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Zwei Reden
Uri
Avnery, 4.Oktober 2014
WENN ICH zwischen den beiden rhetorischen Gladiatoren
wählen könnte, würde ich lieber Mahmud Abbas als Vertreter Israels
wählen und Netanjahu die andere Seite vertreten lassen.
Abbas stand fast bewegungslos da und las seine Rede
(auf Arabisch) mit ruhiger Würde. Ohne effekthaschende Gags.
Netanjahu benützte alle Tricks, die man in
Grundkursen für öffentliches Reden lernt. Er bewegte sein Gesicht
regelmäßig von links nach rechts und zurück, streckte seine Arme
aus, erhob und senkte Überzeugung heischend seine Stimme. An einer
Stelle brachte er die erforderliche visuelle Überraschung. Das
letzte Mal war es die kindische Zeichnung einer phantasierten
iranischen Atombombe; dieses Mal war es ein Foto von
palästinensischen Kindern in Gaza, die neben einem Raketenwerfer
spielen.
(Netanjahu pflegte einen Vorrat von Fotos mit sich
zu tragen, um sie zu zeigen – ISIS – Enthauptungen und Ähnliches -
eher wie ein Vertreter, der Beispiele seiner Angebote mit sich
herumträgt.)
Alles ein bisschen zu glatt, zu raffiniert, zu
aufrichtig wie der Möbelhändler, der er einmal war.
Beide Reden wurden bei der Vollversammlung der
Vereinten Nationen gehalten. Abbas sprach vor zwei Wochen. Netanjahu
in dieser Woche. Wegen der jüdischen Feiertage kam er spät – wie
die Person, die zur Party kommt, nachdem schon alle wichtigen Gäste
gegangen sind.
Die Halle war halb leer, das spärliche Publikum
bestand aus jungen Diplomaten, die gesandt waren, um die Präsenz
ihrer Regierung zu demonstrieren. Sie waren offensichtlich
gelangweilt.
Den Applaus lieferte die aufgeblasene israelische
Delegation in der Halle und die zionistischen Würdenträger und
Un-Würdenträger saßen auf der Galerie, vom Casino-Mogul Sheldon
Adelson angeführt. (Nach der Rede nahm Adelson Netanjahu in ein
teures nicht koscheres Restaurant mit. Die Polizei blockierte die
Straßen dorthin. Aber Adelson kritisierte öffentlich die Rede als zu
moderat.)
Doch ging es nicht darum. Man macht in der
Vollversammlung nicht viele Worte, um ihre Mitglieder zu überzeugen.
Man spricht dort für seine Zuhörerschaft zu Hause. Netanjahu tat es
und Abbas auch.
DIE REDE von Abas war ein Widerspruch zwischen Form
und Inhalt: eine sehr moderate Rede in sehr extremer Sprache.
Sie war so klar an das palästinensische Volk
adressiert, das über das Töten und die Zerstörung im Gaza-Krieg
noch vor Zorn kochte. Dies führte Abbas dazu, eine sehr starke
Sprache zu verwenden – als wolle er seinen Hauptzweck vereiteln:
den Frieden zu fördern. Er benützte das Wort „Genozid“ - nicht ein-
sondern dreimal. Das war eine Fundgrube für die israelische
Propaganda-Maschine und wurde sofort als die „Genozid-Rede“
bekannt.
Während des Gaza-Krieges wurden mehr als 2000
Palästinenser getötet, meistens Zivilisten, viele von ihnen Kinder
(501), fast alle durch Bombenangriffe vom Land, aus der Luft und vom
Meer, Das war brutal, ja, sogar grauenhaft, aber es war kein
Genozid. Ein Genozid ist eine Sache von Hunderttausenden,
Millionen, Auschwitz, die Armenier, Ruanda, Kambodscha.
Auch Abbas Rede war total einseitig. Die Hamas, die
Raketen, die offensiven Tunnel wurden nicht erwähnt. Der Krieg war
nur eine israelische Affäre: sie fingen an, sie töteten, sie
verübten einen Völkermord. Alles gut für einen Führer, der sich
selbst gegen die Anklagen verteidigen muss, zu sanft zu sein. Aber
eine gute Gelegenheit, den Frieden zu fördern, verpasst.
Sieht man aber von der starken Ausdrücken ab, war
die Rede selbst ganz moderat, so moderat wie sie nur sein konnte
Sein wichtigster Inhalt war ein Friedensprogramm, identisch mit den
Bedingungen, wie sie die Palästinenser von Anfang an mit Yasser
Arafats Friedenspolitik stellten, wie auch mit der Arabischen
Friedensinitiative. (2002, 2007)
Es bleibt bei der Zwei-Staaten-Lösung: ein Staat
Palästina mit Ost-Jerusalem als seiner Hauptstadt „neben dem Staat
Israel“, „die Grenzen von 1967“, eine miteinander abgestimmte Lösung
für die Not der palästinensischen Flüchtlinge“ (d.h. mit Israel
abgestimmt, was im Wesentlichen keine Rückkehr bedeutet.) Er
erwähnte auch die arabische Friedensinitiative. Kein
palästinensischer Führer könnte möglicherweise weniger fordern.
Er verlangte auch „einen spezifischen Zeitrahmen“, um
das Spiel endloser „Verhandlungen“ zu verhindern.
Dafür wurde er von Netanjahu angegriffen als die
Inkarnation alles Bösen, des Partners von Hamas, das das Äquivalent
zu ISIS sei, der der Erbe Adolf Hitlers sei, dessen moderne
Reinkarnation der Iran ist.
ICH KENNE Mahmoud Abbas seit 32 Jahren. Er war nicht
bei meinem ersten Treffen mit Yassir Arafat im belagerten Beirut
dabei, aber als ich Arafat im Januar 1983 in Tunis traf, war er
dabei. Als Chef der Abteilung für Israel im PLO-Hauptquartier war er
bei allen Treffen mit Arafat in Tunis dabei. Seit der Rückkehr der
PLO nach Palästina habe ich Abbas mehrfach gesehen.
Er wurde 1935 in Safed geboren, wo auch meine
verstorbene Frau Rachel aufwuchs. Bei unsern Treffen pflegten sie
sich an ihre Kindheit dort zu erinnern und versuchten
herauszufinden, ob Abbas jemals ein Patient von Rachels Vater, einem
Kinderarzt, war.
Es gab einen auffälligen Unterschied zwischen den
beiden Persönlichkeiten Arafat und Abbas. Arafat war auffallend,,
extrovertiert und kontaktfreudig. Abbas ist reserviert und
introvertiert. Arafat traf mit blitzartiger Geschwindigkeit
Entscheidungen. Abbas ist besonnen/ bedächtig und vorsichtig. Arafat
war bei menschlichen Beziehungen herzlich, mit liebevollen Gesten,
zog (buchstäblich) die menschliche Berührung vor. Abbas ist kühl und
unpersönlich. Arafat regte zu Liebe an. Abbas zu Respekt.
Aber politisch gab es fast keinen Unterschied. Arafat
war nicht so extrem, wie er schien. Abbas ist nicht so moderat, wie
er aussieht. Ihre Begriffe für Frieden sind identisch. Sie sind das
Minimum, dem jeder palästinensische Führer – tatsächlich jeder
arabische Führer –möglicherweise zustimmen konnte.
Da kann es Monate der Verhandlungen über Details
geben, über den genauen Verlauf der Grenzen, Austausch von Land ,
die symbolische Anzahl der Flüchtlinge, denen erlaubt wird,
zurückzukehren, Sicherheitsverabredungen, die Entlassungen der
Gefangenen, Wasser und vieles mehr .
Aber die grundsätzlichen palästinensischen
Forderungen sind unerschütterlich. Nimm sie an oder lass sie
fallen.
Netanjahu sagt: lass sie fallen.
WENN DU sie lässt, was bleibt dann?
Der Status quo, natürlich. Die klassische
zionistische Haltung. Es gibt kein palästinensisches Volk. Es wird
keinen palästinensischen Staat geben. Gott, ob er existiert oder
nicht, hat uns das ganze Land versprochen (einschließlich
Jordanien).
Aber in der Welt von heute kann man dies oder
ähnliche Dinge nicht sagen. Man muss einen verbalen Trick finden, um
sich dem Problem zu entziehen.
Am Ende des kürzlichen Gaza-Krieges versprach
Netanjahu einen „neuen politischen Horizont“. Kritiker waren schnell
da und machten darauf aufmerksam, dass der Horizont etwas ist, das
zurückweicht, sobald man sich ihm nähert. Macht nichts.
Was ist also der neue Horizont? Netanjahu und seine
Ratgeber zerbrachen sich die Köpfe und kamen mit der „regionalen
Lösung“.
Die „regionale Lösung“ ist eine neue Mode, die vor
ein paar Monaten anfing, sich zu verbreiten. Einer ihrer Sprecher
ist Dedi Zucker, einer der Gründer von Peace Now und ein früheres
Merez -Mitglied der Knesset. Haaretz gegenüber erklärte er: Die
israelisch-palästinensische Friedensbemühungen ist tot. Wir müssen
uns einer anderen Strategie zuwenden: „der regionalen Lösung“. Statt
mit den Palästinensern zu verhandeln, müssen wir mit der ganzen
arabischen Welt verhandeln und mit ihren Führern Frieden schließen.
Guten Morgen, Dedi. Als meine Freunde und ich anfangs
1949 die Zwei-Staaten-Lösung vorbrachten, stimmten wir dem
sofortigen Aufbau eines palästinensischen Staates zu - verbunden
mit der Schaffung einer Semitischen Union, in der Israel,
Palästina, alle arabischen Staaten, vielleicht die Türkei und
auch der Iran mit eingeschlossen sind. Wir haben dies endlos
wiederholt. Als der (damalige) Saudi Kronprinz die arabische
Friedens-Initiative vorschlug, verlangten wir seine sofortige
Annahme.
Es gibt überhaupt keinen Widerspruch zwischen einer
israelisch-palästinensischen-Lösung und einer
Israelisch-panarabischen Lösung. Sie sind ein und dasselbe. Die
Arabische Liga wird ohne die Übereinstimmung mit der
palästinensischen Führung keinen Frieden machen und keine
palästinensische Führung wird ohne den Rückhalt der Arabischen Liga
keinen Frieden machen. (Ich bemerkte dies in einem Artikel in
Haaretz an dem Tag von Netanjahus Rede).
Doch vor einiger Zeit tauchte diese „neue“ Idee in
Israel auf, eine Gesellschaft wurde gegründet, Geld wurde gespendet,
um sie zu propagieren. Wohlmeinende Linke schlossen sich uns an.
Da ich nicht erst gestern geboren wurde, wunderte ich mich.
Nun kommt Netanjahu in die Vollversammlung und sagt
genau dasselbe. Halleluja! Da ist eine Lösung. Die „Regionale“ .
Nun ist es nicht mehr nötig, mit den boshaften Palästinensern zu
reden. Wir können mit den „moderaten“ arabischen Führern reden.
Von Netanjahu kann nicht erwartet werden, sich mit
den Kleinigkeiten abzugeben. Was für Bedingungen hat er im Kopf?
Welche Lösung für Palästina? Große Männer können sich nicht mit
Kleinigkeiten abgeben.
Die ganze Sache ist natürlich lächerlich. Selbst
jetzt, als mehrere arabische Staaten sich der amerikanischen
Koalition gegen ISIS anschließen, will keiner von ihnen in der
Gesellschaft mit Israel gesehen werden. Die US hat Israel diskret
angefragt und höflich darum gebeten, sich hier rauszuhalten.
NETANJAHU IST immer schnell, verändernde Umstände
für sich auszunützen, um seine unveränderte Haltung vorwärts zu
bringen .
Das letzte heiße Problem ist ISIS (oder der
Islamische Staat, wie er jetzt lieber genannt werden will.) Die Welt
ist entsetzt über seine Grausamkeiten. Jeder verurteilt diese.
Netanjahu verbindet alle seine Feinde mit ISIS,
Abbas, Hamas, Iran – sie alle sind ISIS.
In Unterrichtsstunden über Logik lernt man über den
Inuit (Eskimo) , der in die Stadt kommt und zum ersten Mal Glas
sieht. Er nimmt es in seinen Mund und beginnt zu kauen. Seine
Logik: Eis ist durchsichtig. Glas ist durchsichtig. Eis kann gekaut
werden - also kann Glas auch gekaut werden.
Dieselbe Logik sagt: ISIS ist islamistisch. ISIS
kämpft um ein weltweites Kalifat. Hamas ist islamistisch. Also
wünscht Hamas ein weltweites Kalifat. Alle wollen die Welt
beherrschen. Wie die „Weisen von Zion“.
Netanjahu rechnet mit der Tatsache, dass die meisten
Leute nicht wissen, worüber er spricht. Mit derselben Logik gehört
Frankreich zu ISIS. Tatsache ist: in der Französischen Revolution
hat man geköpft, ISIS köpft. Vor einiger Zeit köpften die Briten
ihren König. Alle sind ISIS.
In der wirklichen Welt gibt es überhaupt keine
Ähnlichkeit zwischen Hamas und ISIS außer ihrer bekennenden
Zugehörigkeit zum Islam. ISIS streitet alle nationalen Grenzen ab,
es wünscht einen islamischen Weltstaat. Hamas ist äußerst
nationalistisch. Es wünscht einen Staat Palästina. In letzter Zeit
spricht sie sogar über die Grenzen von 1967.
Es kann keine Ähnlichkeiten zwischen ISIS und dem
Iran geben. Sie stehen auf der gegenüberliegenden Seite der
islamischen Geschichte. ISIS ist sunnitisch, der Iran schiitisch.
ISIS wünscht Bashar al-Assad abzusetzen und möglichst auch ihn zu
köpfen, während der Iran Assads Hauptunterstützer ist.
ALLE DIESE Fakten sind jedem bekannt, der sich für
Politik interessiert. Sie sind sicher den Diplomaten in den
Korridoren der UN bekannt. Warum also wiederholt Netanjahu diese
falschen Darstellungen (um es vorsichtig auszudrücken) vom
UN-Rednerpult?
Weil er nicht zu Diplomaten sprach. Er sprach zu den
primitiven Wählern in Israel, die stolz darüber sind, einen so
fließend Englisch sprechenden Vertreter zu haben, der sich an die
Welt wendet.
Und sowie so – wer kümmert sich schon, was die Gojim
denken?
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert.)
ER:
PS: wer die Möglichkeit hat, der möge doch in einem
Lexikon nach der Definition von Genozid nachsehen. Hinter Uris
Ansicht dies btr. mache ich Fragezeichen.
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