Das Fell des Bären
Uri
Avnery, 24.7.04
Ich schreibe
dies mit wehem Herzen. Ich habe es hinausgeschoben, so lange ich
konnte.
In der jüdischen
Tradition gibt es einen schmerzlichen Satz: „Der Tempel wurde allein
aus grundlosem Hass zerstört.“ Er fasst das Geschehen im belagerten
Jerusalem im Jahre 70 n. Chr. zusammen, als die Stadt von römischen
Legionen umzingelt war. Während Titus’ Soldaten den Ring um die
Stadt immer enger zogen und die Bevölkerung vor Hunger zu sterben
begann, fanden innerhalb der Stadt wilde Kämpfe zwischen den
verschiedenen Fraktionen von Zeloten statt, die einander umbrachten
und einander die letzten Weizenvorräte anzündeten.
Etwas Ähnliches
findet im Augenblick in den palästinensischen Gebieten statt.
Während die Besatzungsarmee den Belagerungsring immer enger zieht
und „gezielte Tötungen“ ausführt, sind zwischen den Palästinensern
selbst Kämpfe ausgebrochen. Militante schießen auf einander, zielen
auf die Führer, zünden Polizeistationen an.
Die
Besatzungsgeneräle, Politiker und Kommentatoren in Israel folgen
diesem Geschehen mit Schadenfreude oder bemerken scheinheilig:
„Haben wir es euch nicht gesagt? Die Palästinenser sind nicht in der
Lage, sich selbst zu regieren; da gibt es niemanden, mit dem man
verhandeln kann; wir haben keinen Partner für Frieden; wenn sie
sich selbst überlassen sind, herrscht Anarchie.“ Viele israelische
Zungen sprechen nun das griechische Wort „Chaos“ mit amerikanischem
Akzent aus.
Da die
Sharonregierung die augenblickliche Situation in Gaza überhaupt erst
geschaffen hat, erinnert sie an den Sohn, der seine Eltern umbringt
und dann vor Gericht um Gnade fleht: „Ich bin doch ein Waise!“
Paradoxerweise
glauben ausgerechnet die palästinensischen Fraktionen Sharons
Ankündigung, den Gazastreifen verlassen zu wollen. Was nun dort vor
allem geschieht, ist ein Kampf ums Fell des Bären, der noch nicht
erlegt wurde.
Jeder redet über
Reformen, ein bei den Amerikanern beliebtes Wort – aber der Kampf
geht um Macht und Kontrolle.
Muhammad Dahlans
Fraktion hofft, vor Sharons versprochenem Rückzug die Macht über den
Gazastreifen übernehmen zu können. Sharons Leute tun offen kund,
dass sie diese Gruppe bevorzugen. Die Amerikaner unterstützen sie,
um Sharon zufrieden zu stellen, und die Ägypter unterstützen sie, um
den Amerikanern zu gefallen.
Die
konkurrierende Fraktion unterstützt Mussa Arafat, der von seinem
Verwandten Yasser Arafat geschickt wurde, um den Sicherheitsapparat
zu kontrollieren. Er mag nicht der Beliebteste sein, aber der Führer
im weit entfernten Ramallah ernannte den Offizier, dem er am meisten
vertraute, um eine Gefahr zu verhindern, die er am meisten fürchtet:
dass sich der Gazastreifen selbst von der Westbank abtrennt und
unter israelisch-amerikanisch-ägyptischer Schutzherrschaft eine Art
autonomes Bantustan wird.
Das ist es, was
an der Oberfläche geschieht. Die Wurzeln des Geschehens liegen
jedoch tiefer in der gegenwärtigen palästinensischen Situation, die
aus einem existentiellen Widerspruch besteht.
Auf der einen
Seite ist der palästinensische Freiheitskampf noch weit entfernt
davon, vorüber zu sein. Er ist auf seinem Höhepunkt. Man könnte wohl
sagen, dass die reine Existenz der Palästinenser – die einer Nation
und die des Individuums - nie in größerer Gefahr schwebte als
jetzt.
Auf der anderen
Seite hat sich in der Westbank und im Gazastreifen eine Art
Ministaat gebildet, der eine staatsähnliche Verwaltung erfordert:
Sicherheit, Wirtschaft, Erziehung, Justiz, Sozialwesen usw.
Die
surrealistische Situation im Gazastreifen reflektiert diesen
Widerspruch: während Mussa Arafat, Muhammad Dahlan und die anderen
Fatahführer unter einander um die Kontrolle der palästinensischen
Behörde und ihre Sicherheitsformationen kämpfen, geht ein brutaler
Krieg zwischen der Besatzungsarmee und den Tanzim, Hamas und den
Jihadmilitanten weiter.
Der Führer
des palästinensischen Befreiungskampfes ist Yasser Arafat. Unter den
Palästinensern bestreitet dies niemand. Er ist die einzige Person,
die in der Lage ist, die Einheit des palästinensischen Volkes zu
wahren. Er ist der einzige Führer mit einem weiten strategischen
Verständnis für alle geographischen und funktionalen Aspekte des
weit zerstreuten palästinensischen Volkes. Er hat die für einen
Führer in solcher Situation notwendigen Eigenschaften: die
unangefochtene persönliche Autorität, den physischen Mut, die
Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, und ein Talent für taktische
Bewegungen. Die Palästinenser nennen ihn nicht umsonst den „Vater
der Nation“ und vergleichen ihn mit George Washington, David
Ben-Gurion und Nelson Mandela.
Die Kritik an
Arafat, meist von intellektueller Seite und von der politischen
Elite – betrifft seine Funktion als Chef des Mini-Staates. Arafat
wird nicht - wie der Ministerpräsident von Israel - persönlicher
Korruption verdächtigt. Er wird der Tatsache beschuldigt, dass die
Palästinensische Behörde zu sehr den anderen arabischen Regimen
gleicht, die unter Machtkonzentration, unter Vervielfältigung der
Sicherheitsapparate, Korruption, Vetternwirtschaft und unter dem
übermäßigen Einfluss großer Familien leiden.
Wie mir ein
palästinensisches Mitglied des Parlamentes kürzlich sagte: „Arafat
führt den nationalen Kampf, und wir alle unterstützen ihn. Er
vernachlässigt aber die Hausordnung, und dagegen protestieren wir.“
Sharon kämpft
jedoch nicht gegen Arafat, weil er die Macht nicht delegiert oder
weil er sieben verschiedene Sicherheitsdienste hat ( die USA haben
15 Nachrichtendienste, vier Militärformationen und zahllose
Polizeiorganisationen).
Er kämpft gegen Arafat, weil seine Eliminierung die Zersplitterung
der palästinensischen Nation verursachen würde und so der Weg für
eine ethnische Säuberung frei wäre. Arafat ist sich dieser Gefahr
sehr bewusst, und im Vergleich dazu erscheinen ihm die Fehler der
palästinensischen Behörde zweitrangig.
Die Strategie
Sharons und seiner Generäle ist einfach und brutal: die
palästinensische Behörde zerstören, das Leben in den besetzten
Gebieten in eine Hölle verwandeln, die palästinensische Gesellschaft
zersplittern und die Überlebenden dahin zu bringen, das Land zu
verlassen – nicht in einem dramatischen Gewaltakt (wie 1948),
sondern in einem langsamen, ständigen, schleichenden Prozess.
Bis jetzt ist
dies nicht gelungen. Trotz der unmenschlichen Bedingungen hält die
palästinensische Gesellschaft in bewundernswerter Weise durch. Die
Ereignisse der letzten Wochen erscheinen für Sharon und die Armee
wie Anzeichen des Zusammenbruchs zu sein. Ich bin überzeugt, dass
sie unrecht haben, und dass die palästinensische Gesellschaft vor
dem Absturz zurückweicht.
Man sollte
erwarten, dass der Gefangene in der Mukata’ah*, der sein Volk schon
aus so vielen existentiellen Krisen herausgeführt hat, es auch
diesmal tun wird. Ich hoffe es aufrichtig, weil Arafat die einzige
Person ist, die mit uns Frieden schließen kann. Wir werden keinen
Frieden haben, so lange er nicht auch bei unseren Nachbarn
eingekehrt ist.
* Arafats halb
zerstörter Regierungssitz
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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