Ein offener Brief an Israel
Von Laureen Booth, England, 22. August 2010
An diesem Morgen wollte ich mich hinsetzen und
einen Artikel über die Plünderung der Gaza-Hilfsflotille durch eure
Soldaten schreiben. Wie ihr vielleicht gelesen habt, ist ein IDF-Soldat vom
Militärgericht in Untersuchungshaft genommen worden. Er steht unter
Verdacht, den Passagieren die Laptops gestohlen zu haben. Interessanterweise
schreibt Haaretz nun von einer „Hilfsflotte“, die es ja auch war - statt von
einer Terrorflotte, wie eure Führer sie genannt haben. Aber ich schweife
ab.
Also da war ich und bin bereit, meinen Artikel
zu schreiben, als ich auf einen Artikel in den Ynet-Nachrichten stieß. Er
versuchte den Schrecken auszusprechen, den vielleicht einige bei den
geplünderten Waren fühlten. Ein ranghoher IDF-Offizier sagte über die
Flotillen-Diebe: ‚da muss es in der IDF ein ernstes Problem geben, was die
Werte betrifft’.
Ich schaute mir diese Worte lange an. Und
statt meinen Artikel zu schreiben, entschied ich mich, an dich, Israel,
einen offenen Brief zu schreiben. Weil ich mich nur wundere, wer in aller
Welt erschrickt denn noch über das Verhalten deines Militärs. Das meine ich
wirklich so. Außerhalb der breiten Straßen von Tel Aviv empfindet der Rest
der Welt die Phrase „moralische Armee“ - wenn für die IDF angewandt – als
glatten ( katastrophalen) globalen Witz. …
Bitte, gib mir einen Moment oder zwei, um zu
erklären, warum ich diesen Brief schreibe; denn ich will dich nicht
beleidigen, gewiss nicht mehr als in der Vergangenheit. Statt meine
Hausarbeit zu tun, möchte ich dir eine Frage stellen. Als Mutter und
Mitmensch möchte ich wissen, warum du nicht selbst das Üble siehst, das in
deinem Namen geschieht. Wie kannst du das nicht sehen?
Wie du vielleicht schon weißt, war ich 2008
auf der ersten Free-Gaza-Mission (FGM). Das heißt, dass ich nicht nur das
Vergnügen habe, die feinen Frauen persönlich zu kennen, die die FGM
gründeten. Das heißt auch, dass ich viele Freunde und Kollegen auf der
Flotilla hatte, die von deinem Militär im Mai angegriffen wurde. Du weißt, (
sieh mich als Mutter und nicht als Feind an) keiner dieser feinen Menschen
ist ein Terrorist, der Waffen zu „Extremisten“ bringen will. Sie sind
freundliche, besorgte Bürger der Welt. Leute, die nicht einfach zur
Tagesordnung übergehen können, weil dein Staat, deine Armee, deine Siedler
andere Menschen quälen – jede Minute des Tages, jede Minute des Monats, jede
Minute jedes Jahres. Und das seit 62 Jahren:
Irgendwann kommt ein Zeitpunkt, wo man nicht
mehr sagen kann, ‚Ich wusste nicht, was da vor sich geht.’ Du weißt, was ich
meine? Dieses ganze Theater über das Geschockt-sein über das Verhalten
eurer Soldaten – das lässt Nicht-Israelis nur noch lachen.
Das Plündern eurer Soldaten in diesen Wochen
geschieht nicht zum ersten Mal. Denk mal nach!. Da gibt es eine schreckliche
Menge anderer Beispiele. Das hast du vergessen? Ich will dir helfen.
Nimm einen PC und tippe bei Google ‚IDF-Looting’
ein. Du magst überrascht sein oder auch nicht: Bei diesem Suchen stößt du
auf 64 000 Ergebnisse. Bevor du nun schreist ‚unsere Feinde verbreiten Lügen
über uns’, lies bitte einige Ergebnisse auf der 1. Seite. Dazu brauchst du
nicht lange. OK, warum nicht den ganzen Morgen damit verbringen und all dies
lesen? Schließlich ist es deine Pflicht, zu wissen, was in deinem Namen
geschieht. Ich meine, wenn militärische Verbrechen mit deinen Steuergeldern
begangen werden, dann hast du ein Recht, dies zu wissen.
Einer der Google-Ergebnisse enthüllt, dass ein
IDF-Soldat eingestanden hat, eine Kreditkarte aus einer Wohnung im
nördlichen Gazastreifen bei der Operation Cast Lead gestohlen zu haben.
Erinnerst du dich? Der Soldat in der Givat-Infanterieeinheit .. benützte die
Karte und hob 1600 NIS in Israel ab. Ein kleines Verbrechen. Es ist Teil
eines viel größeren Verbrechens.
Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das
du lieber ignorieren wolltest. Oder ist es absichtlich von deinen Führern
ausgeblendet worden?
Wie ich schon gesagt habe, hast du Zugang zum
Internet, du musst nicht im Dunkeln bleiben. Es sei denn, du fühlst dich
dort wohl.
Die letzte Plünderung von zivilem Besitz durch
die IDF lässt mich an die Familie Al- Samouni denken. Ich traf sie letztes
Jahr auf den Trümmern ihres Hauses in Al-Zaytoun. (Ich hänge ein paar Fotos
an!) Man kann da vage den Namen Al-Samouni erkennen; lass mich Deinem
Gedächtnis nachhelfen: am Samstag den 3. Januar begann der israelische
Überfall auf den Stadtteil Al-Zaytoun. Am folgenden Tag bombardierte dein
Militär diese Gegend. Am 5. Januar bombardierten deine Kräfte noch mal
diese Gegend. Eine der Raketen schlug in die dritte Etage von Tala Hilmi
Al-Samounis Haus. Dann kamen die Soldaten, um zu töten.
Im ganzen wurden 26 Mitglieder nur von dieser
Familie getötet, einschließlich 10 Kindern und 7 Frauen. Das Rote Kreuz
durfte erst drei Tage später die Toten und Verletzten bergen, von denen die
meisten so schwer verletzt waren, dass sie nach Belgien, Ägypten und Saudi
Arabien zur Behandlung gebracht werden mussten.
Erlaube mir, dass ich die Namen aufzähle, da du
sie wahrscheinlich nicht kennst; denn sicher willst du als Mensch ihnen die
letzte Ehre erweisen und vielleicht auch für sie beten.
(hier folgen die Namen der 10 Kinder zwischen 3
und 17 Jahre und die der 7 Frauen zwischen 25 und 50 Jahre und der 9 Männer
zwischen 23 und 70 Jahre….)
Im letzten März wurde ich von den überlebenden
Frauen und Kindern durch die Trümmer ihrer Gemeinschaft geführt. Ich sah die
rassistischen Grafittis an den Wänden des Raumes, wo noch ein
Teenage-Mädchen schläft. Das ist von eurer ‚moralischen Armee’
zurückgelassen worden, einmal auf Hebräisch oder auf Englisch ‚wir werden
zurückkommen’; auch ein derber Cartoon von einem explodierenden Haus mit den
Worten: ’hier seid ihr’. Eine hübsche junge Frau erzählte mir, wie sie kurz
vor dem Angriff heiraten wollte. Ihre Familie hatte ein paar Tausend Dollars
für ihre Aussteuer gespart ( Und viele Leute müssen eine sehr, sehr lange
Zeit sparen) Sie hatte das Ersparte unter einem Bett in einem Koffer
versteckt. Ihre Mutter hatte ein paar seit Generationen vererbte
Schmuckstücke aus Gold. Nun, Deine Soldaten bombardierten diese Leute,
erschossen ihre Kinder und schließlich plünderten sie alles, was die
Überlebenden noch hatten. Ich beschwöre dich, sieh bei Google nach und sieh
in dein eigenes Herz – dann weißt du, dass dies geschehen ist.
Du weißt, wie deine Armee die Palästinenser
ganz absichtlich behandelt.
Bevor du nun „Lügen!“ und „Antisemit!“
schreist, flehe ich dich an: reden wir doch als Mensch zu Mensch im Namen
Gottes aller Religionen, atme tief durch, suspendiere deinen Unglauben noch
etwas länger – dann lies weiter. Nimm nur an, dass ich nicht der Antisemit
bin, den deine extremistischen Unterstützer mir unterstellen. Und wenn von
den 64 000 Google-Beipielen von IDF-Plünderungen wirklich nur 10% wahr sind?
was dann? An was bist du dann mit beteiligt? Was willst du tun, wenn nur
eine Sekunde lang die Wahrheit herauskommt, dass der Rest der Welt, der auf
die Grausamkeiten deiner Führer sieht, deinen Geist und dein Herz erfüllt –
wie es das eines Tages sicher tun wird.
Meine Worte als Außenseiterin werden zweifellos
hart, wenn nicht gar naiv erscheinen. Hier ist etwas aus der heutigen
Jerusalem Post:
‚Nach Informationen, die von der
Menschenrechtsgruppe Yesh Din analysiert wurden, endeten zwischen September
2000 und Ende 2009 weniger als 6% der fast 2000 gerichtlichen Untersuchungen
von IDF-Soldaten , die wegen Verbrechen gegen Palästinenser unter Verdacht
standen, mit Anklagen.
Während derselben Periode wurden – nach
verschiedenen Schätzungen – Tausende von palästinensischen Zivilisten als
Folge von IDF-Aktionen getötet. Wie viele dieser Todesfälle hatten
Verurteilungen zur Folge? Vier. Nicht vier Prozent – nur vier Einzelfälle.
Es wird immer klarer, dass deine jungen Männer
und Frauen so trainiert werden, dass sie sich wie Tiere benehmen. Diese
Vorfälle, das Plündern, die Fotos, die von Eden Abergil ins Internet gesetzt
wurden, können nicht mehr wegerklärt werden, es seien Ausnahmen von
Durchgedrehten. Es liegt nun an dir, Fragen zu stellen, was dies bedeutet.
Es tut mir wirklich leid, wenn dich meine Worte
beleidigt haben. Ich wollte nur einmal direkt mit dir reden.
Übrigens sind etwa 400 Laptops, 600 Handys
und persönliches Bargeld und Wertpapiere, die den Passagieren der
Hilfs-Flotilla gehören, von deinem Militär noch nicht zurückgegeben worden.
Du siehst also, als sie losfuhren, dachten diese guten Leute nicht daran,
dass die IDF sie bestehlen würde.
Mit Grüßen voller Hoffnung
Lareen Booth, England
(dt. und geringfügig gekürzt Ellen Rohlfs)