Zwölf konventionelle Lügen
Uri Avnery
1. „Barak hat jeden Stein umgedreht, um Frieden zu machen“
Barak hat nicht einen Quadratmeter besetztes Land zurückgegeben. Die
Wahrheit ist, dass er jeden Stein umgedreht hat, um Siedlungen zu
bauen. Seit seinem ersten Tag im Amt hat er das Tempo beschleunigt,
um unter dem Vorwand, bestehende Siedlungen zu erweitern, neue
Siedlungen zu errichten, Land zu enteignen, palästinensische Häuser
zu demolieren, und „Umgehungsstraßen“ zu bauen, deren Hauptzweck es
ist, palästinensisches Land den „Siedlungsblocks“ hinzuzufügen, die
er für Israel annektieren will. In all diesen Aktivitäten hat Barak
mehr getan als Netanyahu.
Auch auf politischem Terrain hat Barak Netanyahu die Schau
gestohlen. Bibi hat wenigstens den größeren Teil der Stadt Hebron an
die Palästinenser zurückgegeben.
2. „In Camp David ging Barak weiter als jeder frühere
Premierminister“
Selbst wenn dies wahr wäre, bedeutet es sehr wenig. Wenn ein
Marathonläufer (Netanyahu) nach einer Meile aufgibt und ein anderer
(Barak) erst nach drei Meilen aufgibt, ist der Unterschied zwischen
ihnen wirklich nicht bedeutsam. Was bedeutsam ist, ist dass keiner
von beiden – nach 26 Meilen – sich dem Ziel genähert hat.
Baraks Vorschläge in Camp David waren weit entfernt vom notwendigen
Minimum, um mit dem palästinensischen Volk und der ganzen arabischen
Welt Frieden zu schließen: die palästinensische Herrschaft über
Ost-Jerusalem und besonders über den Bereich der beiden Moscheen (Haram
Al-Sharif).
Barak deutete in Camp David an, dass er einige kosmetische
Korrekturen in Betracht ziehen würde (wobei er tatsächlich einige
israelische Tabus gebrochen hätte) aber in Wirklichkeit lehnt er die
palästinensische, die arabische und die muslimische Herrschaft über
den Bereich der heiligen Moscheen und die größeren arabischen
Stadtteile ab. Genau deshalb war der Gipfel ein Fehlschlag und die
Eskalation begann und führte zur Al-Aksa-Intifada.
3. „Arafat ließ den Camp David Gipfel platzen“
Am Vorabend seines Abfluges zum Gipfel, verkündigte Barak fünf „rote
Linien“, die er unter keinen Umständen überschreiten wolle. Unter
diesen waren die israelische Herrschaft über ganz Jerusalem, keine
Rückkehr zu den 1967er Grenzen, 80% der Siedler sollten dableiben,
wo sie sind; keine Rückkehr eines einzigen Flüchtlings nach Israel
!!! Danach hat er einige dieser Standpunkte etwas korrigiert, aber
nicht so, um in die Nähe einer Übereinkunft zu kommen.
4. „Wir haben immer nur gegeben und gegeben – Arafat dagegen hat
nichts gegeben.“
Als die Palästinenser sich mit einem Friedensabkommen einverstanden
erklärten, das auf der Grenze von vor 1967 basiert – die Grüne Linie
– hatten sie schon im voraus 78% des Landes zwischen dem Meer und
dem Jordan aufgegeben. Sie waren bereit, ihren Staat in den
restlichen 22% zu errichten. Unsere Regierung wünschte einen
„Kompromiss“ über dieses Gebiet in dem Sinne: „was mein ist, ist
mein und was euer ist, darüber wollen wir reden“.
(Der sachliche Hintergrund am 29. November 1947 gab der
UN-Teilungsbeschluss dem jüdischen Staat 55% und dem arabischen
Staat 45% von Palästina. In dem sich anschließenden Krieg – den die
Araber begannen – eroberten wir die Hälfte des Landes, das den
Arabern zugesprochen war. So kam es zur „Grünen Linie“ und ließ 78%
des Landes in unserer Hand.)
Das Problem wird nicht nur mit Prozenten ausgedrückt. Barak scheint
nur um 10% der besetzten Gebiete zu handeln. In Wirklichkeit sind es
nahezu 30%, wenn man die Gebiete berücksichtigt, die er dem
Jerusalemer Bereich und dem Jordantal anzuschließen und unter seiner
„Sicherheitskontrolle“ zu bringen wünscht. Es ist sogar noch
schlimmer: auf der den Palästinensern vorgelegten Karte sind die
Prozentteile des Landes von Osten nach Westen und vom Norden zum
Süden zerschnitten, sodass der palästinensische Staat aus einer
Gruppe von Inseln besteht, die jede von israelischen Siedlern und
Soldaten umgeben ist.
5. „Wie kann man mit den Palästinensern Frieden machen, wenn sie
jedes Abkommen brechen?“
Nun, die palästinensischen Verletzungen sind im Vergleich zu unsern
nur geringfügig. Vor dem Ende der 5jährigen Interimsperiode (Mai
1999) hätte die IDF sich von der ganzen West Bank und aus dem
Gazastreifen zurückziehen sollen, mit Ausnahme „spezifischer
militärischer Bereiche“, den Siedlungen und Jerusalem. Barak
weigerte sich, dies selbst zu diesem späten Termin zu tun. Außerdem
sollten vier sog. sichere Passagen zwischen der Westbank und dem
Gazastreifen schon seit langem in Betrieb sein. In Wirklichkeit
wurde nur eine geöffnet und diese eine kann nur nach vielen
Schikanen von den Palästinensern benützt werden.
6. „Barak ist der Erbe Rabins.“
Weit entfernt. Innerhalb weniger Monate gelang es ihm nicht nur das,
was Rabin erreicht hat, zu zerstören, sondern auch Begins Werk. Er
hat das Oslo-Abkommen begraben, (das er von Anfang an ablehnte) und
zerstörte die Beziehungen, die mit großer Mühe zwischen Israel und
einer Anzahl arabischer Staaten aufgebaut worden war. Er hat Unruhe
selbst unter den Arabern Israels geschaffen. In vieler Hinsicht hat
er uns auf die Zeit von 1948 oder sogar 1936 zurückgeworfen.
7. „Der Lynchmord in Ramallah zeigt, dass die Araber wie Tiere
sind.“
In einer Konfrontation wie dieser zeigt jeder auf die Greueltaten,
die die andere Seite begeht, und „vergisst“ die Greueltaten, die die
eigene Seite begeht. Israel zeigt das abscheuliche Lynchen, die
Palästinenser zeigen das Töten des 12jährigen Muhamed Al-Dura in den
Armen seines Vaters und die besonders tödlichen
Hochgeschwindigkeitsgeschosse, die von den israelischen
Scharfschützen gegen Steine werfende Kinder benützt werden. Unsere
Gewalttaten seien die Antwort auf die Aktionen der Palästinenser –
ihre seien die Antwort auf unsere. Es ist ein Teufelskreis.
8. „Die palästinensischen Medien sind ein Instrument der
Aufwiegelung“
Das ist wahr, aber unglücklicherweise gibt es in dieser Hinsicht
keinen großen Unterschied zwischen ihren und den unsrigen. Unsere
und die ihrige haben dieselbe Sprache, die den Richtlinien von oben
gehorchen. Wenn palästinensische Fernseh-Shows immer wieder das Bild
von dem sterbenden Jungen in seines Vaters Armen zeigen, dann ist
das Aufwiegelung. Wenn unser Fernsehen Dutzende Male am Tag, Tag um
Tag das grässliche Lynchen in Ramallah zeigen, dann ist das
Aufklärung.
9. „Sie schießen auf uns – und die israelische Armee übt sich in
Selbstbeherrschung“
Es ist seltsam, dass während der zwei Wochen
„Selbstbeherrschung“ über 110 Palästinenser und 3 israelische
Soldaten getötet worden sind. Kein israelischer Offizier hat erklärt
oder wurde nach einer Erklärung dieses eigenartigen Verhältnisses
gefragt.
(Die Erklärung ist natürlich, dass die israelische Armee schon lange
im voraus Scharfschützen trainiert hat, um eine Person unter den
Demonstranten auszuwählen, durch ein Teleskop genau diese als Ziel
anzupeilen und mit einer speziellen tödlichen Kugel von hoher
Geschwindigkeit zu treffen. Statt das Gebiet zu befrieden, wie
beabsichtigt, hat diese Methode das Gebiet noch mehr in Aufruhr
gebracht. Jedes Begräbnis führte zu einer neuen Konfrontation)
10. „Die Araber schicken ihre Kinder gegen unsere Armeeposten, damit
sie getötet werden können, um Bilder für die Weltmedien zu
produzieren.“
Das ist eine abscheuliche Anklage, die einen widerlichen Rassismus
verrät. Sie lässt glauben, dass es arabische Eltern gleichgültig
lässt, wenn ihre Kinder sterben.
Im Kampf, der von unseren Untergrundorganisationen vor 1948 und von
unserer Armee während des Unabhängigkeitskrieges, ausgetragen wurde,
spielten Jungen und Mädchen eine wichtige Rolle. Das Waffentraining
der palästinensischen Jungen heute ist nichts anderes als das
unserer Gadna-Jugend-Bataillons. Der Junge, der 1948 im Kibbuz
Degania einen syrischen Tanker zerstörte, ist ein Nationalheld
geworden. Wenn ein Volk um seine nackte Existenz und Freiheit
kämpft, geht es nicht anders, als dass die Jugend mit daran
teilnimmt. (Ich trat der Irgun, die von den Briten als
terroristische Organisation definiert wurde, im Alter von 14 ½
Jahren bei. Mit 15 trug ich Pistolen)
Übrigens, Johanna von Orleans war 16 Jahre alt, als sie die
französische Armee in die Schlacht führte.
Die Siedler bringen ihre Kinder und Säuglinge, normalerweise ohne zu
zögern, in gefährliche Situationen
11. „Noch einmal wird bewiesen, dass die ganze Welt gegen uns ist.
Sie sind alle Antisemiten.“
Die öffentliche Weltmeinung ist immer auf Seiten der Unterdrückten.
In diesem Kampf sind wir Goliath und sie sind David.
In den Augen der Welt kämpfen die Palästinenser einen
Befreiungskampf gegen eine feindliche Besatzung. Wir sind in ihrem
Land – nicht sie in unserem. Wir siedeln auf ihrem Land – nicht sie
auf unserem. Wir sind die Besatzer, sie sind die Opfer. Dies ist die
objektive Situation und kein Propagandaminister (wie Herr Nachman
Shai) kann dies ändern.
12. „Wir haben keinen Partner für den Frieden“.
Stimmt, wir haben keinen Partner für einen Frieden, den die
Palästinenser als eine Kapitulation gegenüber israelischen
Ultimatums sehen. Tatsächlich hätten wir einen Partner für einen
Frieden, der auf Gleichheit und gegenseitigem Respekt beruht.
Die Lösung ist ganz klar: der Staat Palästina muss innerhalb der vor
1967er-Grenze errichtet werden mit Jerusalem als der Hauptstadt von
zwei Staaten: Ost-Jerusalem mit dem Harm Ash-Sharif muss zu
Palästina gehören – West-Jerusalem mit der Klagemauer und dem
jüdischen Viertel muss zu Israel gehören. Wenn diese Lösung im
Prinzip akzeptiert wird, können Verhandlungen über die andern
Probleme beginnen: Sicherheit, die auf Gegenseitigkeit beruht,
Austausch von Gebieten, eine moralische und praktische Lösung für
die Flüchtlinge, Wasserzuteilung usw.
Dieser Frieden wird zustande kommen – weil die einzige Alternative
für beide Seiten die Hölle bedeutet.
20.10.2000
Aus dem Englischen übersetzt: Ellen
Rohlfs und vom Verfasser autorisiert
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