Ein schwarzes Loch
Uri
Avnery, 15.Mai 2010
MAN MÖCHTE vor Neid platzen, wenn man sieht, wie die Briten dies
gemanagt haben. Was für eine Demokratie! Mit welcher Würde!
Wahlen innerhalb eines Monats. Eine neue Koalition innerhalb von
fünf Tagen. Ein Wechsel der Regierungen innerhalb von 70 Minuten.
Ein Besuch bei der Königin. Der scheidende Ministerpräsident nimmt
seine Frau und seine zwei kleinen Kinder, verlässt die Residenz des
Ministerpräsidenten und geht. Der neue Ministerpräsident betritt die
Residenz.
Elegant, ruhig, kurz und anstandslos. Das Volk hat gesprochen. Das
ist es.
Und bei uns?
Unsere Wahlkampagne läuft monatelang. Der Tumult füllt die Luft,
eine Kakophonie von Flüchen und allgemeinen Geschmacklosigkeiten.
Danach vergehen Monate, bevor eine neue Koalition gebildet wird. In
der Zwischenzeit tauschen die Sieger und Besiegten Beleidigungen
mit einander aus: Linke, Faschisten, Verräter, Zerstörer Israels,
Plünderer Jerusalems, Lakaien der Besatzung, Diebe – alles geht.
Das Chaos hat seinen großen Tag. Neue Parteien wachsen wie Pilze
nach dem Regen.
Bis zum letzten Augenblick weiß keiner, wer mit wem konkurriert.
UNSERE NÄCHSTE Wahl ist noch weit weg. Wenn nicht eine plötzliche
Krise auftaucht, wird sie 2014 stattfinden. In Israel sind drei
Jahre eine politische Ewigkeit.
Viele glauben, dass die Regierung viel früher fallen wird,
vielleicht in ein paar Monaten. Dann ist die zugewiesene Frist für
das Einfrieren des Siedlungsbaus in der Westbank vorbei. Benyamin
Netanyahu wird dann entscheiden müssen, ob er dem amerikanischen
Druck nachgibt und sie verlängert oder ob er mit dem Vergrößern der
Siedlungen weitermacht und eine Konfrontation mit Barack riskiert.
Im ersten Fall werden die Siedler und ihre Verbündeten in der
Regierung rebellieren. Im zweiten Fall werden die von der
Laborpartei übrig gebliebenen die Koalition verlassen.
Ich zweifle, dass dies geschehen wird. Alle Mitglieder der Regierung
haben ein wesentliches Interesse, dabei zu bleiben. Keiner ihrer
Komponenten ist bereit, draußen zu bleiben. Ehud Barak, ein General
ohne Soldaten, klebt an seinem Sitz. Avigdor Lieberman, ein
Außenminister, den fast kein Ausländer treffen will, hat kein
einziges Wahlversprechen gehalten. Warum sollte man seine Macht
vergrößern? Eli Yishai, ein Lieberman mit Kipa, fühlt, dass ihm
sein früherer Rivale Aryeh Der’i die Hölle wieder heiß machen und
seines Gottes kleines Stück Land festhalten will. Sie alle fühlen,
dass sie alle entweder zusammen hängen oder sie getrennt
aufgehängt werden.
Das ist politische Logik. Doch Logik ist ein seltener Gast in der
Politik. Wenn das Einfrieren – oder das sogenannte Einfrieren –
nicht beendet wird, gibt es einen Aufstand der Siedler. Die
Aller-Extremsten werden die Nur-Extremen hinter sich sammeln. Gegen
den Wunsch aller ihrer Mitglieder wird die Regierung trotzdem
fallen.
Was wird dann geschehen?
DAS IST die Frage, die jetzt viele Gemüter beschäftigt –
Entertainer, TV- Leute, Kommentatoren, Generäle, berühmte
Persönlichkeiten aller Arten und Geschlechts, Pensionäre, Studenten,
Professoren und was sonst noch alles – die von einer neuen Partei
träumen.
Dies Phänomen hat einen spezifisch israelischen Hintergrund.
In
England ist das Wahlkreissystem vollkommen diskreditiert. Viele
Millionen gehen verloren. Dort träumen alle von einem neuen System,
das wenigstens zum Teil proportional sein wird. In Israel ist es
gerade umgekehrt: das proportionale System hat das politische Leben
korrumpiert, und viele Leute träumen von einem neuen System, das
wenigstens zum Teil auf Wahlkreisen besteht. Anscheinend ist die
beste Lösung mit einem System, das zum Teil proportional und zum
Teil auf Wahlkreisen beruht, wie das deutsche. Aber hier in Israel
sind alle Politiker gegen eine Veränderung.
Innerhalb großer Teile der Wählerschaft hat unser System
weitverbreitete Ekel für alle Politiker hervorgerufen. Die Leute
verabscheuen das ganze politische System und alle bestehenden
Parteien.
Deshalb entstehen bei jeder Wahlkampagne neue Parteien und
versuchen, Hunderttausende von Wählern anzuziehen, die sagen, sie
hätten niemanden, den sie wählen könnten. Diese Bürger könnten
natürlich nicht an der Wahl teilnehmen und an den Strand gehen, aber
sie wollen ihre Wahlstimme nicht verschwenden. Deshalb entscheiden
sie sich im letzten Augenblick für eine der neuen Parteien, die den
Zorn gegen alles, was gerade die Öffentlichkeit wütend macht, zum
Ausdruck bringt. Die Partei, die diese Stimmung auffängt, gewinnt
diese Stimmen, um bald wieder zu verschwinden.
Das geschah der Dash-Partei von General Yigael Yadin, die bei den
1977er-Wahlen entstand. Sie hatte ein Patentmedikament gegen alle
Übel, wie Kriege. Korruption, Armut und religiösen Zwang:
Wahlreform. Sie gewann einen fantastischen Sieg (15 Sitze in der
Knesset) und verschwand, ohne eine Spur bei den nächsten Wahlen zu
hinterlassen. Dann erschienen alle Arten von „Zentrum-“ und
„Dritter Weg“-Parteien und verschwanden. Die Wahlen von 2005 sahen
Shinui (Wandel), die Partei von Tommy Lapid, einem
TV-Talkshowmaster, der sich mit seiner Aggressivität und seiner
ungezügelten Geschmacklosigkeit einen Namen machte. Er hisste die
Flagge des Hasses für die Orthodoxen und gewann 15 Knessetsitze -
nur um in der nächsten Wahlrunde wieder zu verschwinden. Nach ihm
kam Rafi Eitan, der Mann, der Adolf Eichmann gekidnappt hatte und
der für die Jonathan Pollard-Affäre verantwortlich war, der eine
Partei der Pensionäre gründete. Er gewann stattliche sieben Sitze –
nicht dank der Pensionäre, die nichts für ihn übrig hatten, sondern
dank der jungen Leute, die sie für einen großen Scherz hielten. Bei
den nächsten Wahlen war diese Partei natürlich auch verschwunden.
(
Übrigens: gründeten meine Freunde und ich 1965 die „Haolam Hazeh –
Neue-Kraft-Partei“, die zwei Knessetperioden arbeitete und dann
Teil der „Sheli“-Partei wurde und später die „Progressive Liste für
Frieden“. Diese hatten alle ein unpopuläres Programm).
Nun träumen viele Leute wieder – jeder/jede für sich – über einen
neuen Versuch. Sie scheinen sich nicht darum zu kümmern, dass es
immer nur für eine Knessetperiode ist – Hauptsache sie kommen
wenigstens einmal in die Knesset. Unter den Kandidaten ist Yair
Lapid, der Sohn des oben erwähnten Tommy, ein hübscher, ruhiger und
liebenswürdiger TV-Moderator, der täglich auf dem Bildschirm
erscheint und fast nie eine Meinung äußert, die nicht für jeden
angenehm ist. Er nimmt auch keinen eigenen Standpunkt ein, noch
äußert er eine originelle Idee. Der ideale Kandidat.
Er
ist nicht allein. Es gibt noch viel andere: Hochzeitssänger, die
beim Publikum beliebt sind, populäre Fußballspieler, Berühmtheiten,
die ihren Ruhm einem PR-Agenten verdanken. Sogar Rafi Eitan ist
wieder aus dem Nirgendwo aufgetaucht. Wenn Hunderttausende von
Stimmen auf den Straßen liegen, ist die Versuchung groß.
Parteien kommen und gehen, wie die Staude in der Bibel, „die in
einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb“. Der Prophet Jona, der
sich über ihren Schatten freute, war so ärgerlich , „dass er matt
wurde, als sie verschwand. Da wünschte er sich den Tod und sprach:
ich möchte lieber tot sein als leben“ (Jona 4). Aber das ist nicht
wichtig.
WAS ABER wichtig ist, ist, das klaffende Loch im
israelisch-politischen System zu schließen, das schwarze Loch der
Linken.
Die Rechte blüht. Offene Faschisten, die einmal marginal waren,
werden jetzt von der Mitte akzeptiert. Ein Schüler des
ultra-Rassisten Meir Kahane spielt eine Hauptrolle in der Knesset,
und es scheint, niemanden zu stören. Die Siedler planen eine
„feindliche Übernahme“ des Likud.
Außer dem Likud gibt es nur noch eine große Partei, die so weit von
der Linken ist wie die Erde vom Alpha Centauri. Jüngst legten zwei
Kadima-Knessetmitglieder – Ronit Tirosh und Othniel Schneller –
einen haarsträubenden rassistischen Gesetzentwurf vor , der
bestimmte, dass Friedensorganisationen, die Brutalitäten aufdecken,
die Israel „besudeln“ und zur Verhaftung israelischer Armeeoffiziere
im Ausland führen könnten, für ungesetzlich erklärt werden können.
Zipi Livni rührte keinen Finger, um dies zu verhindern.
Man stimmt allgemein darin überein, dass bei den nächsten Wahlen
die Laborpartei, die nichts anderes als eine
Verteidigungsministeriumspartei ist, erledigt wird, so auch Meretz.
Beide sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie werden eine
politische Wüste hinter sich lassen.
Die Situation schreit zum Himmel. Hunderttausende von Israels
Wählern tragen in ihrem Herzen die Grundwerte der Linken: Frieden,
Gerechtigkeit, Gleichheit, Demokratie, Menschenrechte für alle,
Feminismus, Umweltschutz, Trennung zwischen Staat und Religion. Wo
sind sie? Wer vertritt sie?
Ein großer Teil der Öffentlichkeit stellt nun diese Frage. Viele
sind sich darin einig, dass „etwas getan werden muss“. Aber
anscheinend weiß keiner genau wie.
EINIGE SCHAUEN nach einem Kochbuchrezept, wo es klipp und klar
heißt: „Man nehme 2 Eier, 4 Löffel Mehl, eine Prise Salz …“
Also: Man nehme 12 Promis, 7 respektierte Professoren, 3
Menschenrechtsanwälte, 2 Friedensaktivisten (nicht zu radikal),
einen Popstar, eine berühmte TV-Person, bestreue sie vorsichtig mit
Slogans (nicht zu extrem), rühr tüchtig um und dann serviere
lauwarm…“
Oder alternativ: man nehme 4 Mitglieder der restlichen Labor, 2
Flüchtlinge von Merez, 3 enttäuschte Kadima-Mitglieder, einen
Grünen, einen Aktivisten aus den armen Stadtteilen…“
Nein, so wird es nicht gehen.
Die Schaffung einer neuen Partei – einer Partei, die die politische
Szene verändern kann, die ernsthaft um die Macht kämpft und eine
lange Zeit funktioniert – ist keine Kochübung.
Es
ist ein Schöpfungsakt nötig, nicht weniger als ein Bild von Leonardo
da Vinci, als das Taj Mahal oder der Dom von Florenz.
Solch eine Partei muss all diese Werte verkörpern – nicht als eine
Kollektion von Slogans, sondern als ein integrales Ganzes. Eine
Partei, die nicht die Fortsetzung eines politischen Wracks ist noch
an überholten Gedankenmustern und Slogans der PR- Genies klebt. Eine
Partei, die einen vollkommen neuen Plan umreißt. Eine Partei, die
nicht einen Flicken auf den andern setzt und keinen Reparaturjob
hier und dort vorschlägt, sondern ein neues Modell eines Staates
Israel vorschlägt, einen kompletten Plan für eine zweite israelische
Republik.
Der Führer für solch eine Partei wird nicht auf dem politischen
Schrottplatz gefunden. Ein wirklicher Führer kommt mit eigener
Macht hoch wie Barack Obama, eine junge Person mit einer neuen
Botschaft.
So
lange wie kein solcher Führer erscheint, muss die Initiative von
unten kommen. Bei allen Demonstrationen sehe ich junge Leute,
Idealisten, die mich mit ihrer Ernsthaftigkeit und ihrem Mut
beeindrucken, Friedensaktivisten, Menschenrechtsaktivisten,
Umweltaktivisten.
Aus ihren Reihen müsste die neue Initiative kommen, die uns alle um
sich sammelt.
Natur verabscheut ein Vakuum. Früher oder später wird das schwarze
Loch gefüllt. Wenn wir es nicht selbst tun, wird es von einem
vielfüßigen Monster gefüllt werden.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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