Eine Nation
am Rande der Spaltung
Bis zum Rückzug aus dem Gazastreifen sind
es nur noch wenige Wochen - Während die einen Israelis darin
eine Befreiung sehen, sprechen die anderen von einem Trauma
DT vom 19.07.2005
"Ein Jude vertreibt keinen anderen Juden", mahnen die
Plakate an der Hauswand die Autofahrer. Auch an dieser
Kreuzung in Jerusalem warten israelische Jugendliche auf
"Rot", um zwischen die Autos springen und orangene Bänder
verteilen zu können - als Zeichen der Sympathie mit den
Siedlern. Als ob mit jedem weiteren Band der Gaza- Abzug
verhindert werden könnte. Aber tatsächlich scheint das die
Bereitschaft der Autofahrer zu erhöhen, sich ein Bändchen
geben zu lassen: An vielen Fahrzeugen flattern jedenfalls
längst die Schleifen in Orange, und manch ein Fahrer lässt
sich jetzt ein weiteres geben. Andere erlauben den jungen
Gymnasiasten, das Band gleich an den Außenspiegel zu binden.
Die landesweite Kampagne läuft auf Hochtouren. Unterdessen
verkündete soeben ein Mitarbeiter des Generalstabs der
israelischen Verteidigungsstreitkräfte, dass der stufenweise
Abzug aus dem Gazastreifen nicht vor dem 17. August
stattfinden werde. Etwa eintausend Polizisten und Soldaten
sollen am 15. August in die zu räumenden Siedlungen kommen.
Sie werden die etwa siebentausend Siedler offiziell
auffordern, freiwillig und ohne Gewaltanwendung abzuziehen.
Familien, die dem Folge leisten, können ihre Häuser
innerhalb von 48 Stunden verlassen, ohne dass ihr Recht auf
finanzielle Entschädigung beeinträchtigt wird - je nach
Haus-, Familiengröße und Aufenthaltsdauer immerhin zwischen
200 000 und 500 000 Dollar. Der Knessetabgeordnete Benny
Ellon von der Partei "Nationale Union" meint jedoch, die
Siedler hätten ein Recht, "bis zur letzten Minute gegen die
Evakuierung zu kämpfen". Wird es dazu kommen? Oder werden
die Siedler friedlich ihre Häuser räumen? Und wie werden
sich die Palästinenser im Gazastreifen verhalten? Wird es
vielleicht sogar - wie von vielen Israels befürchtet - zu
Auseinandersetzungen zwischen jüdischen Soldaten und
jüdischen Siedlern kommen? Sollten Israels Streitkräfte
tatsächlich gegen genau die Bürger eingesetzt werden, die
sie zu schützen geschworen haben, dann werde das daraus
folgende "Trauma" alle Bereiche des Lebens betreffen,
versichert Michael Freund von der "Jerusalem Post".
"Schmerzhafte Schauder" werden die israelische Gesellschaft
durchfahren - "die man noch in Jahrzehnten spüren wird",
verkündet der Journalist. In seinen Augen "drückt der
Rückzug die Nation an den Rand der Spaltung". Was der
Rückzug aus den Palästinensern im dichtbesiedeltsten Gebiet
der Erde macht, wird in den israelischen Medien kaum
diskutiert. Nur etwas größer als das Stadtgebiet von Bremen,
beherbergt der Gazastreifen rund 1,4 Millionen
Palästinenser. Von ihnen lebt ein Drittel in einem der acht
Flüchtlingslager, die von den Vereinten Nationen unterhalten
werden. Die israelischen Siedlungen erstrecken sich - es
gibt dazu unterschiedliche Angaben - auf fünfzehn bis 25
Prozent des Gazastreifens. Fest steht: Die israelischen
Siedler kontrollieren etwa vierzig Prozent des
landwirtschaftlich nutzbaren Landes und den größten Teil des
Wassers. Dabei machen sie gerade einmal ein halbes Prozent
der Bevölkerung des Streifens aus. Die Siedlungen liegen,
wie die israelische Journalistin Amira Hass aufklärt, "in
den wichtigsten freien Gebieten dieses engen Streifens, in
den schönsten, den Dünen, beziehungsweise an der
beeindruckenden Küste, die, anders als der Rest der Gaza-
Region, mit frischem Wasser gesegnet ist." Über die Zahl der
Siedlungen gibt es unterschiedliche Auffassungen: die
israelische Friedensbewegung "Frieden Jetzt" zählt siebzehn,
während drei palästinensische Organisationen - darunter das
palästinensische Statistikbüro - auf 26 "bebaute israelische
Ortschaften" im Gazastreifen kommen. Neben einigen Straßen
kontrolliert Israel alle Außengrenzen und alle
Grenzübergänge des eingezäunten Gazastreifens. Das wird auch
nach dem Abzug aus Gaza so bleiben. Beim Treffen zwischen
Ariel Scharon und Mahmoud Abbas vor einem Monat kam es weder
zu einer Vereinbarung über die Grenzübergänge noch über die
"sichere Passage" zwischen dem Streifen und dem
Westjordanland, ganz zu schweigen über die Wiedereröffnung
des See- und des Flughafens. "Ohne all das bleibt Gaza, was
es momentan ist: ein riesiger Gulag, zu dem Israel den
Schlüssel hat", folgert die ägyptische Zeitung "Al-Ahram".
Die Wochenzeitung, deren Name "Die Pyramiden" bedeutet,
sieht darin ein "Rezept zum Kollaps". Derweil beschäftigt
die Israelis die Fragen, was aus den zurückgelassenen
Häusern, Feldern und Gewächshäusern der Siedler werden soll.
Vor einem Jahr noch hatte Ariel Scharon vorgeschlagen, diese
einer internationalen Körperschaft zu übergeben. Nun soll er
sich mit Mahmoud Abbas darauf verständigt haben, die Häuser
der Siedler dem Erdboden gleichzumachen. Darüber ist die
Witwe und Siedlerin Simha Rivlin erleichtert. "Das letzte,
was ich für dieses Haus wollte, war, dass es in die Hände
der Leute fällt, die meinen Mann ermordeten, an die
Terroristen." Für Avi Shlaim, den britischen Buchautor von
"Die Eiserne Mauer: Israel und die arabische Welt" ist
dieser "selbstsüchtige und unzivilisierte" Zerstörungsplan
von Scharon "kein historischer Schritt auf dem Weg zum
Frieden". Unterdessen ist die Mehrheit der israelischen
Nation mit den Auswirkungen des Abzuges auf ihr Leben
beschäftigt. Angeblich lassen manche Israelis die orangenen
Schleifchen am Fahrzeug nicht aus ideologischer Überzeugung
durch die heiße Sommerluft flattern. Für sie heißt die Farbe
Orange: Ich bin gegen den Abzug, weil ich die Siedler nicht
in Israel, geschweige denn als Nachbarn haben will.
Unabhängig vom Selbstmordattentat vor einer Woche in Netanya
hat die israelische Regierung den Gazastreifen zum
militärischen Sperrgebiet erklärt. Israelis, die nicht im
Gazastreifen wohnen, können nicht mehr in das Gebiet
einreisen. Mit diesem Schritt will die Regierung Mitglieder
der rechtsgerichteten Extremisten daran hindern, den Plan
der Regierung zu stören. Ein Plan, der, so der Journalist
Michael Freund, für eine "klaffende Wunde in der nationalen
Seele" sorgen wird. Er empfiehlt in seinem Kommentar "Sich
um die Flagge scharen" die Rückbesinnung auf eben diese und
die Nationalhymne. Für ihn die vielleicht "stärksten und am
wenigsten benutzten Werkzeuge, um das Band, das uns
zusammenhält, zu stärken". Während Amerika einen Flaggentag
und ein "Nationales Patriotismus-Museum" hätten, würde
Israel wenig tun, die Gesellschaft "mit einem Heimatgefühl
und Nationalstolz zu durchdringen". Freund schlägt deshalb
vor, jedes Klassenzimmer mit einer großen israelischen
Flagge zu schmücken, die Nationalhymne "Hatikva" regelmäßig
zu singen und ein Museum zu Ehren des "jüdischen Heldentums"
zu errichten. Damit könne ein "gesundes Gefühl von
nationaler Würde und Selbstachtung" wiederhergestellt
werden. Der Abzug der Siedler aus dem Gazastreifen: Für den
Journalisten Freund ist er ein "Trauma", für Gila Svirsky
von der Friedensbewegung "Frauen in Schwarz" ein Schritt zur
"Befreiung Israels" und damit zum Frieden. Tausende von
Soldaten jedoch finden derzeit keinen "Seelenfrieden", meint
der israelische Journalist Israel Harel. Wie können sie sich
in vier Wochen an der "Entwurzelung" der Siedler beteiligen,
fragt er, was "ihrer humanistischen, nationalistischen,
zionistischen und religiösen Anschauung diametral
entgegengesetzt" ist? |