Bibi & Libie
Uri Avnery, 11.1.14
VIELLEICHT BIN ich zu dumm, aber zum Kuckuck, ich kann den
Sinn der israelischen Forderung nicht verstehen, dass die
Palästinenser Israel als jüdischen Staat anerkennen sollen.
Wie es aussieht, scheint es ein schlauer Trick Benjamin
Netanjahus zu sein: die Aufmerksamkeit von den wirklichen
Problemen abzulenken. Wenn es so ist, dann sind die
Palästinenser in eine Falle geraten.
Statt über die Unabhängigkeit und die Grenzen des
zukünftigen Staates Palästina zu reden, über seine
Hauptstadt Ost- Jerusalem, die Entfernung der Siedlungen,
das Schicksal der Flüchtlinge und die Lösung so vieler
anderer Probleme, streiten sie über die Definition von
Israel.
Man ist versucht, den Palästinensern zu zurufen: was zur
Hölle, stimmt doch endlich in diese verdammte Anerkennung
ein und seid damit fertig. Wer kümmert sich schon darum?
DIE ANTWORT der palästinensischen Unterhändler ist eine
doppelte::
Als erstes wäre die Anerkennung Israels als jüdischen Staat
ein Verrat gegenüber den anderthalb Millionen
Palästinensern, die Bürger Israels sind. Wenn Israel ein
jüdischer Staat ist, wo würde er sie lassen?
Nun, dieses Problem könnte durch einen Vorbehalt im
Friedensvertrag gelöst werden, in dem festgelegt wird, dass
trotz allem was im Abkommen gesagt ist, die
palästinensischen Bürger Israels sich in jeder Hinsicht
voller Gleichberechtigung erfreuen werden.
Zweitens, die Anerkennung von Israels jüdischer
Verfassung würde die Rückkehr der Flüchtlinge blockieren.
Dieses Argument ist sogar weniger begründet als das erste.
Die Lösung des Flüchtlingsproblems wird ein zentraler Teil
des Vertrages sein. Die palästinensische Führung hat seit
Yasser Arafats Zeit schon mit stillschweigendem
Einvernehmen akzeptiert, dass die Lösung eine sein wird, mit
der beide Seiten „einverstanden“ sind, so dass jede
Rückkehr vor allem symbolisch sein wird. Das
Anerkennungsproblem wird nicht davon berührt.
Die Debatte über diese israelische Forderung ist ganz
ideologisch. Netanjahu verlangt, das palästinensische Volk
solle das zionistische Narrativ akzeptieren. Die
palästinensische Weigerung gründet sich auf das
palästinensische Narrativ, das dem zionistischen praktisch
bei jedem einzelnen Ereignis der letzten 130 Jahre, wenn
nicht gar der letzten 5000 Jahre widerspricht.
Mahmoud Abbas könnte einfach verkünden: OK, falls ihr unsere
praktischen Forderungen akzeptiert, erkennen wir Israel –
egal, was ihr wünscht – an: als buddhistischen Staat, als
vegetarischen Staat oder was iht wollt.
Am 10.September 1993 – der zufällig mit meinem 70.
Geburtstag zusammenfiel – erkannte Yasser Arafat im Namen
des palästinensischen Volkes den Staat Israel an – als
Gegenleistung für die nicht weniger bedeutsame Anerkennung
des palästinensischen Volkes durch Israel. Indirekt hat jede
Seite die andere - so wie sie ist - anerkannt. Israel
definierte sich selbst als jüdischen Staat in seinem
Gründungsdokument. Ergo haben die Palästinenser ihn schon
als einen jüdischen Staat anerkannt.
Übrigens wurde der erste Schritt in Richtung Oslo von
Arafat gemacht, als er seinen Vertreter in London Said
Hamami beauftragte, in der „Times“ am 17. Dezember 1973
einen Vorschlag für eine friedliche Lösung zu
veröffentlichen, der feststellte, der „erste Schritt muss
die gegenseitige Anerkennung dieser beiden Seiten sein. Die
jüdischen Israelis und die palästinensischen Araber müssen
sich gegenseitig als Völker anerkennen, mit allen Rechten
von Völkern.”
Ich sah den Originalentwurf dieser Erklärung mit
Korrekturen von Arafats Hand.
DAS PROBLEM der palästinensischen Minderheit in Israel –
etwa 20% von Israels 8 Millionen Bürgern – ist sehr ernst,
hat aber jetzt eine humorvolle Seite bekommen.
Nach seinem Freispruch von der Korruptionsanklage und seiner
Rückkehr ins Außenministerium hat Avigdor Lieberman
plötzlich John Kerrys Friedensbemühungen unterstützt – sehr
zum Ärger Netanjahus, der das nicht will.
Um Himmels Willen, warum? Lieberman hofft eines Tages - so
bald wie möglich - Ministerpräsident zu werden. Dafür muss
er (1.) seine Partei „ Unser Heim Israel“ mit dem Likud
vereinen. (2.) Führer des Likud werden. (3.) die nächsten
allgemeinen Wahlen gewinnen. Aber über all diesem schwebt
eine 4. Sache: die Anerkennung der Amerikaner gewinnen.
Deshalb unterstützt er die amerikanischen
Friedensbemühungen.
Doch unter einer Bedingung, dass die US seinen Meisterplan
für den jüdischen Staat anerkennen.
Dies ist ein Meisterstück konstruktiver Staatskunst. Sein
Hauptvorschlag ist es, die Grenzen von Israel zu bewegen-
aber nicht nach Osten, wie von Erznationalisten erwartet
wird, sondern westwärts: Israels enge Hüften sogar zu
verschlanken (auf 9 km!)
Das israelische Gebiet, das Lieberman loswerden will, ist
das Gebiet von einem Dutzend arabischer Stätde und Dörfer
bewohnt, die Israel als Geschenk vom damaligen König von
Jordanien Abdallah I. , dem Ur-, Ur-Großvater des
augenblicklichen Königs Abdalla II von Jordanien, im
Waffenstillstand von 1949 bekommen hat. Er benötigte diese
Waffenstillstandslinie um jeden Preis. Lieberman will jetzt
diese Dörfer zurückgeben, danke schön!
Warum? Weil für ihn die Reduzierung der arabischen
Bevölkerung Israels eine heilige Aufgabe ist. Er redet nicht
von Vertreibung, Gott bewahre, überhaupt nicht. Er schlägt
vor, dieses Gebiet mit seiner Bevölkerung an den
palästinensischen Staat abzugeben. Er wünscht, dass die
jüdischen Siedlungsblocks in der Westbank dafür an Israel
angeschlossen werden. Ein Transfer von Gebieten und mit
ihrer Bevölkerung erinnert an Stalins neues Einzeichnen der
Grenzen Polens (1945) - abgesehen davon, dass Liebermans
Grenzen vollkommen verrückt aussehen.
Lieberman stellt dies als einen friedlichen, liberalen und
humanen Plan vor. Keiner wird vertrieben, kein Besitz
enteignet. Etwa 300 000 Araber, alle begeisterte
Unterstützer des palästinensischen Kampfes für einen Staat,
werden palästinensische Bürger.
WARUM schreien die Palästinenser in Israel so auf? Warum
verurteilen sie den Plan als einen rassistischen Angriff auf
ihre Rechte?
Weil sie viel mehr Israelis sind, als sie es sich selbst
eingestehen. Nachdem sie jetzt 65 Jahre in Israel leben,
haben sie sich an seine Lebensweise gewöhnt. Nicht, dass sie
Israel lieben, sie dienen nicht in der Armee, sie werden in
vielfacher Weise diskriminiert; doch sind sie tief in der
israelischen Wirtschaft und Demokratie verwurzelt, viel mehr
als allgemein anerkannt wird.
„Israelische Araber“ (ein Ausdruck, den sie hassen) spielen
in den israelischen Krankenhäusern und Gerichten,
einschließlich des Obersten Gerichtshofes und in vielen
anderen Institutionen eine Rolle.
Morgen ein Bürger Palästinas werden, würde heißen, dass sie
80-90% ihres Lebensstandards verlieren. Es würde auch
bedeuten, das soziale Sicherheitsnetz zu verlieren, dessen
man sich in Israel erfreut. (Obwohl Lieberman verspricht,
die Zahlungen an jene fortzusetzen, die im Augenblick darauf
Anrecht haben). Nachdem man jahrzehntelang an faire Wahlen
gewohnt war und auf den lebhaften Streit in der Knesset,
müssten sie sich an eine Gesellschaft gewöhnen, in der
bedeutende Parteien verboten sind, Wahlen hinausgeschoben
werden, und das Parlament eine geringe Rolle spielt. Auch
die Rolle der Frau ist in dieser Gesellschaft ganz anders
als in Israel.
Die Situation der Palästinenser in Israel ist in vieler
Hinsicht einzigartig. Einerseits, so- lange Israel als
jüdischer Staat definiert wird, haben die Araber nicht
wirklich die gleichen Rechte. Andrerseits, werden diese
israelischen Bürger in den besetzten palästinensischen.
Gebieten nicht für voll genommen . Sie sitzen gleichsam
mit „gespreizten Beinen“ auf beiden Seiten des Konflikts.
Sie würden gerne Vermittler sein, die Verbindung zwischen
beiden Seiten, um sie näher zu einander zu bringen. Aber
dies ist ein Traum geblieben.
In der Tat, eine komplizierte Situation.
IN DER Zwischenzeit hecken Netanjahu und Lieberman auch
einen anderen Plan aus, um das jüdische Israel sogar noch
jüdischer zu machen.
Heute gibt es drei Fraktionen in der Knesset, die ihre
Stimmen von der arabischen Bevölkerung bekommen. Sie machen
fast 10% der Knesset aus. Warum nicht 20% wie ihr Anteil an
der allgemeinen Bevölkerung? Zunächst, weil sie viel mehr
Kinder haben, die noch nicht das Wahlalter (18 Jahre) haben.
Zweitens liegt ihre Nichtwählerquote bedeutend höher.
Drittens werden einige Araber bestochen, damit sie
zionistische Parteien wählen.
Der Teil der arabischen Parlamentsmitglieder an der
Erlassung neuer Gesetze ist gering. Jedes Gesetz, das sie
vorschlagen, wird fast automatisch abgeschlagen. Keine
jüdische Partei hat je daran gedacht, sie in eine
Regierungs-Koalition einzuschließen. Doch haben sie eine
sehr bemerkenswerte Präsenz. Ihre Stimme wird gehört.
Im Namen der „Regierbarkeit“ (ein neuer Ausdruck, der
genützt werden kann, um jeden Angriff auf Menschenrechte zu
rechtfertigen) wünschen Bibi & Libie- wie sie jemand nennt –
einen Wandel im Minimumanteil der Stimmen, die jede
Wahlliste benötigt, um in die Knesset zu kommen.
Ich wurde dreimal in die Knesset gewählt, weil damals die
Schwelle bei 1% lag. Später wurde sie auf 2% gelegt. Jetzt
ist der Plan, die Schwelle auf 3,25% zu legen, die bei den
Wahlen vor einem Jahr 123.262 Stimmen bedeutet hätte. Nur
eine der drei arabischen Parteien hat diese Linie
überschritten und dazu nur knapp. Es gibt keine Sicherheit,
dass dies nochmals geschieht.
Um zu überleben, müssten sie sich vereinigen und einen
großen arabischen Block bilden. Viele denken möglicherweise,
dass dies eine gute Sache wäre. Aber es ist schwierig, dies
auszuführen. Die eine Partei ist kommunistisch, eine andere
islamistisch, eine dritte säkular-nationalistisch. Große
rivalisierende Familien spielen in der arabischen
Wahlpolitik eine bedeutende Rolle.
Die arabischen Listen können alle verschwinden. Oder: zwei
mögen sich vereinigen und die dritte schlucken.
Einige israelische Linke fantasieren von einer Traumpartei –
einem vereinigten parlamentarischen Block, der alle
arabischen Parteien mit der Labor, der Meretz und der
Lapid-Partei einschließt. Dies wäre eine großartige
Herausforderung für den rechten Flügel.
Aber das wäre zu schön, um wahr zu sein – es gibt überhaupt
keine Chance, dass sich dies in der nächsten Zukunft
ereignet.
ES SCHEINT, dass Kerry und seine zionistischen Berater
schon die israelische Forderung akzeptiert haben: Israel
als jüdischen Staat oder noch schlimmer, als den
„Nationalstaat des jüdischen Volkes" (das nicht einmal
gefragt wurde) anzuerkennen.
Die palästinensische Seite ist nicht in der Lage, dies zu
akzeptieren.
Wenn die Verhandlungen an diesem Punkt zu keinem Ergebnis
kommen, wird Netanjahu sein wirkliches Ziel erreicht haben:
dass die Verhandlungen in einer Weise abgebrochen werden,
die ihn in die Lage versetzt, den Palästinensern die Schuld
zu geben.
So lange, wie wir einen jüdischen Staat haben --- wer
braucht dann noch Frieden?
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)