Noch ein
Hirngespinst
Uri Avnery, 8.2.14
WAS IST
falsch an der Forderung, die palästinensische Führung möge
Israel als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“
anerkennen?
Nun,
praktisch alles..
Staaten
erkennen einander an. Sie erkennen nicht den ideologischen
Charakter der Staaten an.
Ein Staat ist
eine Realität. Ideologien gehören in einen abstrakten
Bereich.
Als die USA
nach langer Verzögerung die Sowjetunion 1933 anerkannten,
erkannten sie den Staat an. Sie erkannten nicht die
kommunistische Ideologie an.
Als die PLO
im Oslo-Abkommen und im voraus gehenden Briefwechsel den
Staat Israel anerkannte, wurde sie nicht gebeten, die
zionistische Ideologie anzuerkennen. Als Israel dafür die
PLO als die Vertreterin des palästinensischen Volkes
anerkannte, erkannte es nicht irgendeine spezielle
palästinensische säkulare oder religiöse Ideologie an.
Einige
Israelis (einschließlich meiner selbst) würden gerne die
Selbstdefinition Israels als eines „jüdischen und
demokratischen Staates“ verändern und das Wort „jüdisch“
weglassen. Einige andere Israelis würden gerne das Wort
„demokratisch“ weglassen. Keiner von uns glaubt, dass wir
die Bestätigung der Palästinenser dafür brauchen.
Das ist
nicht ihre Sache.
ICH WEISS
nicht, welches die wirkliche Absicht Netanjahus ist, wenn
er diese Forderung als Ultimatum stellt.
Die für ihn
schmeichelhafteste Erklärung ist, dass dies nur noch ein
weiterer Trick ist, den Friedensprozess zu sabotieren,
bevor die Forderung erreicht ist, die israelischen
Siedlungen in den palästinensischen Gebieten zu evakuieren.
Die weniger schmeichelhafte Erklärung ist, dass er wirklich
daran glaubt, dass er an einem tief verwurzelten nationalen
Minderwertigkeitskomplex leidet, der von außen eine
Legitimierung benötigt. Den Nationalstaat des jüdischen
Volkes anzuerkennen, bedeutet, das ganze zionistische
Narrativ mit allem Drum und Dran zu akzeptieren,
angefangen mit dem göttlichen bis heute gültigen
Versprechen an Abraham .
Wenn John
Kerry darüber nachdenkt, ob er diese Forderung in sein
Rahmenabkommen mit einschließen soll, dann sollte er zweimal
darüber nachdenken.
Wo würde dies
seinen Sonderbeauftragten, Martin Indyk, lassen?
Herr Indyk
ist Jude, der einen jiddischen Namen hat (Indyk bedeutet
Truthahn).Wenn Israel der Staat der ganzen jüdischen Nation
und/oder Volkes ist, dann ist er wohl oder übel mit
eingeschlossen. Der Staat Israel vertritt auch ihn. Wie kann
er dann als ehrlicher Unterhändler zwischen den beiden
kriegführenden Seiten funktionieren?
Und wo lässt
dies die Millionen amerikanischer Juden, jetzt, da der
Konflikt zwischen den Regierungen der US und Israel sich
verschärft? Auf welcher Seite sind sie dann? Sind sie alle
Jonathan Pollards? (der im US-Gefängnis sitzt, weil er für
Israel spionierte)
DIE NEU
gefundene unabhängige amerikanische Stimme gegenüber Israel
treibt den israelischen rechten Flügel dazu, seltsamere
Lösungen auszudenken.
Das letzte
Beispiel ist Benjamin Netanjahus brillante Idee: warum die
israelischen Siedler nicht dalassen, wo sie sind – als
palästinensische Bürger?
Dies sieht
für viele empfindliche Leute nahezu fair aus, nach bester
anglo-sächsischer Tradition.
Der Staat
Israel hat jetzt etwa 1,6 Millionen
arabisch-palästinensischer Bürger. Warum sollten im Staat
Palästina, mit Ost-Jerusalem, nicht etwa 0,6 Millionen
jüdische Israelis leben?
Die Araber in
Israel genießen – wenigstens theoretisch - volle Rechte.
Sie stimmen für die Knesset. Sie unterstehen dem Gesetz.
Warum sollten diese Israelis sich nicht aller legalen Rechte
in Palästina erfreuen, für das palästinensische Parlament
stimmen und dem Gesetz unterstehen?
Die Leute
lieben Symmetrie; Symmetrie macht das Leben leichter. Es
entfernt Kompliziertes.
(Als ich ein
Rekrut in der Armee war, wurde mir beigebracht, der
Symmetrie zu misstrauen. In der Natur ist Symmetrie selten.
Wenn du Bäume im gleichen Abstand siehst, so ist das kein
Wald- wurde mir gesagt – sondern es sind getarnte
feindliche Soldaten.)
AUCH DIESE
Symmetrie ist falsch.
Israels
arabische Bürger leben auf ihrem (restlichen) Boden. Ihre
Vorfahren haben seit mindestens 1400 Jahren oder vielleicht
seit 5000 Jahren dort gelebt. Saeb Erekat behauptete in
dieser Woche, dass seine Familie seit 10 000 Jahren in
Jericho lebe, während seine israelische Kollegin, Tzipi
Livni, die Tochter von Immigranten sei.
Die Siedler
in den besetzten palästinensischen Gebieten sind auch
meistens Immigranten. Sie leben nicht auf dem Land ihrer
Vorfahren, sondern auf palästinensischem Land, das
gewaltsam enteignet wurde – entweder „privates“ Land“ oder
„Staatsland“. Dieses sog „Staatsland“ war Gemeindeland,
Reserven der Dörfer, das in ottomanischer Zeit auf den Namen
des Sultans registriert war und später auf den Namen der
britischen und jordanischen Behörden. Als Israel das Gebiet
eroberte, übernahm es diesen Boden, als sei er sein
eigener.
ABER DER
Hauptpunkt ist etwas anderes. Es betrifft den Charakter der
Siedler selbst.
Der Kern der
Siedler, derjenigen, die in den „isolierten“ kleinen
Siedlungen in den Gebieten leben, die auf jeden Fall Teil
des palästinensischen Staates werden sollen, sind religiöse
und nationalistische Fanatiker.
Sie verließen
ihre komfortablen Wohnungen in Israel und gingen aus
idealistischen Gründen in die trostlosen, felsigen Hügel von
„ Judäa und Samaria.“ Sie glaubten, dieses Gebiet gehöre
Israel, und sie - nach ihrer Interpretation - Gottes
Verheißung erfüllten und die Entstehung eines
palästinensischen Staates auf immer unmöglich sei, dass
hier ein palästinensischer Staat entsteht.
Die Idee,
dass diese Leute gesetzestreue Bürger eben dieses
palästinensischen Staates würden, ist grotesk. Die meisten
hassen alles Arabische, einschließlich der Arbeiter, die für
den Gewinn eines Mindestlohns arbeiten und ohne soziale
Rechte sind. Sie sagen das offen und bei jeder Gelegenheit.
Sie unterstützen die Rächerbanden, die ihre arabischen
Nachbarn terrorisieren, und verurteilten sie nicht. Sie
gehorchen ihren fanatischen Rabbinern, die unter einander
darüber reden, ob es recht sei, nichtjüdische Kinder zu
töten, die, wenn sie erwachsen sind, möglicherweise Juden
töten. Sie planen den Bau des Dritten Tempels, nachdem sie
die muslimischen Heiligen Stätten in die Luft jagen werden.
Sie sich als
palästinensische Bürger vorzustellen, ist lächerlich.
NATÜRLICH
SIND nicht alle Siedler so. Einige von ihnen sind völlig
anders.
In dieser
Woche strahlte eine israelische Fernseh-Station eine Reihe
Filme über die wirtschaftliche Situation der Siedler aus.
Diese war ein Augenöffner.
Diese
idealistischen Pioniere, die in Zelten und Holzhütten
lebten, sind seit langem nicht mehr da. Viele Siedlungen
bestehen jetzt aus luxuriösen Palästen, jede mit einem
Schwimmbad, Pferden und Obstgärten. Etwas. von dem 99% der
Israelis nicht einmal träumen. Da fast alle von ihnen ohne
einen Schekel in ihrer Tasche kamen, ist es klar, dass alle
diese Paläste mit unsern Steuergeldern gebaut wurden - die
riesigen Summen, die jedes Jahr zu diesem Unternehmen
transferiert werden.
Diese
städtischen Siedlungen nahe der Grünen Linie werden
„Siedlungsblöcke“ genannt und sind etwas ganz anderes. Sie
sind wahrscheinlich dafür gedacht, Israel angeschlossen zu
werden im Zusammenhang von „Landtausch“. Aber mindestens
zwei von ihnen lassen ernste Fragen offen: Ariel, das 25km
innerhalb des mutmaßlichen palästinensischen Staates liegen
soll, und Maale Adumim, das praktisch die Westbank in zwei
Teile teilt.
Diese zwei
großen Städte mit ihren Bewohnern in den souveränen
palästinensischen Staat einzubauen, ist ein Hirngespenst.
Als Netanjahu
in dieser Woche versprach, dass er keinen einzigen Siedler
vertreiben noch eine einzige Siedlung evakuieren werde, kann
er an Charles de Gaulle gedacht haben, der auch keinen
Siedler vertrieb und keine Siedlung auflöste. Er setzte nur
das Datum fest, wann die französische Armee Algerien
verlassen würde.
Das war
genug.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)