Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrter Herr Minister Steinmeier,
wie Präsident George W. Bush,
Generalsekretär Ban Ki-Moon und Javier Solana u.a. haben Sie sich
beeilt, das Attentat auf die "Merkaz HaRav Jeschiva", dem acht
Schüler zum Opfer fielen, aufs Schärfste zu verurteilen und Ihr
tiefes Mitgefühl den Angehörigen auszusprechen. Dem könnte ich mich
uneingeschränkt anschließen (denn Gewalttaten dieser Art sind nie zu
rechtfertigen), wenn Sie sich auch in den Tagen zuvor entsetzt
gezeigt hätten über das Massaker an über 130 Palästinensern,
die meisten Zivilisten, darunter 39 Kinder und 10 Frauen. Ihr
Schweigen dazu offenbart einmal mehr, dass mit zweierlei Maß
gemessen wird. Ist das Leben der Palästinenser weniger wert? Müssten
wir für sie nicht auch aufschreien und Mitgefühl zeigen?
Tote Israelis werden als Opfer des
Terrors gesehen, während die um ein Vielfaches höhere Anzahl der
getöteten Palästinenser "nur" als notwendige Folge des "war on
terror" gesehen und entschuldigt wird. Den Palästinenser wird kein
Recht auf self-defence und Widerstand zugestanden, man unterstellt
ihnen, dass sie von Natur aus gewalttätig und grausam sind. So
erdreistete sich Esther Schapira in der Sendung zum Sabbat (NDR
Info) zu behaupten, wie im Libanonkrieg würden Kinder als
menschliche Schutzschilde missbraucht und Eltern würden sie auf die
Dächer schicken, damit sich die Zahl der getöteten Kinder erhöht!
Dagegen betonen die "Jewish Peace
News", dass man die Terroranschläge im Kontext des Massakers in Gaza
und der brutalen Besatzung, unter der die Palästinenser seit 40
Jahren leiden, sehen muss, sie seien nicht einfach durch grundlosen
Hass oder gar Antisemitismus motiviert. Die humanitäre Situation in
Gaza sei die schlimmste seit 1967 melden Amnesty International und
alle britischen Menschenrechtsorganisationen. Zum Kontext gehöre
ebenfalls, dass "Merkaz HaRav" die Kaderschmiede der
religiös-nationalistischen Siedlerbewegung sei. Von dem fanatischen
Rabbi Kook gegründet, wurde sie zum Zentrum der extremen
zionistischen Ideologie. Sie wurde die Wiege von Gush Emunim, deren
Anhänger in und bei Hebron den Palästinensern das Leben zur Hölle
machen, ihnen das Land streitig machen und glauben, Gott habe allein
ihnen das ganze Land gegeben. Der Anschlag in
Jerusalem ist daher von großer symbolischer Bedeutung, kein Wunder,
dass Hamas ihn feierte als eine gerechte Strafe Gottes. Leider muss
man befürchten, dass wieder unverhältnismäßige Vergeltung die Folge
sein wird.
Und doch wäre ein Frieden
erreichbar, wenn man der überwältigenden Mehrheit der
internationalen Wissenschaftler folgen würde, die sich für Gespräche
mit der demokraisch gewählten Hamas aussprechen, die schon oft einen
beidseitigen Waffenstillstand angeboten und einen einseitigen
Waffenstillstand über Jahre eingehalten hatte. Bitte lesen Sie den
wichtigen Guardian Artikel von Azzam Tamimi vom 3.3.08: "Truce
or Bloodbath"! (Anhang 1) Auch 64% der Israelis haben für
den Dialog mit der Hamas gestimmt. Stattdessen droht der
stellvertretende Verteidigungsminister den Palästinensern mit einem
"Holocaust". Und heute hat Ehud Olmert den Bau von 750 neuen Häusern
in der Siedlung Givat Zeev in der Westbank auf Palästinenserland
nahe Jerusalem gebilligt, insgesamt über 2000 Wohnungen,
obgleich nach Annapolis der Siedlungsbau eingefroren werden sollte.
Aber die ultra orthodoxe Shas Partei hat gedroht, sonst aus der
Regierung auszusteigen. --- Die Berichte häufen sich, dass es seit
2006 ein Komplott von Israel, den USA und Mahmoud Abbas bzw.
Mohammad Dahlan gibt, die Hamas zu vernichten.Wollen Sie zu
Komplizen werden, indem Sie den schändlichen Boykott von Hamas
weiter unterstützen und zum Aufbau der Truppen von Abbas beitragen?
Werden Sie, wenn Sie jetzt
nach Israel reisen, zu allem schweigen oder Ja und Amen sagen?
Werden Sie Israel der unverbrüchlichen Freundschaft
versichern, auch wenn es im Begriff ist, weitere Massaker zu
begehen?
Oder wäre es nicht an der
Zeit, den Frieden zu retten, indem man zum Dialog ermutigt, sich für
die Versöhnung der Palästinenser einsetzt und an die Verpflichtungen
erinnert, die Israel aber auch den UN-Mitgliedsstaaten aus dem
Urteil des IGH vom 9. Juli 2004
erwachsen sind? (Siehe das Gutachten von John Dugard! Anhang 2).
Die arabischen Staaten fühlen sich
allmählich zum Narren gehalten und wollen ihre Friedensinitiative
zurückziehen.
Die Situation ist so brisant, dass
Sie das Gesetz des Handelns nicht den Falken überlassen dürfen, die
mit noch mehr Gewalt und Krieg drohen. Ein neuer Krieg in Nahost
würde auch den Frieden in Europa aufs Spiel setzen. Frieden in
Nahost darf nicht vom Stärkeren diktiert werden. Die Internationale
Gemeinschaft muss sich für die Rechte des Schwächeren einsetzen. Die
Palästinenser wollen nicht Almosen, sondern die Implementierung des
ihnen zugestandenen Internationalen Rechts.
Könnte nicht die UN wie sie 1947
Geburtshelferin für den Staat Israel war, nach 60 Jahren auch
endlich den Palästinensern zu einem lebensfähigen Staat verhelfen?
so wurde neulich auf einer Tagung in Hofgeismar mit hochrangigen
Nahostkennern gefragt.
Zum Schluss noch eine
Buchempfehlung: Der Nahostkonflikt wird oft als unvermeidbarer "Clash
of Civilizations" dargestellt und Israel als Bastion gegen den
Islam. Davon halte ich nichts und empfehle Ihnen den Gegenentwurf zu
Samuel Huntington, geschrieben von zwei indischen Autoren,
Ilija Trojanow und Ranjit Hoskote: "Kampfabsage". Kulturen bekämpfen
sich nicht...
Last but not least schicke ich
Ihnen das Protokoll des Ökumenischen Rates der Kirchen vom
20. 2. 2008 und die Beschlussfassung seines
Zentralausschusses zur
humanitären Lage im Gazastreifen, sehr wichtig (Anlage 4).
Wenn es möglich ist, sollten Sie
einen Besuch in Bethlehem einplanen und ein Gespräch mit Pastor
Mitri Raheb von der Weihnachtskirche, der in Deutschland studiert
hat.
Mit freundlichen Grüßen und besten
Wünschen
Dugard über die Menschenrechtssituation
- in den seit 1967 besetzten palästinensischen
Gebieten - Die deutsche Übersetzung
wurde vom Munich American Peace Committee
durchgeführt |