Mit dem Bulldozer in Dschenin (Jenin) -
Dokument:
(07.08.2002) Israels auflagenstärkste
Zeitung veröffentlichte Augenzeugenbericht eines israelischen
Soldaten zu Vorgängen in Dschenin. Ossietzky-Preisträger Averny
stuft Bericht als sicher ein. ...
In Israels auflagenstärkster Zeitung Yediot Aharonot,
einem Boulevardblatt, erschien – wie uns Uri Avnery, der diesjährige
Träger des Carl-von-Ossietzky-Preises, mitteilte – der erste absolut
sichere Bericht eines israelischen Augenzeugen über das, was in dem
palästinensischen Flüchtlingslager Dschenin geschehen ist. Dieser
hier auszugsweise wiedergegebene Bericht, übersetzt von Ellen
Rohlfs, stammt von einem Reservesoldaten, der an der Militäraktion
beteiligt war und darauf auch noch stolz ist. Nach der
Veröffentlichung wurde die Einheit, zu der er gehört, für
hervorragende Leistung geehrt. Mosche Nissim, der Erzähler, wurde in
Dschenin über das Militär-Radio nur »Kurdi-Bär« gerufen – »Bär« nach
dem Bulldozer vom Typ D-9, mit dem er ein Haus nach dem andern
zerstörte. Es gab keinen Soldaten in Dschenin, der diesen Namen
nicht hörte. Kurdi-Bär galt als der Mann, der am hingebungsvollsten
und tapfersten operierte und wahrscheinlich die meiste Zerstörung
anrichtete. 75 Stunden lang saß er ohne Unterbrechung in dem
riesigen Bulldozer. Sprengstoffe explodierten rund um ihn. Und er
machte ein Haus nach dem andern platt.
"Ich begann meinen Reservedienst in
einer Verfassung, wie sie nicht schlechter hätte sein können. Mein
Leben war in den letzten anderthalb Jahren völlig vermurkst. Seit
fast einem halben Jahr war ich von meinem Dienst als Oberinspektor
der Jerusalemer Stadtverwaltung suspendiert. Ich arbeitete dort seit
17 Jahren bis zu jenem verfluchten Tag, dem 20. Januar, genau meinem
40. Geburtstag, als die Polizei kam und mich verhaftete. Sie sagten,
daß ich und meine Kollegen in der Inspektionsgruppe verdächtigt
seien, von Geschäftsleuten bestochen worden zu sein, und daß wir in
der Tat ein korruptes Gesindel seien. Es ist eine schreckliche
Ungerechtigkeit. Ich bin ein freundlicher Kerl, und in diesem Beruf
kommt man mit vielen Leuten zusammen, die man zu inspizieren hat.
Aber Bestechung? Ich? Ich hatte hunderttausende Schekel Schulden,
schon lange vor dieser Geschichte. Hätte ich mich bestechen lassen,
dann hätte ich Geld, aber ich konnte nicht einmal den Rechtsanwalt
bezahlen. Seitdem bin ich suspendiert. Meine Frau wurde auch
rausgeworfen. Und ich habe vier Kinder zu versorgen.
Das war nicht der erste Schlag. Ein paar Monate früher wurde ich am
Rücken verletzt, mein Sohn wurde überfahren und mußte operiert
werden, damit sein Bein gerettet werden konnte. Heute geht es ihm
gut, aber sein und mein großer Traum, daß er mal in der Elf von
Beitar Jerusalem Fußball spielen könnte, dieser Traum ist wohl
ausgeträumt.
Wenn ich mich mal entscheide, etwas zu tun, dann bin ich ein sturer
Kerl. Und dann mach ich es bis zum Ende. Dieses Mal war einer dieser
Momente. Was hab ich nicht alles für sie getan, damit sie mich
nehmen. Ich schickte die Kameraden zum Bataillonskommandeur, um ihn
zu überreden, ich telefonierte mit dem Kompanieführer, ich machte
sie verrückt. Ich versprach zu arbeiten. Ich überredete den
Bataillonskommandeur. Schließlich stimmte er zu und gab mir eine
Chance. Dann sagte ich zu mir selbst: Kurdi, du kannst sie nicht
hängen lassen. Du wirst dieses Mal keinen Unsinn machen.
Es ist komisch, ich wußte nicht mal, wie man mit dem D-9 operiert.
Ich war nie ein Fahrer. Aber ich bat sie, mir die Chance zu geben,
es zu lernen. Bevor wir nach Sichem (Nablus; d. Übers.) gingen, bat
ich einen der Kumpel, es mir zu zeigen. Sie saßen mit mir zwei
Stunden zusammen. Sie zeigten mir, wie man vorwärts fährt und wie
man eine Fläche platt macht. Für mich war das kein Problem. Ich
sagte zu ihnen: Das ist es also. Geht weg und laßt mich arbeiten.
Und so geschah es dann in Dschenin. Vorher hatte ich nie ein Haus
zerstört, nicht mal eine Wand.
Als wir ins Lager kamen, stand der D-9 schon dort. Er war von Sichem
schon herangeholt worden. Das erste, was ich tat, war die
Beitar-Mannschaftsfahne zu befestigen. Ich hatte das schon im Voraus
vorbereitet. Ich wollte, daß mich meine Familie identifizieren
konnte. Ich sagte zu meiner Familie und den Kids: Ihr werdet im
Fernsehen meinen Bulldozer sehen. Wenn Ihr die Beitarflagge seht,
dann bin ich das, der mit ihm arbeitet. Und genau das geschah.
Ich weiß, das klingt verrückt, aber für mich ist das ganz natürlich
– so wie essen.
Sieh hier, den Beitar-Anhänger an meinem Hals. Den nehme ich nie ab.
Ich trage überall die Beitarfahne, wohin ich auch gehe. Sieh, mein
Auto! Alles ist mit diesen Fähnchen bedeckt. So bin ich halt. Beitar
ist wie ein Knoten in meinem Gehirn. Man kann das nicht erklären.
Nach meiner Familie ist dies die wichtigste Sache in meinem Leben
und die einzige Sache, die mich umbringen kann. Zu Hause wird mit
mir besser nicht gesprochen, wenn Beitar ein Spiel verloren hat. So,
nun verstehen Sie, warum die Beitarfahne in Dschenin auf dem
Bulldozer sein mußte. Im Reservedienst waren sie schon an meine
Unterschrift gewöhnt: Mosche Nissim Beitar Jerusalem. Eine Zeitlang
baten sie mich, damit aufzuhören, schließlich gaben sie auf.
In dem Augenblick, als ich mit dem Bulldozer ins Lager fuhr, fing in
meinem Kopf etwas an. Ich wurde wahnsinnig. All die Verzweiflung,
die durch meine persönliche Lage verursacht worden war, verschwand
mit einem Mal. Was drin blieb, war der Zorn über das, was unsern
Kameraden passiert ist. Bis jetzt bin ich davon überzeugt – und so
denken auch die anderen –, wenn man uns früher ins Lager gelassen
hätte mit all unsrer Kraft, dann wären die 24 Soldaten nicht getötet
worden.
In dem Augenblick, in dem ich das erste Mal das Lager betrat, dachte
ich nur daran, wie ich diesen Soldaten helfen kann. Diesen Kämpfern,
Kindern im Alter meines Sohns. Ich konnte nicht begreifen, wie sie
dort gearbeitet haben, wo Bomben bei jedem Schritt, den man macht,
hochgingen. Als mir der erste Auftrag gegeben wurde, im Lager eine
freie Strecke zu machen, verstand ich, was dies für eine Hölle ist.
Mein erster Auftrag, den Soldaten Lebensmittel zu bringen, war
freiwillig. Mir wurde gesagt: Der einzige Weg, um Lebensmittel
hinzubringen, ist der mit dem Bulldozer. Sie haben seit zwei Tagen
nichts gegessen. Du darfst deine Nase nicht nach draußen stecken.
Ich füllte den Bulldozer bis oben hin mit Nahrungsmitteln und fuhr
mit ihm bis zur Tür ihres Postens, damit sie keinen einzigen Schritt
vor ihren Unterschlupf tun müssen. Ein Schritt genügte, um einen Arm
oder ein Bein zu verlieren.
Man konnte nicht sagen, wo Sprengstoff lag. Sie (die
palästinensischen Kämpfer; d. Übers.) hatten Löcher in den Boden
gegraben und mit Sprengstoff gefüllt. Man fängt gerade an
loszufahren, dann berührt man eine an beiden Enden zugeschweißte
Rohrbombe. Wenn man sie berührt, geht sie los. Überall waren solche
Minenfallen. Selbst in den Wänden der Häuser. Du brauchst sie nur zu
berühren, und schon explodierten sie. Oder sie schießen in dem
Augenblick, wo man ein Haus betritt. Es gab Minen in den Straßen, im
Fußboden, zwischen den Wänden. Wenn man irgend etwas öffnet,
explodierte es. Ich sah, wie ein Vogelkäfig in einem Zooladen in die
Luft flog, als wir dort eine breite Trasse freimachten. Ein
fliegender Vogelkäfig! Mir tat der Vogel leid. Sie legten überall
Minen.
Für mich im D-9 war das nichts. Ich kümmerte mich nicht darum. Man
hörte nur die Explosionen. Selbst 80 Kilogramm Explosivstoffe
kratzten nur an der Schaufel meines Bulldozers, der fast 50 Tonnen
wiegt. Er ist ein Monster. Das einzige, was mich beschäftigte, waren
diese Soldaten, die sich nicht wegen Essen und Trinken in Gefahr
bringen sollten.
Wissen Sie, wie ich das 75 Stunden lang ausgehalten habe? Ich bin
nicht aus dem Bulldozer herausgekommen. Ich hatte kein Problem mit
der Müdigkeit. Weil ich die ganze Zeit Whisky getrunken habe. Ich
hatte immer eine Flasche bei mir. Ich hatte mich im voraus damit
eingedeckt und hatte es in meinem Gepäck. Andere nehmen Kleidung
mit, aber ich wußte, was auf mich wartet, also nahm ich Whisky mit
und etwas zum Kauen. Kleider? Ich brauchte sie nicht. Ein Handtuch
war genug. Ich konnte den Bulldozer nicht verlassen. Wenn ich ihn
geöffnet hätte, hätte ich eine Kugel abbekommen.
Was bedeutet es, eine Trasse zu schneiden? Man zerstört Gebäude –
auf beiden Seiten. Anders geht es nicht; denn der Bulldozer ist viel
breiter als ihre Gassen. Aber ich schaute nicht nach
Entschuldigungen. Ich mußte sie wegrasieren. Es war mir völlig egal,
dieses Häuserzerstören, weil es das Leben unserer Soldaten schonte.
Ich arbeitete dort, wo unsere Soldaten umgebracht wurden. Sie
erzählen nicht die ganze Wahrheit über das, was dort geschehen ist.
Sie hatten Löcher in die Wände gebohrt für die Gewehrläufe, um
jeden, der den Explosionen entkommen war, durch diese Löcher zu
erschießen.
Ich hatte mit niemandem Erbarmen. Ich würde jeden mit dem D-9
zerquetschen, damit unsere Soldaten nicht der Gefahr ausgesetzt
werden. Das erzählte ich ihnen. Ich hatte Angst um unsere Soldaten.
Man konnte sie zusammen schlafen sehen, 40 in einem Haus, völlig
zusammengepfercht. Sie taten mir so leid. Darum war es mir auch so
völlig egal, als ich all diese Häuser dem Erdboden gleich machte –
und es waren viele. Am Ende hatte ich hier ein Fußballfeld wie das
Teddy-Stadion in Jerusalem geschaffen. Schwierig? Keineswegs. Das
machte Spaß.
Ich wollte alles zerstören. Ich bat übers Funkgerät die Offiziere,
ob ich nicht alles zerstören kann, von oben bis unten. Alles sollte
eingeebnet werden. Nicht, daß ich töten wollte. Nur die Häuser. Wir
taten denen, die mit weißen Fahnen aus den Häusern kamen, kein Leid
an, als wir mit dem Zerstören begannen. Wir zerquetschen nur die,
die kämpfen wollten.
Keiner weigerte sich, den Befehl, Häuser zu zerstören, auszuführen.
Als mir gesagt wurde, ich solle ein Haus abreißen, ergriff ich die
Gelegenheit, gleich noch ein paar mehr einzureißen, nicht weil ich
das so wollte, sondern weil meist noch andere Häuser dahinter
verborgen waren. Also ging es gar nicht anders. Ich hätte es getan,
selbst wenn ich es nicht gewollt hätte. Sie standen einfach im Weg.
Falls ich ein Haus hätte zerstören sollen, ich hätte es getan, egal
ob Hölle oder Hochwasser gekommen wären. Und glauben Sie mir, wir
haben noch zu wenig zerstört. Das ganze Lager war mit Minen
bestückt. Was tatsächlich das Leben der Palästinenser zunächst
gerettet hatte, wird sie jetzt umbringen, wenn sie zu ihren Häusern
zurückkehren.
Drei Tage lang tat ich nichts anderes als zerstören. Das ganze
Areal. Jedes Haus, aus dem geschossen wurde, wurde demoliert. Und
wenn ich eines niederriß, riß ich noch ein paar mit. Sie wurden,
bevor ich kam, mit Lautsprechern aufgefordert rauszukommen. Aber ich
gab niemandem eine Chance. Ich wartete nicht. Ich klopfte nicht an
und wartete, bis sie rauskamen. Ich rammte einfach das Haus mit
ganzer Kraft, um es so schnell wie möglich zum Zusammenstürzen zu
bringen, um zu andern Häusern zu kommen, um so viel als möglich zu
erwischen. Andere mögen sich zurückgehalten haben, wie sie sagten.
Jeder der dort war und unsere Soldaten in den Häusern sah, verstand,
daß sie in einer Todesfalle saßen. Ich überlegte, wie ich sie retten
kann. Was mit den Palästinensern geschah, war mir völlig egal. Aber
ich zerstörte nicht ohne Grund. Ich tat es auf Befehl.
Viele Leute waren in den Häusern, als wir mit dem Zerstören
begannen. Sie würden schon herauskommen, wenn wir mit der Arbeit
weitermachten. Ich sah mit eigenen Augen nicht, wie Leute unter dem
Bulldozer starben, und ich sah auch nicht, wie Häuser auf lebendige
Menschen fielen. Aber wenn es da welche gab, kümmert es mich nicht.
Ich bin sicher, daß da welche in den Häusern starben, aber das war
schwer zu sehen, denn es gab überall eine Menge Staub, und wir
arbeiteten auch bei Nacht. Es machte Spaß mit jedem Haus, das in
sich zusammenbrach. Es machte ihnen nichts aus zu sterben, aber sie
sorgten sich um das Haus. Wenn Du ein Haus vernichtest, dann
begräbst du 40 bis 50 Leute, Generationen. Wenn mir etwas leid tut,
dann daß ich nicht das ganze Lager abgerissen habe.
Ich hielt nicht einen Moment an. Selbst wenn wir zwei Stunden Pause
hatten, machte ich weiter. Ich bereitete eine Rampe vor, um ein
vierstöckiges Gebäude zu zerstören. Einmal steuerte ich scharf nach
rechts. Eine ganze Wand kam auf uns runter. Da hörte ich im
Funkgerät: Kurdi, paß auf, das ist unser Haus. Dreh weg, da sind
unsere Kameraden drin – sie hatten vergessen, es mir früher zu
sagen. Ich fand viel Befriedigung bei dieser Arbeit. Es machte mir
richtig Spaß. Ich erinnere mich, als ich die Wand eines
vierstöckigen Gebäudes einriß. Es fiel krachend auf meinen
Bulldozer. Mein Partner schrie mich an, zurückzufahren, aber ich
ließ die Wand auf uns fallen. Wir fuhren dann an die anderen Seiten
des Gebäudes, um sie zu rammen. Wenn die Arbeit zu schwer war, baten
wir um Beschießung von einem Panzer aus.
Ich konnte nicht anhalten, ich wollte immer weiterarbeiten. Da war
dieser Golani-Offizier, der uns Befehle gab. Ich machte ihn rasend.
Ich bat um mehr Aufträge. Am Sonntag, nachdem der Kampf vorbei war,
bekamen wir den Befehl, mit unsern Bulldozern abzuziehen und mit der
Arbeit an unserm Fußballstadion aufzuhören, weil die Armee nicht
wollte, daß die Medien mit Kameras uns bei der Arbeit zusahen. Ich
war wütend, denn ich wollte noch das große Denkmal am Ortseingang
von Dschenin, drei Säulen mit dem Bild von Arafat, zerstören. Aber
am Sonntag zogen sie uns weg, bevor ich Zeit hatte, dies zu tun.
Ich weiß, viele Leute denken, daß meine Haltung damit zusammenhängt,
daß ich ein Beitar bin und ein Likudmitglied (Likud ist die größte
Rechtspartei, Beitar eine Jugendorganisation der Rechten; d.
Übers.). Das stimmt. Ich bin ziemlich rechts. Aber das hat nichts
mit dem zu tun, was ich in Dschenin gemacht habe. Ich habe sogar
viele arabische Freunde. Und ich sage, wenn ein Mann nichts getan
hat, dann rühr ihn nicht an. Aber einer, der etwas getan hat, den
häng auf – das ist meine Meinung. Selbst eine schwangere Frau –
erschieße sie ohne Gnade, wenn hinter ihr ein Terrorist ist! So
dachte ich in Dschenin. Ich antwortete keinem. Es war mir völlig
egal. Hauptsache war, unsern Soldaten zu helfen. Wenn man mir drei
Wochen Zeit gegeben hätte, dann hätte ich noch mehr Spaß gehabt.
Dann hätte ich gnadenlos das ganze Lager abgerissen.
All die Menschenrechtsorganisationen und die UN, die sich mit
Dschenin befassen und die all das, was wir dort machten, in ein
Riesenproblem verwandeln, die machen Scheiße und lügen. Eine Menge
dieser Hauswände explodierten von allein bei der geringsten
Berührung. Es stimmt freilich, daß wir in den letzten Tagen das
Lager zertrümmerten. Und es war gerechtfertigt. Sie haben unsere
Soldaten umgebracht. Sie hätten sich ja ergeben können.
Keiner hatte etwas dagegen. Auch ich nicht... Wenn jemand seinen
Mund aufgemacht hätte, ich hätte ihn unter meinem Bulldozer
begraben. Das ist der Grund, warum es mir egal ist, wenn ich die 100
x 100 Meter sehe, die wir flach gemacht haben. Ich habe ihnen ein
Fußballfeld hinterlassen. Nun können sie spielen. Das war unser
Geschenk für das Lager. Das ist doch besser, als sie zu töten. Sie
werden nun ruhig sein. Dschenin wird nicht mehr das sein, was es
einmal war."
*
Nachbemerkung von Uri Avnery:
Dies ist die unglaubliche selbsterzählte Geschichte von Mosche
Nissim, einem Fußballfanatiker und notorischen Unruhestifter, der
seine Kommandeure in der Reserveeinheit um die Chance bittet, ein
Teil der Aktion zu werden. Diese Geschichte mag extrem sein, und
dieser Mann, den der Untersuchungsausschuß des Flüchtlingslagers
gern vorladen würde, müßte auf viele Fragen antworten, aber Mosche
Nissim ist nicht viel anders als Tausende frustrierte und
gewalttätige Fußballfans, die die Städte Europas nach einem
Fußballspiel terrorisieren. Andererseits ist es unvorstellbar, daß
zum Beispiel die britische Armee einen betrunkenen und frustrierten
Fan des Fußballklubs Manchester United mit einem D-9-Bulldozer nach
Belfast schickt. Deshalb müssen die wirklich beunruhigenden Fragen
an ein System gerichtet werden, das ihn mit dem Auftrag der
Zerstörung nach Dschenin geschickt hat. Dieses System ist die
israelische Armee.
1. Welche Armee gibt einen 60 Tonnen schweren, mehrere Millionen
Dollar teuren Bulldozer in die Hände einer Person, die bis dahin nie
so einen Apparat bedient hat? 2. Wie war es möglich, daß seine
Randale weiterging, ohne daß er von einem Offizier, egal welchen
Ranges, gestoppt wurde? 3. Wie kann solch eine Armee darauf
bestehen, sie sei die Armee mit der »höchsten Moral der Welt«? 4.
Macht dieser Bericht klarer, warum sich Israel weigert, die Aktionen
in Dschenin hinterfragen zu lassen? 5. Was geschah in Dschenin?
Erschienen in: Ossietzky 15/02 am 27. Juli 2002
Quelle
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Da stinkt irgendwas
(Jenin)
-
Uri Avnery - Über eine Sache sind sich die,
die hier im Jeniner Flüchtlingslager waren, alle einig. Eine Woche
nach dem Kampf berichten die ausländischen Journalisten und
IDF-Soldaten, die UN-Vertreter und die angeheuerten Schreiberlinge
der israelischen Medien, auch die Mitglieder von
Wohlfahrtsorganisationen und Regierungspropagandisten, dass ein
schrecklicher Gestank von verwesenden Leichen ausgeht, die noch
überall herumliegen.
Ansonsten ist man sich über gar nichts einig. Die Palästinenser
sprechen von einem Massaker, das zu einem 2. Sabra und Shatila wird.
Die IDF reden von einem harten Kampf, in dem "die menschlichste
aller Armeen der Welt" keinen einzigen Zivilisten absichtlich
verletzt hätte.
Die Palästinenser sprechen von Hunderten von Toten, der
Verteidigungsminister behauptet kategorisch, es seien exakt 43
getötet worden.
Wo also liegt die Wahrheit? Die einfache Antwort lautet: keiner
kennt sie. Es ist unmöglich, sie zu wissen. Die Wahrheit liegt unter
den Trümmern begraben und die stinkt abscheulich.
Aber einige Fakten sind unbestritten. Sie genügen, um Schlüsse zu
ziehen.
1. Während der zwei Wochen des Kampfes, erlaubte die IDF keinem
einzigen Journalisten, sei er Israeli oder Ausländer, den Zugang zum
Lager. Selbst als der Kampf langsam aufhörte, wurde kein Journalist
hineingelassen. Der Vorwand lautete, das Leben der Journalisten
würde gefährdet sein. Aber sie baten die Armee ja gar nicht, sie zu
schützen. Sie wären bereit gewesen, ihr Leben zu riskieren, wie
Journalisten und Photographen das in jedem Krieg tun.
Der normale gesunde Menschenverstand schließt aus dem, dass einem
Journalisten
zwangsweise der Zugang verwehrt ist, dass man etwas zu verbergen
hat.
2. Während des Kampfes und danach war es Ambulanzen und
Rettungsteams nicht erlaubt, nah heranzukommen. Diejenigen, die es
trotzdem versuchten, wurden beschossen. Die Folge war, dass die in
den Straßen liegenden Verwundeten zu Tode verbluteten, auch wenn sie
nur relativ leicht verletzt waren. Dies ist ein Kriegsverbrechen,
"ein offensichtlich illegaler Befehl", über dem "die schwarze Flagge
der Illegalität" weht. Nach israelischem Gesetz und noch mehr nach
internationalem Gesetz und nach Konventionen, bei denen Israel ein
Mitglied ist, ist es Soldaten verboten, solch einem Befehl zu
gehorchen.
3.
Man macht keinen Unterschied, ob Zivilisten oder "bewaffnete Männer"
, ob eine Person oder ob Hunderte auf diese Weise sterben. Als eine
Methode der Kriegsführung ist dies unmenschlich.
Einige Journalisten rechtfertigten diese Methode im voraus, da sie
doch angeblich "mit eigenen Augen" gesehen hätten, wie
palästinensische Ambulanzen Waffen transportiert hätten. Selbst wenn
es solch einen Vorfall gegeben hätte, wäre es unter keinen Umständen
gerechtfertigt, solche Methoden anzuwenden. (Bis jetzt ist nur ein
Beispiel nachgewiesen worden: israelische Journalisten berichten in
dieser Woche stolz, dass (isr.) Undercover-Soldaten einen
Ambulanzwagen benützten, um sich einem Haus zu nähern, in dem sich
eine "gesuchte Person" versteckt hatte)
4. Selbst nach dem Ende der Kämpfe und bis jetzt, war es schweren
Geräten und Rettungsteams nicht erlaubt worden, um Schutt und
Leichen wegzuräumen oder um Leute zu retten, die vielleicht noch
lebend unter den Trümmern liegen.
Der Vorwand war wieder der, dass die Leichen vermint sein könnten.
Na, und? Wenn ausländische und örtliche Teams für einen edlen Zweck
ihr Leben riskieren wollen, warum sollte die Armee sie daran
hindern, dies zu tun?
5. Während all der Kampftage war es niemandem erlaubt, Medikamente,
Wasser und
Nahrungsmittel zu bringen. Ich selbst war Teil eines großen Marsches
von Friedensaktivisten, die, nachdem der Kampf vorüber war,
versuchten, einen Konvoi von LKWs zu begleiten, der nötige
Versorgungsmittel ins Lager bringen wollte. Die LKWs durften
scheinbar die Straßensperre passieren, die uns anhielt – später kam
raus, dass die Versorgungsmittel in einem Armeelager ausgeladen
wurden und nur vier LKWs ihr Ziel erreichten. ... Die IDF "säuberte"
ein Teil des Lagers, schaffte die Leichen weg und brachte die Ruinen
irgendwie "in Ordnung" und das war in dem Augenblick als willfährige
Journalisten und naive ausländische Besucher dorthin gebracht
wurden. Dort trafen sie auf menschliche Offiziere, die ihnen
versicherten, dass es keinerlei Massaker gegeben habe. Schließlich
sei ja nur ein winziger Teil des Lagers zerstört, so uns so viele qm
mal so und so viele qm, nichts wirklich. Das erinnert sehr an die
Methoden gewisser Regime....
Uri Avnery - Quelle und mehr |