sie Ende des 19. Jahrhunderts aufkam,
nicht als so phantastisch angesehen wurde, wie sie war, obwohl viele
Juden vor ihr warnten, lag zum Teil an dem Druck, dem man sich durch den
Antisemitismus ausgesetzt sah, aber auch an der damals noch
selbstverständlichen kolonialistischen Mentalität Europas. Die
Nichtachtung der Rechte der Palästinenser war bei den Zionisten ähnlich
wie die Nichtachtung der Rechte der verschiedenen Bevölkerungen in den
europäischen Kolonien. Nur dass diese kolonialistische Mentalität sich
bei den Zionisten noch dadurch verfestigt hat, dass sie keine nationale
Ausgangsbasis hatten und in der Idee eines jüdischen Staates in
Palästina ihre eigene Identität fanden. So lässt sich verstehen, dass
man in Israel in diesem kollektiven Bewusstsein stecken geblieben ist,
als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der Kolonialismus in Europa
schon diskreditiert war und das Recht auf Selbstbestimmung und die Idee
der gleichen Rechte heute selbstverständlich erscheinen.
Wenn man sich diese Zusammenhänge klar macht, lässt sich erkennen, wie
groß die Aufgabe eines grundsätzlichen Bewusstseinswandels ist, vor der
die israelische Nation heute steht. Könnte es gelingen, das Steuer
herumzureißen? Jetzt, da der israelische Staat eine Tatsache ist,
müssten die Palästinenser ihn in seinem Existenzrecht und in seinem
Sicherheitsbedürfnis anerkennen. Aber das kann man von ihnen nicht
erwarten, solange ihre eigenen Rechte nicht von Israel anerkannt werden.
Wird die israelische Nation die Rechte der Palästinenser anerkennen
können? Es fällt schwer, sich das konkret vorzustellen angesichts der
über 300.00 jüdischen Siedler im Westjordanland, und es ist ebenso
schwer, es sich vorzustellen angesichts des palästinensischen
Flüchtlingsproblems. Das eine wie das andere sind Hypotheken, die Israel
sich durch sein zionistisches Selbstverständnis aufgebürdet hat.
Frieden, wirklicher Frieden, wäre nicht schon durch die
Zweistaatenlösung zu erreichen, sondern nur durch die gegenseitige
Anerkennung der beiden Bevölkerungen in ihren Rechten und als Gleiche:
die Grundlage von Moral und Recht und so auch des Friedens. Bisher gibt
es nur sehr vereinzelt Verständigungsversuche in kleinen Gruppen, die
jedoch zeigen, was wir auch sonst wissen, dass, wenn Menschen sich
wechselseitig in ihrer Gleichheit als Menschen erfahren, dies zu einem
Gefühl von Glück führen kann, und sie zeigen auch, dass beide
Bevölkerungen durchaus die Fähigkeit haben, aufeinander zuzugehen. So
schwer vorstellbar also eine Verständigung im Ganzen erscheinen mag, sie
ist nicht undenkbar, man kann und muss auf sie setzen, eine andere
sinnvolle Option gibt es nicht.
Das waren meine persönlichen Meinungen, nicht die der Ausstellung. Die
Ausstellung stellt die Situation der palästinensischen Flüchtlinge dar,
wie sie entstanden ist und wie sie jetzt aussieht, und enthält keine
wertenden Beurteilungen.
Prof. Dr. Ernst Tugendhat, emeritierter Professor für Philosophie
an der FU Berlin,
ist Schirmherr der *Wanderausstellung "Die Nakba - Flucht und
Vertreibung der Palästinenser 1948"
*im evangelischen Gemeindehaus "Lamm" am Markt in *Tübingen
vom 13.- 26.6.2010*
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