Rückfall in die
Vormoderne
Die israelische Soziologin Eva
Illouz analysiert in ihrem neuen
Buch, warum Israel keine liberale
Demokratie ist und riskiert, die
Zukunft zu verspielen
Arn Strohmeyer
Die
israelische Soziologin Eva Illouz
ist eine sehr progressive, „linke“
Wissenschaftlerin, die in der Kritik
an der Politik ihres Staates kein
Blatt vor den Mund nimmt. Dennoch
bekennt sie, dass sie, eine
überzeugte Zionistin zu sein. Diese
Einstellung stellt sie gleich an den
Anfang ihres Buches „Israel“: „Nicht
nur haben die Juden ein Recht auf
eine nationale Heimstätte, sie haben
sogar ein größeres moralisches Recht
darauf als die meisten anderen
Völker, weil sie auf die längste und
eine der leidvollsten
Verfolgungsgeschichten der
Menschheit zurückblicken.“ Sie sieht
die Legitimität des Zionismus darin,
den Juden zu Sicherheit und Würde zu
verhelfen.
Die Antwort auf dieses Bekenntnis
kann nur sein: Natürlich haben die
Juden wie jedes andere Volk ein
Recht auf Souveränität, Sicherheit,
Würde und auf eine Heimstätte – aber
haben sie dieses Recht auch auf
Kosten eines anderen Volkes, das
vertrieben und dezimiert und dessen
Land geraubt werden musste, um den
jüdischen Traum zu erfüllen? Hier
liegt der nicht auflösbare
Widerspruch in Argumentationen, wie
sie auch Eva Illouz vertritt. Sie
glaubt, ihn durch ein
leidenschaftliches Bekenntnis zu den
Werten des Universalismus auflösen
zu können, indem sie fordert, dass
Israel nur echte Legitimität und
damit eine Zukunft haben kann, wenn
es „ein universalistischer und
säkularer Staat wird, der alle seine
Bürger gleich repräsentiert und die
Idee von unser aller Humanität
verkörpert.“ Womit sie zugleich ja
auch zugibt, dass es um die
universalistischen Werte gegenwärtig
in Israel nicht gut steht.
Sie vertritt also eine sehr positive
Vision, zu fragen ist aber, ob
Israel bei ihrer Realisierung
überhaupt noch ein zionistischer
Staat sein würde, ja ob es überhaupt
noch Israel wäre, denn bei einer
Gleichheit aller seiner Bürger wird
der arabische Bevölkerungsteil
mehrheitsfähig. Die politische Elite
Israels ist sich dieser Gefahr
durchaus bewusst und spricht ganz
offen aus, „dass die Menschenrechte
Israels Überleben gefährden würden.“
Sind die universellen Werte
Freiheit, Gleichheit,
Selbstbestimmung also mit dem
Zionismus vereinbar, wie Eva Illouz
hofft? Oder stimmt, was der
israelische Philosoph Omri Boehm
konstatiert: „Zionismus und
Humanismus sind unvereinbar.“
Trotz dieser widersprüchlichen
Ausgangslage hat Eva Illouz ein
hervorragendes Buch geschrieben, das
die Symptome des sehr kranken
Patienten Israel schonungslos
aufzeigt und die Heilung – wie
erwähnt – nur in einer rückhaltlosen
Hinwendung zu den Werten des
Universalismus sieht: „Mehr denn je
müssen Israel und das Judentum heute
das Erbe aufgeklärter Juden
fortführen, indem sie den
Universalismus zu Israels
moralischem Horizont machen.“
Was aber sind die Symptome der
Krankheit, die Israels Fortbestehen
so unsicher machen? Eva Illouz
bezeichnet das israelische Regime
als einen vor allem von
Religiosität, Nationalismus,
Sicherheitswahn und militärischer
Gewalt geprägten vormodernen Staat,
den man nicht als eine liberale
Demokratie westlichen Typs
bezeichnen kann. Den Zionismus,
dessen Ausgangspunkt die Befreiung
und Emanzipation des jüdischen
Volkes war, sieht sie als eine
„Ideologie an, in deren Namen
koloniale und gewaltsame Politiken
gerechtfertigt werden“, der also
seinen ursprünglichen, aus der
Aufklärung kommenden Anspruch längst
aufgegeben hat.
Wo sieht Eva Illouz nun die
Fehlentwicklungen dieses Staates im
Einzelnen? Da ist zunächst die große
Ungleichheit in der israelischen
Gesellschaft, die für die Soziologin
eine automatische Folge des Konzepts
eines „jüdischen Staates“ ist, der
auf einer jüdischen Identität
beruht. Eine solche
Staatskonstruktion musste zu einer
Quelle tiefer Ungleichheiten nicht
nur zwischen Juden und Arabern
(Palästinensern) werden, sondern
auch unter Juden selbst. Der
Diskriminierung der orientalischen
Juden (Mizrachim) widmet die
Autorin, die selbst aus Marokko
stammt, mehrere Kapitel ihres
Buches. Mit Blick auf diese beiden
Gruppen der israelischen Bevölkerung
konstatiert sie, dass Israel ein
Staat sei, der Rassismus zu einem
nationalen Bestandteil seiner
Amtsgeschäfte mache.
Dieser Rassismus findet sich auch im
Staatsbürgerrecht wieder: Die
Staatsbürgerschaft wird nicht nach
universalistischen Kriterien (alle
Bürger sind vor dem Gesetz gleich)
vergeben, sondern nach
ethnisch-religiösen. Die
Entscheidung, wer jüdischer bzw.
israelischer Bürger ist und wer
nicht, entscheidet das
ultraorthodoxe Rabbinat, das auch
die liberalen Richtungen des
Judentums (Reformjuden) ausgrenzt.
Die Palästinenser in Israel (ein
Fünftel der Bevölkerung) sind Bürger
niedrigeren Ranges, bekommen also
nicht die volle Staatsbürgerschaft.
Ziel einer solchen Politik des
Rabbinats ist es, die „Reinheit“ des
Judentums zu bewahren, denn die
radikale Unterscheidung, Absonderung
und Trennung von den Nichtjuden ist–
so die Autorin – immer ein
Schlüsselmotiv der jüdischen
Theologie und seiner religiösen
Praxis gewesen.
Wenn aber diese Strategien und
Vorgehensweisen Jahrhunderte lang
geeignet waren, das Überleben der in
alle Welt zerstreuten Judenheit zu
sichern, sind sie für einen modernen
Staat völlig unangemessen, ja
gefährlich, weil Israel den Schritt,
den so gut wie alle westlichen
Demokratien vollzogen haben, nicht
geschafft hat: die Trennung von
Staat und Religion. Eva Illouz
fragt: „Warum aber ist die Trennung
von Staat und Religion, eine
Voraussetzung für den Schutz der
‚Gewissensfreiheit‘, für Demokratien
so wichtig? Nun, weil ein Staat, der
sich durch eine Religion definiert,
implizit eine Gruppe über eine
andere stellt und privilegiert.
Unter Bedingungen religiöser
Pluralität wird der Staat dann
schnell zum direkten Instrument der
Unterdrückung religiöser
Minderheiten durch die religiöse
Mehrheit. Ohne es zu wissen,
institutionalisiert ein solcher
Staat Diskriminierung und Rassismus
und macht sie alltäglich.“
Aus der engen Verstrickung der
Religion in die israelische Politik
zieht die Autorin den Schluss, „dass
das israelische Modell der
Staatsbürgerschaft, in dem Religion
und Staat nicht voneinander getrennt
werden, gescheitert ist. Wenn der
jüdische Staat zwanzig Prozent
seiner Bevölkerung ausgrenzt, das
liberale Judentum diskriminiert und
‚israelisch‘ nicht als zulässige
Form von Staatszugehörigkeit
anerkennen kann, dann ist mit seiner
politischen Kultur etwas nicht in
Ordnung.“
War die Absonderung der Juden von
den Nichtjuden in der Diaspora also
ein geeignetes und angemessenes
Mittel des Überlebens, um sich auch
vor dem Antijudaismus und dem
Antisemitismus zu schützen, so passt
eine solche Strategie nicht zu einem
modernen Nationalstaat, weil dann
paranoide Ängste und Misstrauen das
Verhältnis zur nichtjüdischen Welt
bestimmen („die ganze Welt ist gegen
uns!“). Politik aus einer solchen
Einstellung heraus zu betreiben,
führt einen Staat in die
internationale Isolation. Auch hier
fällt Israel in die vormoderne Welt
zurück. Es gleicht immer mehr einem
jüdischen Stetl in der
osteuropäischen Diaspora.
Eva Illouz nennt weitere Kriterien
für unzeitgemäße israelische
staatliche Institutionen, die
Israels Anspruch widerlegen, eine
liberale Demokratie zu sein. Israel
ist im Grunde noch ein Feudalstaat,
weil er drei Stände hat, die wie in
der Feudalzeit nicht miteinander
interagieren und über sehr
unterschiedliche Rechte verfügen und
damit einen ebenso unterschiedlichen
Status haben: „Nichtjuden (in der
Mehrzahl Araber), Juden, die beten
und nicht kämpfen (Orthodoxe und
Ultraorthodoxe, die in Jeschiwas
studieren und ökonomisch gesehen
unproduktiv sind), sowie Juden, die
sowohl arbeiten als auch kämpfen
(die orthodoxen Nationalisten, die
arbeiten und kämpfen, haben im
Übrigen mehr mit der betenden als
mit der produktiven Klasse
gemeinsam.)“ Diese Gruppen
(ausgenommen natürlich die
diskriminierten Palästinenser)
verteidigen mit allen Mitteln den
privilegierten Status ihres
vormodernen Regimes mit seiner
religiösen und ethnischen
Exklusivität.
Eine weitere Gefahr für eine moderne
Demokratie sieht die Autorin in der
starken Stellung der Armee. Zwar
herrschen in allen Streitkräften der
Welt die Prinzipien von Befehl,
Disziplin und Gehorsam, aber in
Israel spielen sie durch das von
Propaganda und Erziehung verstärkte
Gefühl der Gefahr und der Bedrohung
eine noch viel größere Rolle. Schon
Kinder sind militärischem Drill
unterworfen. Israel ist ein
Militärstaat par excellence, was
heißt, dass die Armee im Leben aller
Israelis ständig präsent ist.
Demokratische Normen sind dem
Militär aber fremd. Eine
Zivilgesellschaft, die diesen Namen
verdient, so die Autorin, braucht
aber Distanz zum Staat – eine
Voraussetzung für die Ausübung der
Bürgerrechte, für die Entwicklung
des Moralbewusstseins und der
Fähigkeit, sich mit der Politik und
den Institutionen des Staates
kritisch auseinanderzusetzen. Eine
totale Identifikation mit dem Staat,
die in Israel verlangt wird, ist mit
den Prinzipien einer liberalen
Demokratie nicht vereinbar.
In diesen Zusammenhang gehört auch
die außerordentlich wichtige Rolle,
die die Geheimdienste – etwa Mossad
und Shin Bet – in Israel spielen.
Sie unterliegen (ähnlich wie die
Armee) keiner demokratischen
Kontrolle und Rechenschaftspflicht,
was bedeutet, dass ihnen unter dem
Signum der Geheimhaltung alles
erlaubt ist. Eva Illouz beschreibt
die Gefahr, wenn solche
Institutionen sich über Moral und
Gesetze hinwegsetzen dürfen:
„Menschen – selbst Staatsfeinde –
außerhalb aller Rechtsstaatlichkeit
zu töten, sendet zwei starke Signale
an die Gesellschaft. Das erste
besagt, dass der Staat das Recht,
die Souveränität und die Macht hat,
zu tun und zu lassen, was er will,
dass er das Völkerrecht verletzen
und die Staatsgrenzen missachten
kann, um sich an seinen faktischen
und potentiellen Feinden zu rächen.
Der Staat verteidigt so eine
primitive Form von Gerechtigkeit,
die sich über Recht und Gerichte
hinwegsetzt. Dadurch wird deutlich,
dass er über der
Staatsbürgergesellschaft steht, wenn
wir darunter das verstehen, was
Bürger vor willkürlicher Gewalt und
Macht schützt.“
Und weiter: „Zentrale Grundsätze der
Demokratie werden so verletzt, da
sich die Souveränität der Bürger
nicht mehr im staatlichen Handeln
niederschlägt, ganz im Gegenteil: Es
ist der Bürger, der sich den
Forderungen des Staates beugen muss.
Das zweite Signal besteht darin,
dass sich Gewalt als routinemäßige,
akzeptierte Form der Problemlösung
durch den Staat darstellt. Gewalt
wird normalisiert, wird in
Wirklichkeit sogar unsichtbar, weil
sie zur Norm wird.“ In einem solchen
System, in dem der „Andere“, der
nicht zur eigenen Gruppe gehört, der
„Feind“ ist, werden dann auch Folter
und Misshandlungen zur Routine. Eine
solche paranoide Denkweise, die die
Welt in Gut und Böse aufteilt,
verfolgt dann das einzige Ziel, „die
Feinde auszumachen und zu
vernichten“, schreibt Eva Illouz.
Rechtlosigkeit, Brutalität und
Gewalt zeichnet auch die
Siedlerbewegung im besetzten
Westjordanland aus, die sich
obendrein noch anmaßt, „jüdische
Werte“ zu vertreten. Ihre
gewalttätigen Übergriffe auf
Palästinenser werden vom Staat
Israel mitgetragen, denn Polizei und
Armee schreiten in solchen Fällen
nicht ein, sie schützen nicht die
Angegriffenen, sondern die Siedler.
Streitkräfte und Geheimdienste haben
die rechtlose Gewaltausübung also
längst zu Normen gemacht, so dass
Eva Illouz schreiben kann: „All dies
zusammen verdammt Israel dazu, zu
einem jener Länder zu werden, die
sich ihre eigene Gewalt nicht mehr
bewusstmachen können. Vielen
Israelis scheint ihre eigene Gewalt
stets von Zauberhand gerechtfertigt
und sogar moralisch.“ Die Autorin
bescheinigt der Siedlerbewegung
einen „primitiven Charakter“ und
bezeichnet sie als die „finstersten
Kräfte, die eine Gesellschaft
ausbrüten kann.“
In den Augen dieser israelischen
Soziologin stellt sich der Staat
Israel doch etwas anders dar, als
deutsche Medien und Israelanhänger
ihn in der Regel beschreiben.
Interessant ist, wie sie die größte
israelische Regierungspartei – den
Likud – charakterisiert: „Der neue
Likud folgt der Logik von Chaos und
Gewalt, wie man sie nur allzu gut
aus der Geschichte der europäischen
Parteien der extremen Rechten kennt.
Er hofft, mit dem Schüren von Gewalt
entweder Einschüchterung und
Schweigen oder Gegengewalt
heraufzubeschwören, die dann
ihrerseits seine eigene Gewalt
legitimiert und verstärkt.“ Eva
Illouz ruft die Bürger ihres Landes
dazu auf, sich einer „solchen
Politik des Todes“ zu widersetzen.
Die Autorin setzt ihre ganze
Hoffnung für die Zukunft auf eine
progressive „Linke“, weil sie die
einzige Stimme sei, die im Namen
einer universalistischen Moral
spreche. Diese moralische Vision sei
der einzige Weg, der Israel aus
seiner tiefen Krise in eine bessere
Zukunft führen könne. Aber dieses
Prinzip Hoffnung ist nur ein
schwacher Trost, denn in Israel hat
sich die Linke von der politischen
Bühne vollständig verabschiedet, es
gibt sie eigentlich gar nicht mehr.
Und außerparlamentarische linke
Kräfte (Menschenrechtsgruppen und
NGO’s) führen am Rande der
Gesellschaft auch nur ein
Schattendasein, ja sie werden von
der Mehrheitsgesellschaft als
„Verräter“ angesehen. So ist zu
bilanzieren: Eva Illouz hat in ihrem
Buch eine glänzende Analyse der
israelischen Realität vorgelegt,
aber realistische
Lösungsmöglichkeiten für die fast
ausweglose Krise dieses Staates kann
sie nicht anbieten. Aber das ist ja
auch gar nicht die Aufgabe einer
Wissenschaftlerin, sondern der
Politik und die versagt vor dieser
Aufgabe vollständig.
Eva Illouz: Israel, Frankfurt/ Main
2015, edition Suhrkamp 2683, ISBN
978-3-518-12683-7, 18.50 Euro
19.08.2017
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