TRANSLATE
Palästina: Versöhnung und
Bildung einer Regierung der nationalen Einheit in
Sicht
Interview mit Prof. Ali Jarbawi, Teilnehmer an der
jüngsten Kairoer Konferenz
Hakam Abdel-Hadi
Prof. Ali Jarbawi, Hochschullehrer für politische
Wissenschaft an der Universität Birzeit/Westbank,
hat als Unabhängiger an der palästinensischen
Versöhnungskonferenz teilgenommen, die am 26.
Februar 2009 in Kairo auf Einladung der ägyptischen
Regierung stattfand. An dieser Konferenz nahmen
Vertreter von Fatah, Hamas und allen anderen
palästinensischen Organisationen sowie unabhängige
Persönlichkeiten wie Bischof Michail Sabbah teil.
Kurz danach führte Hakam Abdel-Hadi mit Prof.
Jarbawi folgendes Interview:
Frage: Meinen Sie, dass Fatah und Hamas sich im Zuge
solcher Versöhnungskonferenzen auf eine Regelung der
grundlegenden Fragen, insbesondere im Hinblick auf
die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit,
einigen werden?
Antwort: Es herrschte
auf der Kairoer Konferenz eine konstruktive
Atmosphäre. Beide Seiten stehen unter massivem
Druck, wenn auch die Ursachen und die Hintergründe
unterschiedlich sind. Deshalb sehen sie sich
veranlasst, die Kluft zwischen ihren Positionen zu
überwinden und die Spaltung zu beenden. Nach meiner
Auffassung dürfen sich aber diese Bemühungen nicht
in erster Linie darauf konzentrieren, Fragen, wie
die Regierungsbildung oder die Reform der PLO etc.
zu erörtern. Vielmehr muss die künftige
Strategie für die politische Arbeit im Vordergrund
stehen. Wenn sich die Einigung darin erschöpfte, nur
eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden,
dann würde die Lage später kompliziert sein. Derzeit
haben wir nämlich zwei konträre Richtungen: Die eine
Partei ist für Verhandlungen und die andere für
Widerstand. Wenn ein Konsens in der Strategie
herbeigeführt wird, dann kann man alle anderen
Probleme leicht lösen.
Frage: Es gibt dringliche Aufgabe wie den
Wiederaufbau von Gaza, die eine Versöhnung
beschleunigen, oder?
Antwort: Es gibt eine
Reihe von Akten: Den Wiederaufbau von Gaza, die
Versöhnung zwischen Fatah und Hamas, die Waffenruhe
und die Aufhebung der Blockade, den
Gefangenenaustausch, die Reform der PLO und die
Reorganisation der Sicherheitskräfte. Manche
Teilnehmer sind zunächst davon ausgegangen, dass
diese Aufgaben eine nach der anderen gemeistert
werden sollen, aber es stellte sich heraus, dass
alle zusammenhängen, und man kann sie nicht getrennt
behandeln. Inzwischen wird dies auf allen Treffen
eingesehen. Sie müssen auf nationaler und
internationaler Ebene als Paket angegangen werden.
Frage: Die internationale Gemeinschaft will den
Wiederaufbau Gazas finanzieren, aber von der
Verantwortung Israels ist keine Rede. Wie sehen Sie
das?
Antwort: Es
ist empörend, dass Israel alle diese Wohngebiete und
die Infrastruktur in Gaza zerstört hat, genau wie
dies auch 2002 in den palästinensischen Gebieten
unter Herrschaft der Autonomiebehörde und 2006 im
Libanon geschah, ohne dass jemand Israel zu
Rechenschaft zieht und verlangt, dass es
Wiedergutmachung leisten und die moralische
Verantwortung dafür übernehmen muss. Israel
zerstörte Gaza, und die Weltgemeinschaft und die
Araber haben es wiederaufzubauen. Wir wissen aber
leider, dass die Politik der internationalen
Gemeinschaft darum bemüht ist, Israel von allen
Konsequenzen frei zu sprechen.
Wie auch immer, die
internationale finanzielle Hilfe wurde von den
Geberländern zugesagt, aber die Menschen in Gaza
können damit nichts anfangen, wenn Israel die
Blockade nicht aufhebt. Bisher weigert sich Israel,
die Grenzübergänge zu öffnen. Es geht ja um
die Lieferung von Zement, Eisen und anderen
Baustoffen, nicht nur um Güter für humanitäre
Zwecke. Israel behauptet aber, dass diese
Materialien für den Tunnel- und den Raketenbau
verwendet würden, und deshalb ist es notwendig, dass
ein politisches Programm der Palästinenser
beschlossen und eine Waffenruhe erzielt wird. Und
dann geht es um die Bildung einer Regierung
mit einem politischen Programm, das von
palästinensischer und internationaler Seite getragen
wird. Danach kann dann der Wiederaufbau von Gaza in
Angriff genommen werden.
Frage: Die internationale Gemeinschaft nimmt nun
eine andere Haltung gegenüber Hamas ein. Wie
schätzen Sie die neue Situation ein?
Antwort: Von
Anfang an war es ein grober Fehler, dass man Hamas
isolieren wollte, obwohl sie die Wahlen (2006)
gewonnen hat. Man gab ihr keine Chance, ihre Innen-
und Außenpolitik umzusetzen. Sowohl die bis dahin in
der Autonomieverwaltung dominierende Fatah als auch
die internationale Gemeinschaft zielten darauf ab,
Hamas auszuschließen. Die internationale
Gemeinschaft ergriff bereits nach der Unterzeichnung
der Osloer Verträge (1993) Partei zu Gunsten Israels
und versuchte, die Palästinenser gefügig zu machen
und ihnen das israelische Diktat aufzuzwingen. Dies
trug entscheidend zur Stärkung von Hamas bei. Aber
auf der anderen Seite erleichterte die unklare
lokale und außenpolitischen Linie von Hamas auch das
Vorgehen ihrer Gegner. Dies hatte schlimme Folgen
nicht nur für Hamas, sondern auch für das
palästinensische Volk: Die Blockade gegen Gaza
und schließlich der Gaza-Krieg. Inzwischen
sieht Hamas ein, dass sie ihre Auffassungen auf
nationaler und internationalen Ebene nicht
durchsetzen kann. Hamas ist also flexibler geworden.
Die internationale Gemeinschaft ihrerseits hat nun
begriffen, dass ein Ausschluss von Hamas nicht
möglich ist, da sie ein integraler Bestandteil der
palästinensischen Gesellschaft ist. Sie hat ihre
Anhänger und eine politische Position, die von
beachtlichen Anteilen der Bevölkerung respektiert
wird. Schließlich waren die von Fatah favorisierten
palästinensisch-israelischen Verhandlungen im
Hinblick auf die Unabhängigkeitsbestrebungen des
palästinensischen Volkes nicht nur völlig
unergiebig, sondern auch schädlich, weil die
israelischen Siedlungen während der Verhandlungen
ausgebaut wurden.
Frage: Gibt es nach Ihrem Eindruck eine
internationale Akzeptanz für eine Beteiligung von
Hamas an der nächsten Regierung?
Antwort: Ja, Hamas
bemüht sich politisch um die Befreiung von
ihrer Isolation, insbesondere nach dem Krieg in
Gaza. Die internationale Gemeinschaft kommt Hamas
ein Stückchen entgegen, aber ob diese Entwicklung
dahin führen wird, dass viele Staaten, insbesondere
die USA, in kürze einen offiziellen Dialog mit Hamas
führen? Nein, das glaube ich nicht, aber sogar die
USA werden wahrscheinlich die Präsenz von
Hamas-Mitgliedern oder von Persönlichkeiten, die ihr
nahe stehen, in einer Regierung der nationalen
Einheit tolerieren, wenn das Regierungsprogramm
nicht mit dem Programm von Hamas identisch ist. Es
geht nicht darum, dass Hamas ihre Ideologie aufgibt,
sondern um die Verankerung eines neuen
Regierungsprogramms.
Frage: Einer Umfrage zufolge ist Hamas nach dem
Krieg in Gaza populärer als Fatah in der Westbank.
Ist dieser Trend überall bei den Palästinensern zu
beobachten?
Antwort: Es wurden im
Januar 2009 drei Umfragen von angesehenen Instituten
durchgeführt, die alle zum gleichen Ergebnis kamen,
dass die Popularität von Hamas zunimmt je weiter die
Bürger vom Kriegsschauplatz entfernt leben: In der
Westbank ist sie beliebter als in Gaza und bei den
Diasporapalästinensern noch mehr als in der
Westbank. Moralisch steht Hamas hoch im Kurs, aber
objektiv fällt das Verhältnis zwischen diesem Gewinn
und der Zerstörung zu Ungunsten von Hamas aus.
Je mehr Zeit vergeht, desto deutlicher werden die
Menschen die Situation reflektieren und Hamas
vielleicht zur Rechenschaft ziehen.
Dennoch genießt Hamas
nach wie vor eine beachtliche Beliebtheit auf
lokaler Ebene und im Ausland. Wenn Wahlen abgehalten
würden, würde Hamas einen hohen Prozentsatz der
Wählerstimmen erzielen; das Wahlergebnis würde dann
auch davon abhängen, ob die anderen Parteien eine
gemeinsame Wahlliste bilden oder weiterhin
zersplittert bleiben. Die Wahlen werden alles
entscheiden, aber ich zweifele, dass sie wie geplant
im Januar 2010 stattfinden werden.
Frage
: Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung? Haben Fatah
und Hamas kein Interesse daran, den Wahltermin
einzuhalten?
Antwort: Wie gesagt,
bis dahin wird Hamas die Sympathie vieler Wähler
verlieren, weil das Ausmaß der Zerstörung in Gaza
ihnen bewusster wird, aber auch für Fatah arbeitet
die Zeit nicht, denn sie hat es immer noch nicht
geschafft ihren 6. Parteitag abzuhalten. Darauf
warten die Mitglieder und die Bevölkerung seit 17
Jahren. Zum anderen weißt keiner im voraus,
falls sie den Parteitag abhielten, was dabei heraus
käme. Fatah könnte noch zerstrittener ,als sie
derzeit ist. Kurz: Hamas und Fatah haben ein
Interesse daran, den Wahltermin aufzuschieben.
Frage: Keiner redet mehr darüber, dass die Amtszeit
von Präsident Mahmoud Abbas im Januar 2008
abgelaufen ist. Was steckt dahinter?
Antwort: Hamas
thematisiert es nicht mehr. In diesem Punkt gibt es
ein Stillhalteabkommen. Außerdem streiten nicht nur
die Juristen ernsthaft darüber, ob seine Amtszeit
wirklich abgelaufen sei. Ernsthaft steht zur
Diskussion, dass der Parlamentsbeschluss gültig ist,
dass die Wahlen des Parlaments und des Präsidenten
gleichzeitig abgehalten werden sollten.
Frage: Zum Schluss die Kernfrage: wird in den
nächsten Wochen eine Regierung der nationalen
Einheit gebildet?
Antwort: Eine Regierung
muss her, denn es gibt dringliche Aufgaben, vor
allem der Wiederaufbau von Gaza. Etwa 100.000
Menschen haben bei dieser Witterung kein Dach über
den Kopf. Zum anderen wird besonders jetzt nach den
Wahlen in Israel sehr deutlich, dass wir nicht ewig
verhandeln können. Auch Fatah kann damit nicht
leben.
- Übrigens, ich sehe keinen gravierenden Unterschied
zwischen einer Regierung unter Olmert/Levni oder
unter Netanjahu. Die bisherige Regierung hat wie
alle anderen israelischen Regierungen die Siedlungen
ausgebaut - . Hamas kommt auch nicht
weiter mit ihrer Strategie: Mit dem Abfeuern einer
Kassam-Rakete hier und da kann man nichts bewirken.
Auf arabischer Ebene beobachten wir eine gewisse
Annäherung zwischen beiden Lagern und die
internationale Gemeinschaft nimmt eine
konstruktivere Rolle gegenüber Hamas ein.
Kurz: Ja, ich
rechne damit, dass in den nächsten zwei Monaten eine
Regierung der nationalen Einheit gebildet wird.
|