Abdallah Frangi: Die Palästinenser werden ihre
Präsenz in ihrem Land niemals aufgeben / Ein eigner
Staat bleibt das Ziel / Kritik an Europa und
Deutschland
Der frühere Vertreter Palästinas in
Deutschland und heutige Gouverneur von Gaza,
Abdallah Frangi, der auch Palästinenser-Präsident
Abbas in internationalen Fragen berät, hat in einem
Interview mit Arn Strohmeyer die Europäer zu einem
stärkeren Engagement für die Lösung des Konflikts
Israels mit den Palästinensern aufgefordert. Man
dürfe das Problem nicht in eine unbestimmte Zukunft
verschieben. Er versicherte, dass die Palästinenser
an dem Ziel eines eigenen Staates festhielten.
Scharf kritisierte er die westlichen Medien, die
nicht wahrheitsgemäß und angemessen über den
Konflikt berichteten.
Herr, Frangi, Können Sie eine kurze Beschreibung der
gegenwärtigen Situation im Gazastreifen geben?
Frangi:
Wir hatten in den vergangenen drei Jahren drei
Kriege, die alle furchtbar waren. Ich habe den
letzten Krieg als Gouverneur von Gaza (ich bin am 7.
Juli 2014 ernannt worden) hautnah erlebt. Die
Israelis waren total überlegen und haben den Verlauf
der Zerstörung genau vorgegeben. Außerdem haben sie
neue Waffen eingesetzt, die zum ersten Mal getestet
worden sind. Die Wirkung der Raketen, die aus dem
Gazastreifen abgeschossen wurden, war dagegen eher
bescheiden. Der Gazastreifen ist zwar nur ein
winziges Gebiet, aber seine politische Bedeutung ist
sehr groß. Ohne diesen Streifen kann es keinen
Lösung für die Palästinenser geben. Denn dann kann
es nicht zu zwei Staaten – Israel und Palästina –
kommen. Das würde bedeuten, dass man das Problem
auch für die nächsten Generationen vor sich
herschieben würde.
Nun gab es nach dem letzten Gaza-Krieg eine
Konferenz in Kairo, an der auch die EU-Staaten und
die USA teilgenommen haben und bei der Gaza
Milliarden von Dollars als Hilfe zugesagt worden
sind. Was ist denn aus dieser Initiative geworden?
Daraus ist nichts geworden. Das hängt damit
zusammen, dass die EU und die europäischen Staaten
kein Konzept für den Konflikt zwischen Israel und
den Palästinensern haben, sie sind sich auch
untereinander nicht einig. Das Geld ist irgendwo auf
Banken deponiert. Es werden damit Projekte
unterstützt, die aber nicht dem Wiederaufbau des
Gazastreifens dienen. Das ist eben das Problem. Es
gibt keine internationalen Führungskräfte etwa in
der UNO, die das unterstützen würden. Es sind eher
Privatpersonen wie der frühere britische
Premierminister Tony Blair, die sich da ohne
Ergebnis engagieren. Der deutsche Außenminister
Frank-Walter Steinmeier war nach dem Krieg auch in
Gaza. Er stimmt aber einem Wiederaufbau des
Gazastreifens nur zu , wenn die Sicherheit Israels
gewährleistet ist. Aber die Sicherheit dieses
Staates wird von einem israelischen Militär
festgelegt und nicht von einem deutschen oder
europäischen Politiker. Das macht die Lage so
kompliziert.
Der Wiederaufbau ist also kaum vorangekommen?
Die
Welt hat Geld für den Wiederaufbau zusammengebracht.
Aber wenn man einen Blick auf die Straßen in Gaza
wirft, sieht man nach wie vor die große Zerstörung
der Häuser. Da hat sich nicht viel verändert. Die
Menschen haben die Straßen von den Trümmern
lediglich gesäubert. Sie haben in dem Krieg ihre
Erfahrungen gemacht und verhalten sich sehr
dynamisch.
In
welchem Ausmaß lässt Israel überhaupt Baumaterial
und Lebensmittel in den Gazastreifen hinein, so dass
sich die Lage der Menschen verbessern könnte?
Die
Israelis bestimmen nach ihren Sicherheitskriterien,
was an Hilfsgütern hereinkommen darf und was nicht.
Unsere Listen mit den Angaben, was wir brauchen,
werden von den Israelis sehr restriktiv und
zurückhaltend behandelt, sodass man eigentlich nicht
von notwendigen Importen reden kann.
Früher hat die Wirtschaft Gazas auch exportiert. Das
ist wohl heute nicht mehr möglich.
Gaza
hat eine Landwirtschaft, die exportieren könnte,
aber da ist so gut wie nichts möglich, weil die
israelischen Sicherheitsbehörden das nicht zulassen.
Es
hat Medienberichte gegeben, dass die Israelis mit
Flugzeugen aus der Luft Herbizide auf die Ernten der
Bauern gestreut hätten, um diese zu vernichten.
Europäische und auch deutsche Journalisten haben
über diese Maßnahmen Berichte angefertigt. Sie sind
aber nicht veröffentlicht oder gesendet worden. Auch
der ARD-Korrespondent Richard C. Schneider hat viele
Berichte über das brutale Vorgehen der Israelis in
den besetzten Gebieten – über die Angriffe der
Luftwaffe, die Schikanen der Siedler und andere
verbotene Maßnahmen – gemacht. sie sind aber
entweder gar nicht oder nur in Sekundenbruchteilen
gesendet worden. Deswegen kann natürlich auch kein
Druck auf das israelische Militär entstehen, das bei
seinen Aktionen gegen Palästinenser deshalb
überhaupt keine Rücksicht nehmen muss.
Die Palästinenser sind natürlich die Leidtragenden
der Situation?
Ja,
die Palästinenser leiden darunter, aber sie können
sich nicht wehren. Wir haben keinen Einfluss auf die
Weltmeinung, um uns zu schützen. Deswegen werden
auch die Israelis nicht zur Rechenschaft gezogen, um
sie daran zu hindern, solches Vorgehen zu
wiederholen. Israel ist eine Besatzungsmacht, wird
aber als solche von Europa nicht gesehen. Das ist
das Problem der Palästinenser. Man redet in Europa
viel vom Frieden, wir müssen aber immer wieder
totale Kriege erleben. Man redet von der
Zwei-Staaten-Lösung, aber Israel hat bis heute keine
festen Grenzen für den eigenen Staat festgelegt, die
auch die Sicherheit Israels definieren würden.
Europa würde das theoretisch unterstützen. Es gilt
dagegen die Sharon-Doktrin, dass diese oder jene
europäischen Staaten für die Sicherheit Israels
zuständig sind. Israels Sicherheit ist ihnen also
wichtiger als ihre eigene. Damit unterstützen sie –
bewusst oder unbewusst oder aus Unfähigkeit – die
Besatzungspolitik Israels. Das tut weh, solche
Erklärungen zu hören, ohne dass man die Ursachen der
Zustände in Israel und Palästina berücksichtigt und
ohne dass man auf die Tatsache zurückkommt, dass die
Besetzung und die Blockaden der Grund dafür sind,
dass man in Richtung auf eine Friedenslösung nicht
vorankommt.
Wie erklären Sie sich diese Mutlosigkeit oder diesen
Opportunismus der Europäer gegenüber Israel?
Die
Europäer – genau gesagt England und Frankreich –
haben den Nahen Osten 1916 im Sykes-Picot-Abkommen
geteilt, nachdem die Araber auf Seiten der
Alliierten gegen die Türken gekämpft hatten. Man
hatte den Arabern die Unabhängigkeit versprochen,
dieses Versprechen aber nicht eingehalten. Man hat
neue Staaten geschaffen, dabei spielten Frankreich
und England eine große Rolle. Deshalb ist Europa im
Grunde bis heute zuständig für die Entwicklung
dieser Staaten, für deren Wirtschaft, politischen
Systeme usw. Europa handelt auch heute noch nach den
Rezepten von damals, obwohl es sich inzwischen um
demokratische Staaten dort und nicht mehr um
Kolonialmächte handelt. Die Interessen der Europäer
sind so groß, dass sie vorschreiben können, wer dort
regiert. Der Westen hat versucht, in Afghanistan und
im Irak Demokratien zu schaffen. Das Ergebnis war
sehr blutig, und man hat dort große Zerstörungen
angerichtet. Der Weg zur Schaffung von Demokratien
ist aber gescheitert.
Was bedeutet das für Palästina?
Die
Europäer haben bis zum heutigen Tag kein Konzept für
Palästina. Sie sind alle für die
Zwei-Staaten-Lösung: Sie ist die einzige Möglichkeit
für die Israelis und Palästinenser, und die
Siedlungspolitik ist unannehmbar, heißt es immer
wieder. Aber die Siedlungspolitik ist so weit
fortgeschritten, dass einige Teile von Syrien [die
Golan-Höhen] seit 1967 und andere Teile von den
palästinensischen Gebieten annektiert worden sind,
ohne dass die Weltgemeinschaft oder Europa Maßnahmen
dagegen ergriffen hätten, um diese Annexionen zu
stoppen und um auch zu zeigen, dass die
Menschenrechte dort eingehalten werden müssen. Genau
das ist das Problem: Europa redet mit zwei Zungen.
Europa hat uns versprochen uns zu helfen, dass wir
eine Demokratie und eine sichere Zukunft bekommen.
Wenn es in diesem Zusammenhang aber zu einem
Konflikt mit Israel kommt, stellt sich Europa immer
auf die Seite Israels. Das ist ein Unglück für die
Palästinenser und ruft natürlich große
Enttäuschungen hervor.
Sie sprechen jetzt den Aufstand der jungen
Palästinenser an.
Das
sind junge Menschen, die zur Zeit des
Friedensabkommens von Oslo geboren wurden und nun in
Jerusalem und Umgebung auf die Straße gehen. Sie
erleben nun, dass sie weder Frieden haben noch ihre
Land bearbeiten können. Sie können auch die
Demütigungen nicht verhindern, die ihren Eltern
jeden Tag angetan werden. Sie können auch die
öffentliche Meinung in Israel nicht auf ihre Seite
bringen, damit man endlich die Zwei-Staaten-Lösung
angehen könnte, um dann in einem friedlichen
Nebeneinander die Zukunft gemeinsam zu gestalten.
Davon ist keine Rede mehr, Europa hat von den
Strafmaßnahmen gegen die israelische
Besatzungspolitik Abstand genommen.
Kann man schon von einer dritten Intifada sprechen?
Es
handelt sich hier bei den jungen Leuten um eine
Reaktion, die noch nicht so organisiert ist wie der
Aufstand der Palästinenser 1987 oder die zweite
militarisierte Intifada im Jahr 2000. Es ist eine
Reaktion von jungen Leuten, die wegen der Besatzung
nicht in der Lage sind, ein normales Leben zu
führen. Sie sind ständig konfrontiert mit den
brutalen Methoden der Siedler und mit den brutalen
Methoden der Kontrollen und der Checkpoints. Diese
Reaktionen der jungen Palästinenser laufen nicht
nach einem Plan wie 1987 oder einer politischen
Ideologie ab. Es handelt sich um eine Reaktion auf
die Brutalität der Besatzung, aber die Antwort ist
schwach – auch in der Durchführung der Aktionen und
der Handhabung der Medien. Denn diese Aktionen
können natürlich missverstanden werden. Man wird
sagen: Die Palästinenser bringen Israelis mit
Messern um. Die jungen Leute werden denn auch jetzt
für die Unsicherheit verantwortlich gemacht, die
sich in Israel breitmacht, und natürlich auch für
die Gegenreaktionen der Israelis.
Und Europa schaut untätig zu?
Das
ist das Problem. Es geht hier um die gesamte
Entwicklung, die in den vergangenen hundert Jahren
stattgefunden hat. Man wollte uns beibringen, dass
wir wie die Europäer demokratisch werden. Es gibt
viele Menschen im arabischen Raum, die in Europa das
Vorbild gesehen haben. Was wir aber heute in Syrien,
im Irak und in Libyen sehen, ist ein Resultat der
Unfähigkeit der Europäer, die Zukunft dieser Region
positiv mitzugestalten.
Wie sehen Sie die Zukunft für Palästina und die
Palästinenser?
Die
Diskussionen heute laufen völlig in die falsche
Richtung. Entweder sagt man, die einzige Möglichkeit
für die Palästinenser ist die Ein-Staaten-Lösung;
andere sagen, die zweite Möglichkeit ist, dass sie
als Besetzte weiter leben und sich so vermehren,
dass sie eines Tages wie in Südafrika die Mehrheit
haben. Das ist Quatsch. Das hat mit den Tatsachen
nichts zu tun. Die Palästinenser leben in diesem
Land seit 6 000 oder 7 000 v. Chr. und sie haben
viele Besatzer dort erlebt. Es gab viele Systeme und
Menschen, die ihnen ihre Zukunft vorschreiben
wollten. Es ist ihnen nicht gelungen. Die
Palästinenser, die 1948 auf die brutalste Art und
Weise vertrieben wurden, sind heute 11,5 Millionen
Menschen, die überall in der Welt, hier in der
Region und im Gazastreifen leben. Sie stellen eine
dynamische Gesellschaft dar, die nicht einfach
aufgeben wird. Wer glaubt, dass man mit den
Palästinensern machen kann, was Israel vorschreibt,
der irrt sich total.
Welche Rolle kommt Europa in diesem Prozess zu?
Man
weiß nicht, welche Ziele die Europäer haben. Wollen
sie wirklich die Demokratie überall in Afrika und
Asien verbreiten, wo man ein Interesse am Frieden in
der Region hat? Auf der anderen Seite mischen sich
die Europäer ein, schicken ihre Flugzeuge dorthin
und beschießen Daesh [andere Bezeichnung für den
sogenannten Islamischen Staat IS] und die anderen
islamischen Organisationen mit Raketen. Der
Aufenthalt in Gaza war für mich insofern eine
Erholung als Mensch, der sich nach Demokratie,
Freiheit und Unabhängigkeit sehnt. Aber ich fühle
die Schwäche, Unfähigkeit und den Unwillen bei
vielen europäischen Staaten, die heute als
Demokratien immer noch eine Politik wie damals die
Kolonialmächte betreiben.
Aber Europa spielt nicht allein beim Machtpoker im
Nahen Osten mit.
Jetzt
kommen noch mehr Spieler in der Region dazu. Die USA
sind nicht mehr die alleinige Supermacht, die dort
vorherrscht und alles bestimmen kann. Die
Entwicklung geht in die Richtung, dass auch Russland
und China dort mitmischen. Diese beiden Mächte
werden nicht zulassen, dass der Nahe Osten nur im
Sinne Israels oder der USA gestaltet wird. Oder im
Sinne der Europäer, die glauben, mit militärischen
Mitteln die Entwicklung in Richtung Demokratie dort
steuern zu können.
Ist in den Protesten der jungen Palästinenser auch
ein Protest gegen die Politik der Autonomie-Behörde
von Präsident Mahmud Abbas enthalten? Die
Unzufriedenheit im Westjordanland ist auch groß.
Es
gibt Unzufriedenheit, aber das ist kein Protest
gegen Abbas. Die jungen Leute wissen, dass die
palästinensische Regierung keine Möglichkeiten und
nur einen sehr engen politischen Spielraum hat. Wenn
die jungen Leute einen bewaffneten Kampf gegen
Israel beginnen, wird Israel das mit Gewalt beenden,
wie sie das in den Jahren 2000, 2008 und 2014
gemacht haben. Die Israelis sind nach der Ermordung
von Itzhak Rabin nicht mehr bereit, einen
Palästinenser-Staat an der Seite von Israel zu
akzeptieren. Die Israelis suchen immer wieder die
militärische Konfrontation, weil sie natürlich
wissen, dass die Palästinenser militärisch
unterlegen sind. Den jungen Palästinensern ist aber
bewusst, worum es geht.
Es
gibt also keine Differenzen zwischen den jungen
Aufständischen und Abbas?
Es
gibt zwischen ihnen und Präsident Abbas keinen
Konflikt. Präsident Abbas betreibt eine Politik der
Verantwortung mit Unterstützung der Europäischen
Gemeinschaft, der USA und auch der zu einer
Friedenslösung bereiten Israelis – und vor allem
auch Itzhak Rabins, der deswegen ermordet worden
ist. Abbas betreibt eine Politik der
Nicht-Militarisierung, nicht eine Politik der
militärischen Konfrontation. Das ist eine Politik,
die von allen Teilen der Welt theoretisch
unterstützt wird. Diese Unterstützung wird in
einigen Punkten aber nicht mehr umgesetzt, weil man
nicht den Mut hat, den Israelis direkt ins Gesicht
zu sagen: Diese Besatzungspolitik führt zu Kriegen
und neuen Konfrontationen.
Die Attacken der Siedler auf die palästinensische
Bevölkerung in den besetzen Gebieten werden im
aggressiver und brutaler.
Die
Siedler nehmen Palästinensern mit aller Brutalität
das Land weg und verüben sogar Brandanschläge auf
palästinensische Familien [Es handelt sich um den
Brandanschlag von Siedlern auf die Familie Dawabshe
in dem Dorf Duma.] . Die Täter werden dafür nicht
zur Verantwortung gezogen, und die ganze Welt schaut
zu. Man muss sich einmal vorstellen, dass irgendwo
auf der Welt ein Kind [ein Baby] einfach zusammen
mit seinem Vater, seiner Mutter und seinem Onkel
verbrannt wird und die Welt schaut zu und sagt: Das
war kein Brandanschlag, die haben nur mit Feuer
gespielt. Das ist eine gemeingefährliche
Entwicklung. Die Tatsache, dass darüber nicht
diskutiert wird, ja, eine Diskussion gar nicht
zugelassen wird, weil man davon ausgeht, dass Israel
ein demokratischer Staat ist, ist empörend. Ich
sage: Für Juden untereinander ist Israel eine
Demokratie, für Palästinenser ist es eine
Besatzungsmacht und keine Demokratie.
Ist es realistisch anzunehmen, dass die jüdische
Besiedlung, in die Israel Milliarden von Dollars
investiert hat, jemals wieder rückgängig gemacht
werden kann, dass die Israelis also da wieder
rausgehen? Es wohnen inzwischen über 500 000 Juden
dort.
Ich
denke, dass man die Frage so nicht stellen darf. Sie
müsste lauten: Können die Israelis die Palästinenser
ausschalten, können sie die Palästinenser zwingen,
das Land fluchtartig zu verlassen? Die Palästinenser
haben ein Ziel und wollen ihren Staat gründen. Sie
haben innerhalb der PLO eine demokratische
Entwicklung durchgemacht – die erste in der
arabischen Welt. Die Mehrheit der Palästinenser
steht hinter dieser Politik. Ich sagte schon, es
gibt 11,5 Millionen Palästinenser, das sind
dynamische Menschen, die zum Teil in Demokratien der
ganzen Welt leben. Diese Leute haben auch Einfluss
auf Intellektuelle, sie arbeiten mit Vertretern der
BDS-Kampagne [Boykott, De-Investment und Sanctions]
zusammen – das sind alles Menschen, die die Freiheit
lieben und zusammenarbeiten. Das ist der Vorteil der
Palästinenser. Es geht nicht mehr darum, ob die
israelischen Siedler weggehen oder nicht. Egal, wie
groß die Zahl der Siedler sein wird – Israel hat
gegenwärtig nicht mehr als sieben Millionen
Menschen. Auch wenn sie alle Juden der Welt dorthin
bringen, sie werden nie so weit kommen, dass sie die
Palästinenser ausschalten und ausradieren und die
ganze arabische und islamische Region unter ihre
Kontrolle bringen können.
Ist die israelische Politik zu kurzsichtig?
Ja,
die Israelis machen einen großen Fehler. Wenn sie
einen Judaisierungs-Prozess durchführen, dann
schaffen sie damit automatisch auch einen
Islamisierungs-Prozess. Und die Zahl der Moslems in
dieser Region ist hunderttausend Mal größer und
effektiver als die Zahl der Juden. Die Juden können
als Besatzungsmacht und nicht als eine demokratische
Gruppe für Europa existieren. Das ist der Nachteil
der israelischen Politik, aber das wird in den
Medien von Europa gar nicht diskutiert. Deshalb
glaube ich, der Mord an Rabin war sehr dumm. Sie
wussten, er wollte die Zwei-Staaten-Lösung. Er war
ein Partner für die Palästinenser, Arafat war ein
Partner für Rabin. Und deshalb hat man beide einfach
umgebracht, damit sie die Zwei-Staaten-Lösung nicht
durchsetzen konnten. Heute ist es die Aufgabe der
Europäer, die israelischen Kräfte, die nach der
Ermordung Rabins politisch schwach geworden sind,
die aber an die Zwei-Staaten-Lösung glauben, zu
unterstützen.
Glauben Sie ernsthaft, dass die Europäer das tun
werden? Sie stehen doch voll hinter der rechten
national-religiösen Regierung von Benjamin
Netanjahu.
Ich
zweifle nicht daran, dass viele Politiker in Europa
ein Ziel vor Augen haben und einen Frieden in der
nahöstlichen Region erreichen wollen, weil sie
selbst davon profitieren würden – wirtschaftlich und
politisch. Aber ihre Politik entspricht nicht den
Maßnahmen, die notwendig wären und deshalb verlangt
werden, einen Frieden zu erreichen. Um Europa steht
es zur Zeit schlecht. Dieser Kontinent war einmal
das Vorbild für alle Menschen auf der Erde. Welche
Haltung hat Europa heute in der Flüchtlingsfrage?
Welche Politik betreibt Europa eigentlich? Was man
heute in Europa sieht, ist erschreckend. Wenn die
Europäer über die Zustände außerhalb ihrer Grenzen
nachdenken, dann müssen sie auch ihre Position
gegenüber dem Nahen Osten in Bezug auf das, was sie
dort in den vergangenen 100 Jahren politisch gemacht
haben, überdenken, revidieren und Verantwortung
übernehmen. Sie müssen mit den jungen Leuten in der
Region reden, die sich heute im Gazastreifen und in
der Westbank nach einer neuen Entwicklung sehnen.
Israel verfolgt eine Politik, die diesen Staat in
die Sackgasse führen wird. Israel hat mit dieser
Politik keine Zukunft. Das wussten auch Rabin und
viele andere israelische Politiker. Sie haben das
auch laut gesagt, aber sie haben nicht mehr den
Einfluss, den sie früher einmal hatten.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt: Israels
Sicherheit ist deutsche Staatsräson. Das sieht ja
nicht gerade nach einer neuen Politik gegenüber den
Palästinensern aus.
Die
deutsche Politik hat die Palästinenser ja von Anfang
an sehr unterstützt. Sie hat auch die
Zwei-Staaten-Lösung unterstützt und tut das auch
weiterhin. Man muss aber fragen: Welche Grenzen hat
Israel heute? Israel ist der einzige Staat auf der
Welt, der seine Grenzen noch nicht festgelegt hat.
Inwieweit kann eine Politik dann sagen: Ich bin für
die Sicherheit Israels auch ohne Festlegung der
Grenzen? Es ist doch so: Die Grenzen Israels werden
von seinen Panzern, Flugzeugen und von den Militärs
festgelegt. Dies gefährdet die Sicherheit Israels
viel mehr als man glaubt.
Was würden Sie den Deutschen raten?
Von
der deutschen Geschichte muss man lernen, dass man
die Menschenrechte nicht missachten darf, dass man
die Freiheit der Menschen nicht unterdrücken darf
und dass es Sicherheit zwischen den Staaten und
Menschen nur bei Partnerschaft zwischen den Völkern
geben kann. Wenn jemand sich für die Sicherheit
Israels einsetzt, dann muss er klar sagen:
akzeptiert er Israel als Besatzungsmacht in der
Westbank, akzeptiert er die Siedlungspolitik? Die
meisten Politiker in Europa und Deutschland
akzeptieren die Siedlungspolitik nicht, aber sie tun
zu wenig, diese Politik zu stoppen. Das verstößt
gegen die Ideale der Europäer nach dem Zweiten
Weltkrieg. Man muss aber Klarheit schaffen: Wenn man
Israel unterstützen und seine Grenzen garantieren
will, dann als ein friedliches Land in den Grenzen
von 1967 und mit Jerusalem als geteilter Hauptstadt
eines jüdischen und palästinensischen Staates, der
lebensfähig sein muss, damit wir die Zukunft
gestalten können.