Wer
fürchtet sich vor der iranischen Bombe?
Uri
Avnery, 4. November 2017
ICH HASSE
offensichtliche Wahrheiten.
Ideale mögen
offensichtlich sein. Politische Erklärungen sind es nicht. Wenn ich
von einer offensichtlichen politischen Wahrheit höre, beginne ich
sie anzuzweifeln.
Die
offensichtlichste politische Wahrheit beschäftigt sich im
Augenblick mit dem Iran. Der Iran ist unser Todfeind. Der Iran will
uns zerstören. Wir müssen seine Fähigkeit dies zu tun, zuerst
zerstören.
Da dies
offensichtlich ist, ist das zwischen dem Iran und von fünf
Sicherheitsrat-Mitgliedern (plus BRD) unterzeichnete
Anti-Nuklear-Abkommen schrecklich. Nur schrecklich. Wir sollten die
US-Amerikaner längst beauftragt haben, den Iran in tausend Stücke zu
bomben. Im unwahrscheinlichen Fall, dass sie uns gehorcht haben
würden, sollten wie selbst den Iran mit Atombomben bombardiert
haben, bevor ihre wahnsinnigen fanatischen Führer die Gelegenheit
hatten, uns zuerst zu vernichten.
All dies sind
offensichtliche Wahrheiten. Meiner Meinung nach ist all dies
äußerster Unsinn. Da gibt es nichts Offensichtliches um sie.
Tatsächlich haben sie überhaupt keine logische Grundlage. Ihnen
fehlen jede geo-politische, historische und aktuelle Grundlage.
NAPOLEON SAGTE
einmal, wenn man das Verhalten eines Landes verstehen will, muss man
auf die Landkarte schauen.
Die Geographie
ist bedeutender als die Ideologie. Fanatische Ideologien ändern sich
von Zeit zu Zeit. Die Geographie ändert sich nicht. Das fanatischste
ideologische Land des 20. Jahrhundert war Sowjet-Russland. Es
hasste seinen Vorgänger, das Zaristische Russland. Es würde seinen
Nachfolger verabscheuen, Putins Russland. Doch – man höre und staune
– die Zaren, Stalin und Putin führen dieselbe Außenpolitik. Karl
Marx würde sich in seinem Grab umgedreht haben.
Als das biblische
israelische Volk geboren wurde, war Persien bereits ein
zivilisiertes Land. König Cyrus von Persien sandte die „Juden“ nach
Jerusalem und gründete das, was das „jüdische Volk“ genannt werden
kann. Man erinnert sich in der jüdischen Geschichte an ihn als
großen Wohltäter.
Als der Staat
Israel 1948 gegründet wurde, sah David Ben Gurion im Iran einen
natürlichen Verbündeten. Es mag jetzt seltsam klingen, aber es ist
noch nicht so lange her, da war der Iran tatsächlich das beste
Pro-Israel-Land im Nahen Osten.
Ben-Gurion war
ein großer Realist. Da er keinerlei Absicht hatte, mit den Arabern
Frieden zu schließen, einen Frieden , der den ursprünglich kleinen
Staat von Israel daran gehindert hätte, sich ohne Grenzen zu
erweitern, schaute er sich nach Verbündeten jenseits der arabischen
Welt um.
Er schaute sich
auf der Karte um (ja, er vertraute der Karte). Er sah, dass die
muslimischen Araber von einer Anzahl nicht-arabischer oder nicht
muslimischer Entitäten umgeben waren : die maronitischen Christen
im Libanon (keine Muslime), die Türken (Muslime, aber keine
Araber), die Kurden (Muslime, aber keine Araber), Iran (Muslime,
aber keine Araber), Äthiopien (weder Muslime noch Araber) u.a.
Als Ben Gurion
dies sah, entfaltete er einen großen Plan, „eine Partnerschaft der
Peripherie“, ein Bündnis mit all diesen Faktoren, die die arabische
Welt umgab und die von der wachsenden pan-arabischen Welt des Gamal
Abd-al-Nasser und anderen sunnitisch-muslimisc-arabischen Staaten
bedroht wurden.
EINER DER größten
Enthusiasten dieser Idee war der Schah des Iran, der Israels
begeistertster Freund wurde.
Der „König der
Könige“ war eigentlich ein Diktator, vom größten Teil seines Volkes
gehasst. Aber für viele Israelis wurde der Iran eine zweite
Heimat. Teheran wurde ein Mekka für israelische Geschäftsleute,
einige von ihnen wurden sehr reich. Experten des israelischen
Sicherheitsdienstes, Shabak genannt ( die hebräischen
Anfangsbuchstaben von Allgemeiner Sicherheitsdienst) trainierten
die verachtete Geheimpolizei des Schahs, Savak genannt.
Hochrangige
israelische Armee-Kommandeure reisten frei durch den Iran zum
irakischen Kurdistan, wo sie die kurdischen Peshmerga-Kräfte für
ihren Kampf gegen Saddam Husseins Regime trainierten. ( Der Schah
träumte natürlich nicht davon, seiner eigene kurdischen
Minderheitdie Freiheit zu geben).
Dieses Paradies
endete plötzlich, als der Schah ein Geschäft mit Saddam Hussein
machte, um seinen Thron zu retten. Vergebens. Radikale schiitische
Kleriker, die sehr populär waren, stürzten den Schah und sein Reich
und errichteten die schiitische Muslimische Republik. Israel war
nicht mehr von Interesse.
Übrigens brach
ein anderes Element von der „Peripherie“ weg. 1954 heckten
Ben-Gurion und sein Armeechef Moshe Dayan einen Plan aus, ein
Angriff auf den Libanon, um dort einen pro-israelischen
maronitischen Diktator einzusetzen. Der damalige Ministerpräsident
Moshe Sharet, der einiges über die arabische Welt wusste,
verhinderte das Abenteuer, das er für dumm hielt. Dreißig Jahre
später führte Ariel Sharon , noch so ein Ignoramus, denselben Plan
aus – mit verheerenden Ergebnissen.
1982 überfiel die
israelische Armee den Libanon. Sie setzte einen maronitischen
Diktator ein, Bashir Jumayel, der mit Israel ein Friedensabkommen
unterzeichnete und der bald danach ermordet wurde. Die Schiiten,
die den Südlibanon bevölkerten, begrüßten die israelische Armee
begeistert, weil sie glaubten, dass sie die sunnitischen Muslime
beseitigen und sich dann zurückziehen würden. Ich war ein
Augenzeuge: Ich fuhr allein mit meinem zivilen Auto von Metullah in
Israel nach Sidon an der libanesischen Küste. Ich fuhr durch mehrere
schiitische Dörfer und konnte mich kaum (physisch) den Umarmungen
der Bewohner entziehen.
Doch als den
Schiiten klarwurde, dass die Israelis keine Absicht hatten wieder
wegzugehen, begannen sie einen Guerilla-Krieg gegen sie. So wurde
die Hisbollah geboren und wurde einer von Israels stärksten Feinden
– und ein Verbündeter des schiitischen Regimes des Iran.
ABER IST das
schiitische iranische Regime solch ein Todfeind Israels?
Tatsächlich, als
der religiöse Fanatismus des neuen Regimes auf seinem Höhepunkt
war, geschah eine kuriose Sache. Sie wurde als „Iran-Contra“
bekannt. Einige Konservative in Washington DC wollten rechte
Aufrührer im linken Nikaragua bewaffnen. Amerikanische Gesetze
verhindern dies, offen zu tun, also wandte man sich an - wen denn
wohl? – Israel.
Israel verkaufte
Waffen an die iranischen Ayatollahs ( tatsächlich!) und leitete das
Geld aus den Geschäft an unsern Washingtoner DC Freunden, die sie
illegal den Nicaraguanischen rechten Terroristen gab, die „Contras“
genannt wurden.
Die Moral der
Geschichte: Als dies ihren praktischen Zwecken diente, hatten die
Ayatollahs überhaupt keine Skrupel, Geschäfte mit Israel, dem
„kleinen Satan“ zu machen.
Der Iran brauchte
die Waffen, die Israel ihm sandte, weil sie einen Krieg gegen
Saddam Husseins Irak kämpften. Es war nicht der erste. Seit vielen
Jahrhunderten diente der Irak der arabischen Welt als Bollwerk gegen
den Iran. Der Irak hat eine große schiitische Bevölkerung, aber die
irakischen Schiiten sind Araber und hatten keine reale Sympathie
für ihre schiitischen Brüder im Iran. Das haben sie noch immer
nicht.
Israel half dem
Iran in diesem Krieg, weil es Saddam Hussein fürchtete. Deshalb half
Israel, die USA zu überzeugen, den Irak anzugreifen. Die Invasion
war höchst erfolgreich: Der Irak wurde zerstört und das historische
Bollwerk gegen den Iran verschwand. So war es Israel, das half das
größte Hindernis für Irans Hegemonie über den Nahen Osten zu
beseitigen.
Klingt das
verrückt? Es ist verrückt. Ben-Gurions großer Plan stand auf dem
Kopf. Gegenwärtig ist „die Peripherie“ von Libanon und Iran ,
unterstützt von der Türkei, unser Todfeind, und der Sunni-Block von
Saudi Arabien, die Golfstaaten, Jordanien und Ägypten sind unsere
offenen oder halb-geheimen Verbündeten.
HIER höre ich den
ungeduldigen Leser schimpfen: „Schluss mit dem Mist! Was ist mit der
Atomgefahr? Was ist mit den verrückten Ayatollahs, die die
Atombomben erhalten und uns vernichten wollen?“
Nun, ich habe
keine Angst. Auch, wenn der Iran Atombomben hat, werde ich gut
schlafen.
Warum um Gottes
(oder Allahs) Willen? Weil Israel gut ausgerüstet ist mit Atomwaffen
und einer Zweitschlagskapazität.
Israel zu
bombardieren, würde die Vernichtung des Irans, mehrerer Jahrtausende
der Zivilisation, des stolzen Erbes unzähliger Philosophen,
Künstler, Poeten und Wissenschaftler bedeuten. (Allein schon das
Wort „Algorythmus“ stammt von dem Namen des persischen Mathematiker
al-Chwarismi).
Die derzeitigen
iranischen Herrscher mögen Fanatiker sein (ich bezweifle es), aber
sie sind keine Selbstmörder. Es gibt kein einziges Anzeichen in
diese Richtung. Im Gegenteil, sie scheinen ausgesprochen praktische
Menschen zu sein.
Also, weshalb
zetern sie dann gegen Israel? Weil ihr Ziel ist, die beherrschende
Kraft in der muslimischen Welt zu werden und Israel zu verfluchen,
ist der offensichtliche Weg. Solange Israel keinen Frieden mit den
Palästinensern schließt, hassen die arabischen und muslimischen
Massen überall Israel. Die derzeitigen Führer des Irans sind sehr
gut darin, den kleinen Satan zu verfluchen.
Experten
berichten, dass der Islam als Hauptkraft im Iran an Kraft verloren
hat, während der iranische Nationalismus an Kraft gewonnen hat. Der
Kult von Kyros, der Mohammed um mehr als 1200 Jahre vorausging,
gewinnt an Boden.
Seit der
Erfindung der Atombombe hat niemand je ein atomar-bestücktes Land
angegriffen. Ein atomar-bestücktes Land anzugreifen, bedeutet
schlicht Selbstmord. Sogar die mächtigen USA (der „Große Satan“)
wagen nicht, das kleine Nordkorea anzugreifen, dessen Bemühen, eine
atomare Streitkraft zu erzielen, weit entfernt vom Irrationalen ist.
Folglich werde
ich gut schlafen, wenn der Iran Kernwaffen hat, wenn auch vielleicht
mit halb geöffneten Auge.
Übersetzt von
Ellen Rohlfs