Zwölf Jahre später
Uri Avnery, 27.10.07
DER
PRÄSIDENT der Knesset lud mich ein, an einer besonderen
Knessetsitzung teilzunehmen, die dem Gedenken des 12.
Jahrestages der Ermordung Yitzhak Rabins gewidmet sein
sollte.
Ich
kämpfte mit mir selbst, ob ich diese Einladung annehmen
sollte.
Einerseits wollte ich den Menschen, und das, was er in
seinen letzten Jahren erreicht hatte, ehren. Ich mochte ihn.
Andrerseits hatte ich nicht den Wunsch, die Lobreden von
Shimon Peres anzuhören, von dem Mann also, der vorgab, auf
Rabins Weg weiterzugehen – der dann aber das Oslo-Abkommen
aus reiner Feigheit begrub. Noch weniger wollte ich mir die
Lobhudelei von Ehud Olmert anhören, einem der Leute, der die
Hetzkampagne gegen das Oslo-Abkommen und ihre Initiatoren
anführte. Und am wenigsten wollte ich die „Lobrede“ eines
Binyamin Netanyahu anhören, der auf dem Balkon stand,
während unter ihm loyale Demonstranten Plakate zur Schau
trugen, die Rabin in SS-Uniform zeigten
AM
ENDE ENTSCHIED ich mich, fern zu bleiben und nicht an dieser
Orgie frömmelnder Heuchelei teilzunehmen. Ich ging nicht
zur Knesset. Stattdessen saß ich zu Hause, schaute aufs Meer
hinaus und dachte über diesen Menschen nach.
Über
den jungen Yitzhak Rabin, der sich der Palmach anschloss (
die „reguläre“ Truppe vor der Staatswerdung); den
Kommandeur, der Araber im 1948er-Krieg aus ihren Häusern
vertrieb; den Generalstabschef, der uns nach dem
Sechstagekrieg dazu aufrief, die Toten des Feindes zu ehren;
den Ministerpräsidenten, der für das Bildungswesen mehr tat
als irgend einer seiner Vorgänger und Nachfolger; den
Ministerpräsidenten, der mir erlaubte, meine geheimen
Kontakte mit PLO-Führern fortzuführen, als dies noch ein
schweres Verbrechen darstellte; den Verteidigungsminister,
der die Soldaten dazu aufrief, „den Palästinensern die Arme
und Beine zu brechen“,(einem Befehl, der dann auch genau so
durchgeführt wurde); den Mann, der die PLO anerkannte und
Yasser Arafat die Hand schüttelte.
Er
war all dies – und diese Liste könnte weiter geführt
werden.
Mehr
als all dieses war er aber der typische Vertreter meiner
Generation, der „Generation von 1948“. Und es war kein
Zufall, dass diese nach einem Krieg definiert wurde. Es war
die Ära der Unschuld. Die Unschuld der Kämpfer und des
Yishuv (die hebräische Gesellschaft im vorstaatlichen
Palästina). Im Rückblick erscheinen die Ereignisse jener
Zeit – die Aktionen der Untergrundorganisationen, die
Kriegsoperationen – in einem anderen Licht, es ist ein Bild
mit viel Schatten. Es muss aber daran erinnert werden: als
diese Ereignisse geschahen, sahen sie für uns ganz und gar
anders aus.
Rabin personifizierte die Unschuld seiner Generation, die
von ganzem Herzen glaubte, ihr Leben für eine gerechte Sache
zu geben, gerechter als jede andere: für die Existenz des
Yishuv, für die Rettung der Juden Europas, für den Kampf für
nationale Unabhängigkeit.
Ohne
diesen festen Glauben, verbunden mit totaler Ignoranz der
andern Seite gegenüber, hätten wir die Bewährungsprobe von
1948 nicht bestanden – einer Bewährungsprobe, die einen
bedeutenden Teil unserer Generation verletzt oder tot
zurückließ.
Diese Generation idealisierte einen gewissen
Persönlichkeitstyp: „Sabra“ genannt (wörtlich übersetzt:
eine stachelige Pflanze), eine mythische Gestalt, die einen
enormen Einfluss auf den Charakter dieser Generation hatte (
ich selbst spielte bei der Pflege dieses Mythos eine
gewisse Rolle). Der Sabra galt als aufrecht, physisch wie
auch psychisch, frei von Komplexen der „Exil“-Juden
(„exilisch“ war der Ausdruck größter Beleidigung in unserm
Wörterbuch). Der Sabra war ehrlich, wahrheitsliebend,
praktisch, natürlich, jemand, der immer schnell zur Sache
kommt, hohle Phrasen und theatralisches Getue verachtete,
ein Verhalten, das wir umgangssprachlich „Zionismus“
nannten. Bevor wir etwas über den Holocaust wussten,
wurden Exiljuden und alles, was mit ihnen verbunden war, mit
Spott, ja mit Verachtung behandelt.
Ganz
von alleine kam es zu einer klaren terminologischen
Unterscheidung: gegenüber standen sich der „hebräische“
Yishuv und die „jüdische“ Religion, der „hebräische“ Kibbuz
und das „jüdische“ Stedl (in der Diaspora), „hebräische“
Arbeit (wie im Namen der damalig herrschenden Gewerkschaft,
der „Allgemeinen Organisation der hebräischen Arbeiter in
Erez Israel“) und die „jüdischen“ Luftgeschäfte (Jiddisch
für nebulöse Transaktionen ), „hebräische“ Arbeiter und
„jüdische“ Spekulanten.
Yizhak Rabin war der prototypische Sabra: ein hübscher
junger Mann, der seine privaten Ambitionen zurückstellte (
nämlich das Ingenieurstudium der Hydraulik), um der Nation
zu dienen, um ein Kämpfer zu werden, um die Kämpfer zu
kommandieren, um praktische Dinge zu vollbringen und die
Diskussion über die Ideologie den alten Leuten zu
überlassen.
Er
war bekannt für seinen „analytischen Verstand“; denn er
hatte die Fähigkeit, eine vorgegebene Situation zu
analysieren und praktische Lösungen zu finden. Die andere
Seite der Münze war der Mangel an Phantasie. Er löste reale
Probleme, konnte sich aber keine andere Realität
vorstellen.( Abba Eban, der ihn nicht ausstehen konnte,
sagte mir in seiner boshaften Art: „Analyse bedeutet: aus
einander nehmen. Rabin kann die Dinge aus einander nehmen –
aber er kann sie nicht wieder zusammen setzen.“)
Er
lebte zurückgezogen - vielleicht war er schüchtern, und
er mied körperliche Nähe, wie Schulterklopfen und
öffentliche Umarmungen. Zuweilen wurde er als „Autist“
bezeichnet. Aber er war nicht anmaßend, sicher nicht
arrogant. Nach ein paar Gläsern Alkohol (immer Whiskey)
öffnete er sich ein wenig, und bei Partys konnte er sogar
lächeln, sein irgendwie schiefes Lächeln und wurde dabei
ganz freundlich.
WENN
ER 1970 gestorben wäre, hätten wir ihn nur als Soldaten in
Erinnerung, als erfolgreichen Brigadekommandeur des
1948er-Krieges, als den besten Generalstabschef, den die
israelische Armee je hatte, als den Architekten des
unglaublichen Sieges des Sechstagekrieges. Aber das war nur
ein Kapitel seines ereignisreichen Lebens. Dann geschah mit
ihm etwas Seltsames: im Alter von 70 Jahren tat er etwas,
wozu sogar 30-Jährige im allgemeinen nicht in der Lage sind:
er änderte sein Weltbild vollkommen und wandte sich von
Gewissheiten ab, die bis dahin sein Leben bestimmten.
Ich
wurde Zeuge seiner erstaunlichen Veränderung. Als er 1969
als israelischer Botschafter in Washington war, sprachen wir
das erste Mal über das palästinensische Problem. Er verwarf
die Idee des Friedens mit den Palästinensern vollkommen. Ich
erinnere mich noch an einen Satz, den er bei diesem
Gespräch äußerte: „Es geht mir nicht um sichere
Grenzen, ich will offene Grenzen.“ - im Hebräischen
ein Wortspiel: ‚batuach’ bedeutet ‚sicher’, ‚patuach’
bedeutet ‚offen’ -. „Sichere Grenzen“ war zu jener Zeit der
Slogan der Annexionisten. Rabin meinte eine offene Grenze zu
Jordanien und sagte einmal: „Es ist mir egal, ob ich ein
Visum brauche, wenn ich nach Hebron gehe.“
Danach trafen wir uns von Zeit zu Zeit – in seinem Büro, in
der Residenz des Ministerpräsidenten, in seiner
Privatwohnung und bei Partys – und immer wieder kamen wir
auf das palästinensische Problem zu sprechen. Seine Haltung
dazu blieb negativ.
Deshalb weiß ich, wie ungewöhnlich sein ideologischer
Wandel war. Ich glaube nicht, dass ich es war, der ihn
beeinflusste – höchstens habe ich dafür einige Samenkörner
gestreut. Er selbst erklärte mir später, dass eine Reihe
logischer Schlussfolgerungen zu dieser Wandlung führten:
als er Verteidigungsminister war, traf er sich mit einigen
lokalen palästinensischen Persönlichkeiten. In Gesprächen
unter vier Augen waren sie zugänglich, doch wenn sie als
Gruppe auftraten, waren sie hart und sagten ihm, dass sie
die Anweisungen von der PLO entgegennahmen. Dann kam die
Madrid-Konferenz. Israel gab dem Druck nach und war damit
einverstanden, mit einer jordanischen Delegation zu
verhandeln, die palästinensische Mitglieder einschloss.
Einmal dort, weigerten sich die Jordanier, über das
palästinensische Problem zu reden, und so wurden die
palästinensischen Mitglieder praktisch eine unabhängige
palästinensische Delegation. Faisal Husseini, ihr wirklicher
Führer, durfte nicht in den Konferenzraum, weil er in
Jerusalem lebte. Also ging die Delegation immer wieder
einmal in den anderen Raum, um sich mit ihm abzusprechen,
und am Ende jedes Tages erzählten sie den Israelis, dass sie
mit Tunis telefonieren müssten, um Instruktionen von Yasser
Arafat zu bekommen.
„Dies war für mich einfach zu lächerlich,“ sagte Rabin in
seiner ehrlichen Weise zu mir. „Wenn alles irgendwie von
Arafat abhängt, warum sollte man dann nicht mit ihm direkt
verhandeln?“
Das
war der Hintergrund zu Oslo.
WARUM LANDETE Rabins Oslo-Schiff auf einer Sandbank?
Ich
glaube, dass Rabin an vielem selbst schuld war. Er wollte
wirklich einen Frieden mit den Palästinensern erreichen.
Aber er sah keinen Weg zu diesem Ziel, und er hatte kein
klares Bild von diesem Ziel. Die Wende war zu schroff. Wie
die israelische Gesellschaft im allgemeinen war er nicht in
der Lage, sich selbst vom einen zum andern Tag von den
Ängsten, dem Misstrauen, dem Aberglauben und den
Vorurteilen zu befreien, die sich im Laufe von 120 Jahren
des Konfliktes angesammelt hatten.
Deshalb vollbrachte er das eine Manöver nicht, das das
Oslo-Schiff sicher im Hafen hätte landen lassen: den
Schwung der Ereignisse auszunützen und Frieden mit einer
kühnen und schnellen Maßnahme zu erlangen. Er kannte das
berühmte Wort von David Lloyd-George nicht, das dieser
äußerte, als es um den Frieden mit Irland ging: „Man kann
einen Abgrund nicht mit zwei Sprüngen überqueren.“
Seine persönlichen Eigenschaften hatten keinen guten
Einfluss auf den Prozess. Von Natur aus war er vorsichtig,
langsam, und dramatische Gesten mochte er nicht (im
Gegensatz zu Menachim Begin z.B.) Die Folge davon war die
fatale Schwäche des Oslo-Abkommens: das Endziel war nicht
ausgesprochen worden. Die beiden entscheidenden Wörter
fehlten – „Palästinensischer Staat“ – sie kamen überhaupt
nicht vor. Diese entscheidende Lücke musste zum Kollaps
führen
Während beide Seiten Monate, ja, Jahre vergeudeten, um über
jede einzelne Kleinigkeit der endlosen „Interim“-Schritte zu
feilschen, hatten die Anti-Friedenskräfte in Israel Zeit,
sich zu erholen und zu vereinen. Von den Siedlern und der
Ultra-rechten angeführt, wurden sie durch den in einem
langen Krieg erworbenen Hass und die Ängste genährt.
Militärisch ausgedrückt: Rabin war wie ein General, dem es
gelungen war, eine Bresche in die Front zu schlagen – und
statt seine Kräfte nun in die Bresche zu werfen und eine
Entscheidung zu erzwingen, zögerte er und blieb stehen. So
ließ er der Gegenseite Zeit, sich neu zu gruppieren und
eine neue Front zu bilden. Mit anderen Worten: er schlug
die Kriegskräfte in die Flucht, erlaubte ihnen aber, sich
wieder zu vereinigen und einen Gegenangriff durchzuführen.
Dafür bezahlte er mit seinem Leben.
DER
MORD an Rabin veränderte die Geschichte Israels, genau wie
der Mord am österreichischen Thronfolger in Sarajewo 1914
die Geschichte der Welt veränderte.
Man
sagt, keiner ist unersetzlich. Aber es wurde kein zweiter
Rabin gefunden – keiner mit seiner Ehrlichkeit, keiner mit
seinem Mut, keiner mit seinem logischen Verstand.
In
dieser Woche erklärte Olmert, er schreite auf Rabins Weg
fort; aber er vertritt genau das Gegenteil: er ist das
Gegenteil von Ehrlichkeit, das Gegenteil von Mut, das
Gegenteil von Logik (ganz abgesehen von seiner Neigung, die
Leute zu umarmen und ihnen auf die Schulter zu klopfen).
Rabin wollte wirklich in Richtung Frieden Fortschritte
machen. Ganz langsam, mit viel hartnäckigem Feilschen, aber
auch mit Konsequenz und Beharrlichkeit. Olmerts Ziele sind
völlig anders. Er wünscht einen „Friedensprozess“, der kein
Ende hat – Reden, Treffen, Konferenzen, ohne dass sich etwas
bewegt. Währenddessen geht die Besatzung weiter, die
Annexion von Land schleicht weiter voran, die Siedlungen
werden größer, und die Hoffnungen und Chancen beider Völker
verpuffen.
Die
Annapolis-Konferenz passt genau in dieses Schema:
inhaltslose Erklärungen, noch eine Konferenz ohne
Ergebnisse, ein Theater ohne Sinn und Bedeutung..
Einige sagen, das Wichtigste wäre zu reden; denn „wenn man
redet, schießt man nicht.“ Das ist eine gefährliche
Illusion. In unserm Konflikt ist das Gegenteil der Fall:
wenn man nur um des Redens willen redet, und die
Besatzungssituation sich verschärft und das Schießen im
Grunde nie wirklich aufgehört hat, dann gewinnt auch die
Verzweiflung an Boden. Der Fehlschlag der
Annapolis-Konferenz kann darum sehr wohl eine dritte
Intifada auslösen.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)
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