„Nicht
aufregen – ist doch nur ein weiteres totes
Palästinenserkind!“
Leigh Brady, Defence for Children International,
31.3.06
Am 18. März 2006 besuchte ich eine trauernde Familie in
Al Yanun, einem Ort in der nördlichen Westbank. Die
7-jährige Tochter war in der vorhergehenden Nacht von
der israelischen Grenzpolizei ermordet worden; diese war
in den Ort eingedrungen, um bei einer von den IDF
geleiteten Razzia „gesuchte“ palästinensische Militante
zu verhaften. Ihr Name war Akaber Abdel Rahman Zaid. Sie
war auf dem Weg zum Arzt, der die Fäden einer genähten
Wunde am Kinn ziehen sollte. Stattdessen erhielt sie
eine Ladung Kugeln in den Kopf, als eine
Undercover-Einheit der Grenzpolizei das Feuer auf den
Wagen eröffnete, in dem sie mit ihrem Onkel saß.
Ein IDF-Sprecher sagte, die Polizei habe gedacht, die
gesuchten Militanten versuchten, mit dem Wagen zu
fliehen, und deshalb hätten sie zur Abschreckung auf die
Reifen geschossen. Akabers Onkel aber sagte, dass in dem
Wagen ganz deutlich sichtbar nur er allein und ein
kleines Kind saßen. Die Polizei habe aus nächster Nähe
geschossen. Ein Haaretz-Reporter sah sich danach den
Wagen an und fand, dass alle vier Reifen unbeschädigt
waren. Für eine speziell trainierte Einheit von
Scharfschützen, die aus kurzer Entfernung angeblich auf
die Räder eines Wagens schießen und dann ihr Ziel völlig
verfehlen, ist dies – gelinde gesagt - recht fragwürdig
.
Akaber gehört nun in die Reihe der über 700
palästinensischen Kinder, die von den israelischen
Sicherheitskräften seit September 2000 getötet worden
sind. Wer übernimmt die Verantwortung für ihren Tod? Wer
wird dafür zur Rechenschaft gezogen? Die IDF gab zu,
dass der auf den Wagen schießende Polizist sich nicht an
den Verhaltenskodex für Kampfhandlungen gehalten habe.
Ich würde gerne wissen, was es für Strafen gibt, wenn
man diese Regeln bricht. Ich möchte auch gerne wissen,
welche Strafe der bekommt, der Akaber getötet hat –
falls er überhaupt eine erhält. Die Antwort der Armee
ist bis jetzt nur das folgende euphemistische Statement:
„Die IDF bedauern, dem palästinensischen Kind Leid
zugefügt zu haben; sie wird eine gründliche Untersuchung
der Umstände des Vorfalls unternehmen.“ Wir werden
sehen.
Leider gibt es solche Fälle wie den von Akaber
massenweise. Es ist bereits vielfach dokumentiert
worden, dass die IDF die Regeln ihrer Kampfhandlungen
oft bricht, wenn sie Überfälle in die besetzten Gebiete
unternehmen. Die Soldaten genießen bei Verletzungen
dieser Regeln, wenn dies während der Erfüllung ihres
Dienstes geschieht, vollkommene Straflosigkeit – auch
für das Töten von Kindern. (Diese Straflosigkeit
beeinträchtigt beide möglichen gesetzlichen Mittel der
Rechtshilfe für die Opfer, da Israel nicht nur durchweg
versäumt, die Vergehen der IDF strafrechtlich zu
untersuchen; der Staat schützt sich institutionell auch
selbst hinsichtlich der Staatsverpflichtungen bei
zivilen Verhandlungen und zwar mittels seines sorgfältig
formulierten Schadensersatz-recht- (Staatsverantwortung)
Gesetz 5712-1952.
Ein vor kurzem neu gefasstes Gesetz macht es für
Palästinenser (in der Westbank oder im Gazastreifen,)
die durch israelisches Militär Schaden erlitten haben,
praktisch unmöglich, Ansprüche auf Schadenersatz zu
stellen. Die Neufassung wird auch rück-wirkend auf
Verletzungen/ Schadensfälle, die nach dem 29.September
2000, erlitten wurden oder entstanden sind, angewendet,
auch wenn diese schon den Gerichten unterbreitet worden
sind, aber noch nicht verhandelt wurden. Diese Maßnahmen
verletzen Israels völkerrechtliche Verpflichtungen, nach
denen den Opfern von Menschenrechts-verletzungen
wirksame Abhilfe zur Verfügung gestellt werden muss.
Auf strafrechtlicher Ebene sind in der Vergangenheit
schon einige Versuche gemacht worden, IDF-Offiziere vor
Gericht zu bringen – aber die meisten sind nicht nur
fehlgeschlagen, das Urteil war ein zusätzlicher Schlag
ins Gesicht der Opfer. Nur 5 Tage nach dem Mord an
Akaber, berichtete Haaretz, dass Hauptmann „R“, ein
Soldat der Givati-Brigade, vom Staat Israel 80 000 NIS
Wiedergutmachung gewährt wurden, nach-dem er von der
fünffachen Anklage entlastet worden war, die sich auf
den Mord von Iman Al-Hams, einer 13- jährigen Schülerin
aus dem Gazastreifen bezog. Iman war vom IDF im Oktober
2004 erschossen worden, als sie in die Nähe eines
Außenposten kam. Hauptmann „R“ näherte sich Iman, die
schon verletzt auf dem Boden lag, und erschoss sie aus
nächster Nähe. Aufzeichnungen des Funkgespräches
zwischen den Soldaten während des Vorfalls enthüllten,
dass der Hauptmann dies getan haben soll, „um die Tötung
zu bestätigen“.
Im Gerichtshof widersprach sich „R“: er habe das Feuer
eröffnet, aber nicht direkt auf Iman gezielt, er habe
abschrecken wollen, weil er davon überzeugt war, dass
das Mädchen eine ernsthafte Gefahr gewesen sei. Wie
geistig verwirrt und/oder feige muss ein israelischer
Hauptmann sein, um sich von einem unbewaffneten 13
jährigen Schulmädchen gefährdet zu fühlen, das schon
verletzt und hilflos auf dem Boden liegt?
Absurderweise glaubte der Richter seine Version des
Vorfalles. So läuft die Sache hier: Hauptmann „R“ wurde
entlassen und dann mit einer Wiedergutmachung belohnt
und zusätzlich zum Major befördert. Imans Familie musste
so zusätzlich zum Verlust ihres Kindes eine weitere
große Ungerechtigkeit hinnehmen.
Laut Büro des israelischen Gerichtsanwalts sind zwischen
September 2000 und Juni 2005 nur 131 strafrechtliche
Untersuchungen wegen unrechtmäßiger Tötung und
Verletzung von Palästinensern durch israelisches Militär
durchgeführt worden, was im weiteren zu 28 Anklagen und
zu nur sieben Verurteilungen führte.
Doch die israelische Menschenrechtsgruppe B’tselem
dokumentierte die Tötung von mindestens 1722
Palästinensern außerhalb jeglicher Kampfsituation durch
israelischer Soldaten während dieses Zeitraumes. Nach
der palästinensischen Abteilung von „Defense for
Children International“ sind mehr als 2/3 der Getöteten
Kinder.
Diese Zahlen enthüllen Israels radikale Praxis der
Straflosigkeit und lassen mich immer fassungsloser
werden, ja, versetzen mich wie in einen Schockzustand.
Die reine Tat-sache, dass Israel ungeschoren davon
kommt, wenn es Hunderte und aber Hunderte unschuldige
Kinder mordet, ohne dass es dafür irgendwelche
Konsequenzen gibt, ist so abscheulich, so unglaublich,
dass ich wie gelähmt bin. Es macht einen hilflos,
unfähig zu handeln, unfähig sich auf Aktionen zu
besinnen, um die Situation zu ändern. Nachdem ich mich
eine Zeitlang mit diesen Problemen täglich beschäftigt
habe, war ich in Gefahr, total abzustumpfen und infolge
dessen bei jedem neuen Vorfall gefühlskälter zu werden,
wie so viele unbeteiligte Zuschauer vor mir. Nach außen
hin sieht dies wie Resignation aus. Das ist es oft auch.
Und Israel rechnet damit. Und sogar die Außenwelt wird
immun dagegen, ihr, die Leser, werdet immun; eure
Schwelle, solche Grausamkeiten zu ertragen wird höher.
Das wird erwartet – wir müssen uns alle vor solchen
Schrecken des täglichen Lebens schützen, um zu überleben
. Das Fell wird dicker. Aber täuschen wir uns nicht mit
dem Gedanken, wir könnten nichts an dieser Situation
verändern.
Unsere Gleichgültigkeit beeinflusst bereits die
Situation. Unsere Gleichgültigkeit ist ein wesentlicher
Teil der Gleichung, die die anhaltende Straflosigkeit
überhaupt ermöglicht. Es ist die Gleichgültigkeit, die
das Morden der Kinder ungehindert zulässt. Es ist die
gleiche Gleichgültigkeit, die den Staatsterror
begünstigt und als Reaktion auf diesen andere Formen des
Terrorismus.
Ich bin mit vielen anderen entsetzt, dass dies
unvermindert weitergeht. Natürlich gibt es
Hilfsorganisationen, die es sich zur Aufgabe gemacht
haben, Israels Straflosigkeit anzufechten. Sie wenden
alle ihnen zur Verfügung stehenden Mechanismen an, um
Israels Praxis öffentlich bloßzustellen und den Staat
aufzufordern, Verantwortung zu übernehmen und
Entschädigung für die Opfer zu zahlen.
Fast täglich werden Verlautbarungen voll ernster
Besorgnis und „ urgent calls to action “ veröffentlicht,
Berichte geschrieben und veröffentlicht, Quellenmaterial
zugänglich gemacht, doch alle diese Bemühungen haben nur
symbolischen Charakter, solange die internationale
Gemeinschaft nicht aktiv wird.
Es scheint paradox: die EU und die UN stellen
Mechanismen und Werkzeuge zur Verfügung, mit denen die
zivile Gesellschaft angeblich den politischen und
wirtschaftlichen Einfluss von zwischenstaatlichen
Organisationen kontrollieren und Missstände wie
Menschenrechtsverletzungen durch einen Staat abstellen
können soll. Doch die EU und die UN haben durch die Bank
weg versäumt, ihren politischen Einfluss zu nützen, um
Israels barbarische Politik und Praxis gegen die
Palästinenser zu einem Ende zu bringen. Ist es nicht
eine der Hauptaufgaben von zwischenstaatlichen
Organisationen, die Zivilisten vor massenweisen
Verletzungen der Menschenrechte, die von einem Staat
ausgehen, zu schützen? Die UN-Charta stellt eindeutig
fest, dass die „Vereinten Nationen universale Achtung
für die Menschenrechte und ihre Einhaltung und
grundsätzliche Freiheiten gewährleisten sollen“ und dass
alle Mitglieder sich verpflichten, gemeinsame und
getrennte Aktionen zusammen mit der Organisation zu
unternehmen, um dies zu erreichen.“
Wenn Israel sich nicht an die Charta hält, warum gibt es
dann keinen wirksamen Druck von Seiten der UN, damit
Israel sich an die Prinzipien der Mitgliedschaft hält?
Das EU-Israel-Assoziationsabkommen, das die politische
und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den beiden
Parteien regelt, hat die Beachtung der Menschenrechte
und die demokratischen Prinzipien als wesentliches
Element des Abkommens zur Bedingung gestellt.
Offensichtlich beachtet Israel bei seiner Behandlung des
von ihm illegal besetzten Volkes die Menschenrechte und
die Demokratie nicht – warum reagiert die EU dann nicht
auf diese Nichteinhaltung? Das Versäumnis der UN und der
EU, ihre Funktion und Stellung gegenüber Israel zu
nützen, um Israel für seine Aktionen verantwortlich zu
machen, entspricht einer aktiven Mitwirkung, Israels
faktische und juristisch bemäntelte Praxis der
Straflosigkeit fortbestehen zu lassen.
Diese deprimierende Tatsache lässt mich nach den Motiven
ihrer Untätigkeit suchen .
Ist es Furcht? Vielleicht fühlen sich die EU und die UN
genau so von Israel bedroht wie Hauptmann „R“ von Iman
al-Hems oder wie die 30 Undercover-Soldaten von der
7-jährigen Akaber . Fürchten sie sich, dass bei offener
Kritik an Israel das ganze geo-politische Gleichgewicht
auseinanderfallen würde? Fürchten sie, dass die USA
wirklich in der Position wären, jeden, der bereit wäre,
auf die dringenden Bitten von Hilfsorganisationen
zugunsten der Palästinenser politisch zu intervenieren,
zu verbannen? Fürchten sie so sehr, als Antisemiten
angeprangert zu werden, dass sie nicht weiter gehen
können, als eklatante Verletzungen der Menschenrechte
„nicht gut zu heißen“. Doch wie kann es sein, dass die
Furcht sich über ihre Menschlichkeit hinwegsetzt?
Von der Perspektive der palästinensischen Kinder muss es
so aussehen, als ob sogar das blutigste und
erschreckendste Massaker nicht genug ist, um diese
überstaatlichen Mächte zu Aktionen zu motivieren.
Nach Hunderten von toten palästinensischen Kindern und
Hunderten von „dringenden Appellen“ an die
internationale Gemeinschaft, die auf taube Ohren
stießen, ist es einfach, die gefährliche Haltung „Warum
es überhaupt noch versuchen?“ einzunehmen. Wie schon
oben erwähnt: Israel rechnet damit.
Die Besatzung ist erfolgreich bei Millionen von Menschen
innerhalb der besetzten Gebiete und innerhalb Israels,
in Europa und Amerika und im Rest der Welt, die sich und
andern sagen: „Ja, das ist eindeutig falsch und
ungerecht, aber warum sollte ich das zu ändern
versuchen, wenn Bemühungen en masse bis jetzt nicht in
der Lage waren, dies zu beenden?“ Während dies eine ganz
normale Reaktion sein mag, sollte es für Menschen auch
normal und notwendig sein, neue Motivationen zu finden,
um erneut und mit neuen Mitteln Wege der Veränderung zu
finden.
Ich rufe die Politiker auf, ihre Motive hinter ihrer
Untätigkeit neu zu überdenken, und ich rufe die
Zuschauer überall in der Welt auf, gegen die
Gefühllosigkeit und Banalität zu kämpfen, die sich
unbewegt ansieht und anhört, wie ein Kind nach dem
andern getötet wird. Wir müssen etwas unternehmen, um
den Palästinensern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Wie es die US-amerikanische Menschenrechtsaktivistin
Rachel Corrie in einem ihrer Tagebucheinträge nur wenige
Monate, bevor sie im März 2003 von einem israelischen
Armeebulldozer zu Tode zermalmt wurde, schrieb: „Das
muss aufhören. Ich denke es wäre eine gute Idee. dass
wir alle alles stehen und liegen lassen und unser Leben
dafür geben, dass dies hier ein Ende findet..“
Leigh Brady aus Irland, lebt seit Mai 2005 in der
Westbank. Sie arbeitet für die palästinensische
Abteilung der internationalen Kinderrechte-Organisation
„ Defence for Children International “.
Vgl. auch Gideon Levy, Haaretz 17.10.2004,“ Dass wir
Kinder töten, regt hier niemanden mehr auf.“
(dt. Ellen Rohlfs und Christoph Glanz)
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