"Das größte nationale Trauma
seit dem Yom-Kippur-Krieg"
Die meisten Israelis verstehen die Mentalität der
jüdischen Siedler nicht, meint der Psychohistoriker Avner
Falk - Den Gaza-Abzug hält er für richtig
DT vom 19.07.2005
Wenn es so etwas wie einen "Durchschnitts- israeli" gibt:
Interessiert er sich überhaupt für die Situation im
Gazastreifen? Was ist ein Durchschnittsisraeli? Wir sind
doch eine gespaltene Gesellschaft. Aber Ihre Frage
beantworte ich mit: Ja sehr. Die ganze israelische
Öffentlichkeit diskutiert und schreibt darüber, und kämpft.
Da gibt es die orangenen Bändchen der Gegner des Abzugs aus
Gaza und die weiß-blauen der Befürworter eines Abzugs - und
auch viele Autos ohne ein Schleifchen. Manche haben Angst,
die Autoantenne würde abgebrochen, wenn ein weiß-blaues
Bändchen daran flattert. Weiß man in Israel über das Leben
in einer jüdischen Siedlung Bescheid? Nur vom Lesen und
Fernsehen her. Die meisten Israelis - und die sind Laizisten
- , haben noch nie eine Siedlung im Gazastreifen besucht.
Sie verstehen die Mentalität der Siedler nicht. Welche Rolle
spielt der Sicherheitsgedanke der Siedlungen? Das jüdische
Volk fühlt sich durch die Erfahrung des Holocaust immer noch
unsicher ... Die israelische Expansionspolitik hat auch
Sicherheitsgründe. Wenn du dich unsicher fühlst, musst du
dich ständig ausdehnen, um dich sicher zu fühlen. Dabei ist
Israel so klein auf der Landkarte und gleichzeitig der
letzte Fleck, wo wir sicher sind. Die Vernichtungsangst
spielt deshalb eine sehr große Rolle. Sie ist Teil der
nationalen Psychologie - und führt zu einer Menge
Aggression. Die Bedeutung der palästinensischen Stadt Hebron
im Westjordanland für die Juden ist offenkundig: Sie
beherbergt das Grab Abrahams. Warum aber ist Gaza so wichtig
für jüdische Siedler? Gaza war eine Stadt der Philister.
Samson lebte dort. Für die Siedler ist jeder Fleck des
Landes heilig. Dabei ist nicht klar, ob die heiligen Stätten
authentisch sind. Es ist eine Frage des Glaubens - und der
hat seine tiefen emotionalen Wurzeln. Was bedeutet der Abzug
und die Auflösung der Siedlungen für die israelische Nation?
Abzug, Abkoppelung, Loslösung sind psychologische Ausdrücke.
Es geht hier um den Wunsch, aus einer symbiotischen
Beziehung der Verschmelzung zwischen israelischen Juden und
palästinensischen Arabern auszubrechen. Einer Beziehung, die
weder gesund noch nötig ist, weil sie Neid und Hass schafft.
Wir Israelis haben zu den Arabern, unseren Cousins, ein
Hass-Liebe-Verhältnis. Die meisten Israelis denken, dass es
gesünder ist, den Gazastreifen zu verlassen. Jede Gruppe und
Nation braucht Grenzen und eine Identität, die sich von
anderen unterscheidet. Der Abzug legt die Grenzen klar fest
- etwas, was wir seit 1948 noch nie gehabt haben. Somit
müssen wir unsere Grenzen und unsere Identität neu
definieren. Es gibt israelische Stimmen, die angesichts des
Gaza-Abzuges von einer "Spaltung der Nation" und einem
"Trauma" sprechen ... Es ist wahr - es ist ein Trauma auf
persönlicher und auf kollektiver Ebene. Auch für die
Soldaten und die Polizei, die den Abzug koordinieren. Und
die Siedler fühlen sich von der Regierung verraten. Die Idee
von "Großisrael" ist damit vorbei - etwas, was zu dir
gehörte, geht verloren. Das ist das größte nationale Trauma
seit dem Yom-Kippur-Krieg. Das bedarf Trauerarbeit. Eines
der Plakate der Abzugsgegner verkündet "Ein Jude vertreibt
keinen Juden" ... Das hebräische Wort heißt nicht nur
"vertreiben", es heißt auch "deportieren" - und hat damit
den Beigeschmack des Holocaust. Damit macht man Scharon, der
Regierung, den Soldaten und Polizisten und allen
Abzugsgegnern ein Schuldgefühl. Man sagt ihnen quasi: Wenn
ihr Juden deportiert, dann seid ihr wie die deutschen Nazis.
Was erwarten Sie ab Mitte August? Vielleicht ziehen ja viele
der etwa 1 100 Familien schon vorher ab. Es könnte für die
Kinder, aber auch für die Erwachsenen - viele von ihnen
fünfzig, sechzig Jahre alt - sehr traumatisch werden. Sie
alle werden eine niedrige Lebensqualität haben. Und dann der
Umzug an sich: Auch die Kühe müssen ja weggeschafft werden.
Und wenn man es nicht schafft, sie rechtzeitig zu melken,
können sie sterben. Ist der Abzug aus dem Gazastreifen
letztlich ein Hoffnungszeichen für den Nahen Osten? Der
Abzug gibt mir wirklich einige Hoffnung. Er ist ein Schritt
in die richtige Richtung und ein Zeichen psychologischer,
politischer und moralischer Reife. Insgesamt gesehen bin ich
aber nicht so optimistisch. |