Arn Strohmeyer
(Moshe Zimmermann: Die Angst vor dem Frieden. Das
israelische Dilemma, Aufbau Verlag Berlin 2010)
Der
israelische Historiker Moshe Zimmermann hat ein
erschreckendes Buch über den politischen Zustand seines
Landes geschrieben - erschreckend vor allem für diejenigen,
die über Israel wenig wissen und immer noch an dem Bild vom
kleinen bedrohten Staat mitten im "arabischen Meer"
festhalten. Freunde Israels haben es da leichter, sie können
gleich die Klischees vom "antisemitischen" oder
"selbsthassenden Juden" hervorholen und die vorgebrachte
kritische Analyse auf diese Weise abtun. Aber Argumente
dieser Art sind gar keine, weil sie einfach zu einfältig und
platt sind, um ernst genommen zu werden. Moshe Zimmermann
ist ein zu renommierter und anerkannter Historiker mit
bedeutenden Veröffentlichungen über den Holocaust und auch
zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, als dass man
sein neues Buch so abtun könnte.
Es ist harter Tobak, den er vor
allem dem deutschen Leser zumutet, der zumeist eine ganz
andere Vorstellung von Israel hat. Aber Zimmermann kennt
sein Land sehr gut und weiß, was er schreibt. Leser, die
sich für die Nahost-Problematik interessieren, haben ja
heutzutage in den Medien - besonders in den verschiedenen
Internetforen zum Thema - die Möglichkeit, Zimmermanns
Befund an der Wirklichkeit selbst zu überprüfen. Vielleicht
ist die Realität sogar noch schlimmer als Zimmermann sie
beschreibt.
Er legt das Resultat seiner
Recherchen gleich im Vorwort vor, um es dann in den
folgenden Kapiteln mit Analysen, Beispielen und Berichten zu
belegen. Er zeichnet ein äußerst düsteres Bild des
politischen Israel und schließt nicht aus, dass sich dieser
Staat schon auf dem Weg in die Katastrophe befindet - in
eine selbst verschuldete, versteht sich. Denn in Sachen
Frieden (wenn man das Wort im Zusammenhang mit dem Nahen
Osten überhaupt noch benutzen kann), herrscht Stillstand,
absoluter Stillstand. Zimmermann, der sich ganz auf die
Beschreibung der israelischen Zustände beschränkt, die
arabische Seite also außen vor lässt, macht als Hauptgrund
für die totale Stagnation des politischen Prozesses die
Angst der Israelis vor dem Frieden aus - eine Angst, die,
wie er schreibt, ihre Gründe in der Geschichte,
Geschichtsverständnis, Traumata, Nationalismus, Religion,
Vorurteilen und Fanatismus hat. Aber es kommt etwas hinzu,
was diese an sich schon gefährliche Angst noch potenziert:
ihre Instrumentalisierung und Manipulierung.
Eigentlich, schreibt
Zimmermann, müsste man doch bestrebt sein, Angst durch
Hoffnung zu ersetzen, um eine Perspektive für die Zukunft zu
haben. Aber in Israel geschieht das Gegenteil. Er
konstatiert: "Denn die Falken und ihre Anhänger im Umfeld
verbreiten nicht nur Angst, weil sie eine reale Angst hegen,
sondern sie instrumentalisieren oft das Potenzial der Angst
ganz bewusst und aus Eigeninteresse, um die Mehrheit der
Gesellschaft als Geisel mit in den endlosen Zustand des
Unfriedens zu reißen." Und die Medien und die
Sozialisierungsinstitutionen machen mit bei diesem Tun.
Diese bewusst geschürte Angst
wird natürlich vor allem auch auf Araber bzw. Palästinenser
gelenkt, die der "ultimative Feind" schlechthin sind. Da
fragt man dann nicht mehr nach den Zielen, Absichten und
Motiven der "Anderen". Zimmermann: "Das Bild des Feindes
bleibt, vereinfacht gesagt, von neuen Kenntnissen und Fakten
unbeeinflusst. Es herrscht ein tiefes Misstrauen gegenüber
den Konkurrenten, ein Drang zur Delegitimierung des
Feindes."
Es ist erschreckend, was
Zimmermann an Einstellungen der israelischen Gesellschaft
gegenüber Arabern präsentiert. Das ist zum großen Teil
Rassismus in Reinkultur. Araber sind danach von Natur aus
"unehrlich", "heimtückisch", "hinterhältig", "listig",
"perfide", "Lügner", Terroristen" und
"Selbstmordattentäter". Jüdische Siedler pflegen zu sagen:
"Die Araber haben nur schlechte Absichten, Gott bereut es,
sie geschaffen zu haben." Mit Menschen von so minderer
charakterlicher Qualität kann man natürlich keinen Frieden
schließen. Man muss sie "mit radikalen Mitteln bekämpfen -
von der Überwachung und totalen Kontrolle bis hin zur
Verhaftung und Tötung." Arabische Friedenspläne (wie der
saudische aus dem Jahr 2002, der die Anerkennung Israels
durch alle arabischen Regierungen im Austausch gegen die
Rückgabe der besetzten Gebiete vorsah), werden als "typisch
arabische Taktik der Täuschung im Dienste der Strategie der
Vernichtung Israels" abgelehnt. Frieden mit den Arabern gilt
den meisten Israelis als Illusion, wenn nicht als Albtraum.
Die Zahl derer, die die Palästinenser endgültig vertreiben
und deren Land annektieren möchte, ist beträchtlich.
Die Angst also erstickt jede
Hoffnung auf Frieden. Zimmermann: "Diese Angst führt nicht
zu Kompromissbreitschaft, sondern zur Verhärtung von
Vorurteilen und Misstrauen. Statt den militanten
Angstmachern und Verursachern des katastrophalen Zustandes
im eigenen Lager die Stirn zu bieten, lässt man die Saat
aufgehen."
Und die aufgegangene Saat heißt
Gewalt. Sie ist die einzige Lehre, die das politische
Establishment Israels aus der Geschichte zieht. Zimmermann
führt den Gaza-Krieg 2008/09 als Beispiel an, der die
Beinahe-Niederlage Israels gegen die Hisbollah im
Libanon-Krieg 2006 wieder gutmachen sollte: "Zwei Jahre nach
dem zweiten Libanon-Krieg kam die Gelegenheit, auf
israelische Art aus der Geschichte zu lernen, aber nicht
etwa die Lektion, dass man Wege suchen sollte, um mit dem
Feind zu verhandeln und einen Frieden zu erzielen, sondern
die Erkenntnis, dass man mit Hilfe eines Krieges das
Abschreckungspotenzial wieder herstellen kann mit minimalen
eigenen Verlusten." Was -muss man ergänzen - rund 1400
Palästinensern das Leben kostete und den Gazastreifen bis
heute in Zerstörung, Hunger und Elend stürzte. Israels
gegenwärtiger Regierungschef Benjamin Netanjahu hat diese
Politik auf die Formel gebracht: "Frieden im Nahen Osten ist
ein nur über Abschreckung und Gewaltanwendung zu
erreichender Frieden."
Was bedeutet, dass sich Israel
selbst für friedensunfähig erklärt. Denn auch Zimmermann
leugnet gar nicht die Gefahren, die es in der Region gibt,
und fordert Israel auch nicht zum radikalen Pazifismus auf,
also zu Abschaffung seiner Armee und seiner Waffen. Aber er
kritisiert, dass man in der öffentlichen Diskussion Israels
mit diesen Gefahren nur bellizistisch umgeht und nicht -
ohne Diffamierung und Delegitimierung der "Anderen" -
Ursachenforschung betreibt, für die Zukunft Alternativen
sucht, die die Gefahren entschärfen und in der Zukunft eine
Tendenzwende möglich machen könnten. Es gibt im israelischen
Parlament (der Knesset) nicht eine einzige Partei, die den
Frieden mit den Palästinensern noch in ihrem Programm hat.
Dafür, dass es nicht zu einer
Tendenzwende in Richtung Frieden kommt, macht Zimmermann
militante Minderheiten in der israelischen Gesellschaft
verantwortlich: die Araber-Hasser, die Orthodoxen, die
Siedler und das Militär. Diese Gruppen - so der Historiker -
haben die israelische Gesellschaft in Geiselhaft vor dem
Frieden genommen, schüren die Angst und diktieren das
politische Tun. Die Mehrheitsgesellschaft fügt sich, weil
sie sich vor dem Widerstand dieser kleinen Gruppen gegen
einen Frieden mehr fürchtet als vor der Fortsetzung des
Status quo oder sogar einem neuen Krieg mit den Nachbarn.
Bestes Beispiel: Nicht wenige israelische Analytiker sehen
einen Bürgerkrieg zwischen Armee und Siedlern voraus, wenn
sich die Regierung doch entschließen sollte, für die
Entstehung eines Palästinenserstaates die besetzten Gebiete
zu räumen.
Begünstigt wurde das Erstarken
kleiner mächtiger Gruppen in der israelischen Gesellschaft
durch eine "ideologische Revolution". Die Staatsideologie
des Zionismus wird heute nicht mehr wie in den Anfangsjahren
des Staates nach 1948 von den säkularen sozialistischen
Elementen (vor allem der sozialdemokratischen
Arbeiterpartei) getragen, sondern von den Nationalisten,
Nationalreligiösen und Ultraorthodoxen. Für diesen neuen
Zionismus - den Zimmermann den "wahren Postzionismus" nennt
- ist das "Jüdische" im religiös-orthodoxen Sinne vorrangig,
es ist der primäre Wert, dem auch die Demokratie
untergeordnet wird. Priorität hat bei diesen Kräften ein
"jüdischer Staat", der dann automatisch ethnozentrisch
orientiert ist und kein demokratischer mehr sein kann, weil
er die anderen Minderheiten im Land diskriminiert. Diese
Gruppen, die auch in Netanjahus Koalition stark vertreten
sind, haben Israel religiöser gemacht und politisch deutlich
nach rechts gerückt.
Diese tragenden neuen Säulen
des Zionismus sind äußerst friedensfeindlich. Zu den
"Araber- Hassern" zählt Zimmermann den derzeitigen
Außenminister Avigdor Lieberman und seinen Anhang - zumeist
Einwanderer aus der früheren Sowjetunion. Jeder Kompromiss
mit Arabern gilt Liebermann als "Kriecherei". Er sagt: "Wenn
wir zaudern, stottern, kriechen, werden sie uns an die Wand
drücken." Er plädiert also für Null-Toleranz in Sachen
Frieden. Bei Differenzen mit Ägypten hatte er schon die
Zerstörung des Assuan-Staudamms durch die israelische
Luftwaffe angeregt. Eine Bombardierung des Iran gilt ihm als
Selbstverständlichkeit.
Die eigentliche
Erpressergruppe, die die gesamte israelische Bevölkerung
gezielt in Schach hält, sind für Zimmermann die
"ideologischen", meist religiös motivierten Siedler - eine
Gruppe, die den neuen Postzionismus vertritt. In diesen
Kreisen hält man nichts von Frieden, will ihn auch unter
keinen Umständen, er könnte ja die Aufgabe der Siedlungen
bedeuten. Die Siedler möchten die Palästinenser am liebsten
"loswerden", d.h. sie vertreiben, um dann die besetzten
Gebiete endgültig für ein Groß-Israel zu annektieren. In
Jerusalem ist dieser "Judaisierungs"-Prozess schon im vollen
Gange. Die Siedler stehen zudem "über dem Gesetz". Sie
dürfen ihre palästinensischen Nachbarn terrorisieren, ihnen
Land wegnehmen, für sie wird die Mauer nach Osten verschoben
und sie bekommen separate Straßen - Zimmermann nennt sie "Apartheitsstraßen".
Kein Siedler wird für an Palästinensern begangene Untaten
bestraft, die Armee steht schützend hinter ihnen. Im
Westjordanland gilt das liberale israelische Zivilrecht für
die Siedler und das harte Armeerecht für die Palästinenser.
Das Militär gehört - so
Zimmermann - auch zu den größten Angstmachern im Land. Von
Friedensgesprächen halten die führenden Militärs gar nichts,
das sei doch nur "Geschwätz", dahinter verbürgen sich nur
"List und Ablenkung" der anderen Seite. Diese verstünde
ohnehin nur die Sprache der Gewalt. Die Generalität lebe in
der Vorstellung, man schwebe ständig in Gefahr und der Feind
sei allgegenwärtig, deshalb glaube niemand in diesen Kreisen
an Frieden, sondern nur an die Vorbereitung des nächsten
Krieges. Die Bevölkerung, für die Kompromissbereitschaft
Schwäche und Katastrophe bedeute, akzeptiere diese Haltung
ohne Bedenken.
Diese friedensunwilligen
Gruppen - so Zimmermann - halten mit derselben Taktik der
Verbreitung von Angst und Unsicherheit auch Kräfte außerhalb
Israels in Schach, die zu Geiseln ihrer Politik und ihrer
Vision werden. Der Historiker nennt die Diasporajuden, den
sogenannten Westen und das Shoah-Trauma, das gegen alle
Friedensversuche instrumentalisiert werde. Das sind harte
Vorwürfe, aber Zimmermann belegt sie in überzeugender Weise:
Diasporajuden sind nach zionistischer Auffassung potenzielle
Staatsbürger Israels. Wer in der Diaspora lebt, ist so
gesehen eigentlich ein "Verräter" oder "Drückeberger", weil
er nicht nach Israel auswandert. Die zionistische Propaganda
versteht es nun geschickt, Schuldgefühle in diesen Menschen
zu erzeugen, die sie nur wieder "abarbeiten" können, wenn
sie sich dort, wo sie leben, aktiv für Israel und den Kampf
gegen seine Feinde einsetzen.
Zimmermann schreibt: "Israel
erwartet von Diasporajuden und ihren Gemeinden einen
engagierten Einsatz für die israelische Politik und
intensive Aktivitäten als einflussreiche Interessengrupe."
So ist es kein Wunder, dass sich die jüdischen Gemeinden -
auch in Deutschland - automatisch auf die Seite der
israelischen Politik stellen und sie auch vorbehaltlos
verteidigen, Kritik wird nicht geduldet: "Abweichende
Stimmen innerhalb der jüdischen Gemeinden hält die
israelische Regierung in der Regel nicht für legitim, sie
werden vielmehr als verräterischer Dolchstoß gegen die
israelische, also jüdische Sache bewertet." Zimmermann nennt
das eine "Erpressungs- oder Geiselnehmerstrategie", in der
er eine große Gefahr für die Diasporajuden sieht, weil sie
immer wieder durch Anschläge gefährdet sind - also für eine
Politik büßen müssen, die sie selbst gar nicht zu
verantworten haben. Was die für die israelische Politik
Verantwortlichen - so Zimmermann - aber gar nicht stört,
wird dadurch doch bewiesen, was immer behauptet wird:
Antisemitismus und Israelfeindlichkeit sind ein und
dasselbe. Was die Diasporajuden aber zu "Geiseln" des
Konflikts zwischen Israel und seinen Gegnern macht. Und von
dieser Rolle können sich die Auslandsjuden nicht befreien,
ihr gewollte Abhängigkeit von Israel bleibt so garantiert.
Damit ist auch aus israelischer
Sicht die - besonders in Deutschland heiß diskutierte -
Frage beantwortet, ob Kritik an der israelischen Politik
antisemitisch ist. Zimmerman definiert die israelische Sicht
so: "Eine Kritik an Israel, an der Politik oder der
Regierung beziehe sich immer, so meint man, zumindest
indirekt auf den jüdischen Charakter des Staates und seiner
Politik. Diese Gedankenkette führt wiederum dazu, das
gegenwärtig in Israel jegliche Kritik als
Antisemitismus ausgelegt wird." Der Autor warnt vor einem
solchen Vorgehen und bezeichnet sie als "kontraproduktiv".
Denn wenn Israel nach einem besonders brutalen militärischen
Vorgehen - wie etwa 2006 im Libanonkrieg oder 2008/09 im
Gaza-Krieg - auf Kritik umgehend mit dem
Antisemitismus-Vorwurf reagiere, werde dieser Vorwurf , wenn
er dann an anderer und zutreffender Stelle gebraucht werde,
unglaubhaft. Die Wachsamkeit der Weltöffentlichkeit gegen
den wirklichen Antisemitismus lasse bei dem inflationär
vorgebrachten Vorwurf Israels nach - eine gefährliche
Tendenz.
Zur Strategie der "Erpressung
und Geiselnahme" gehört für Zimmermann auch die ständige
Berufung auf die Shoah und die für die israelische Politik
daraus resultierende Maxime: "Wir dürfen alles!" - ein
Freibrief, den Israel sich selbst erteilt und der es immer
wieder in Konflikt mit dem Völkerrecht bringt. Zimmermann
lässt keinen Zweifel daran, dass hier der Mord der Nazis an
den europäischen Juden ausgenutzt, ja instrumentalisiert
wird: "Doch von einer Instrumentalisierung oder gar einem
manchmal zynischen Umgang mit der Geschichte des
Antisemitismus und der Shoah kann und darf gesprochen
werden, wenn man sich mit der israelischen Gesellschaft und
Politik befasst." Auch die israelische Besatzung in den
palästinensischen Gebieten wird mit der Shoa gerechtfertigt.
Aber die "Wir-dürfen-alles-Strategie!"
mit Berufung auf die Shoah birgt auch große Gefahren.
Zimmermann zitiert eine Statistik des israelischen
"Ministeriums für Aufklärung", das antisemitische Vorfälle
in der ganzen Welt beobachtet. Danach nimmt nach jeder
kriegerischen Attacke Israels der Antisemitismus global
stark zu - einschließlich der Zahl der Anschläge auf Juden
oder jüdische Einrichtungen. Man gibt den Zusammenhang
zwischen beiden Ereignissen durchaus zu, zieht aber dann
nicht die Schlussfolgerung, dass die israelische Politik die
Ursache für das Ansteigen des Antisemitismus ist, sondern
konstatiert, dass die Muslime und die Linken die Ursache
dafür sind, die im Bündnis miteinander Israel schaden
wollen. Für Zimmermann ist das eine klare
Instrumentalisierung des Antisemitismus. Denn die
Schlussfolgerung lautet für Israel: Für die Diasporajuden
gibt es nur eine Hoffnung - sie müssen Israel noch mehr
unterstützen! Was wiederum den Teufelskreis nur verstärkt:
Denn wenn Israels brutale Politik gegenüber den
Palästinensern und seine rücksichtslosen Militäraktionen zum
Ansteigen des Antisemitismus in der Welt führen, tragen auch
die Auslandsjuden wegen ihrer blinden Solidarität mit dieser
Politik dazu bei - und gefährden sich damit wiederum selbst.
Sie sind und bleiben also die Geiseln des Konflikts.
Zimmermann schreibt wörtlich:
"Da aber die Sprecher der jüdischen Gemeinden im Ausland
diesen Fakt nicht zugeben, kann man in Stellungnahmen aus
Israel die Angst vor dem Frieden mit der Angst vor dem
Antisemitismus verknüpfen." Damit wird das Band zwischen
Diasporajuden und Israel noch enger geknüpft, aber jeder
reale Schritt zum Frieden wird unterdrückt."
In die "Geiselnahme- und
Erpressungsstrategie" Israels bezieht Zimmermann auch die
Zugehörigkeit des Landes zum sogenannten "Westen" ein.
Israel fühlt sich als Vorposten Europas und der USA im Nahen
Osten. Das hatte in den 30er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts schon der Zionistenführer Wladimir Zeev
Jabotinsky gefordert: Israel solle der Vorposten der
Zivilisation gegen die Barbaren [die Araber] in der Region
sein und dies durch einen "iron wall" (eine "eiserne Mauer")
absichern. Europa und die USA haben Israel stets in seinem
Wollen, ein Mitglied der westlichen Staatengemeinschaft zu
sein, unterstützt und tun das auch heute noch. Das Veto der
USA in der Vereinten Nationen schützt Israel stets vor
Sanktionen, und selbst die völkerrechtswidrige Besatzungs-
und Siedlungspolitik wird vom Westen stillschweigend
geduldet.
Auch für diese "Geiselnahme"
instrumentalisiert Israel die Shoah. Zimmermann schreibt:
"Die Gemeinsamkeiten, die Vergangenheit, gerade im Hinblick
auf die Shoah, der im islamischen Terror ausgemachte Feind
oder die gemeinsame Zukunftsperspektive von Kampf, Krieg und
Sieg werden heraufbeschworen, um dem Begriff des Westens
einen klaren Inhalt zu verleihen." Vor allem wird die
Zugehörigkeit zum Westen mit dem Begriff der Demokratie
identifiziert. Und sofort kommt wieder der
Antisemitismus-Vorwurf: Denn wie kann man die "einzige
Demokratie im Nahen Osten" kritisieren oder gar
boykottieren? Aber, muss man an dieser Stelle einwenden, ist
Kritik nicht gerade das Wesenselement der Demokratie - also
ein hoher westlicher Wert?
Zimmermanns düster und
pessimistisch ausgefallene Analyse der israelischen
Gesellschaft und Politik hellt sich auch am Schluss seines
Buches nicht auf. Er kann keine positiven Ausblicke und
Hoffnung für die Zukunft anbieten. Ganz im Gegenteil, Israel
hat sich in einer Wagenburg im wahrsten Sinne des Wortes
"selbst eingemauert" - ein Ausweg aus Misere ist nirgendwo
in Sicht. Wofür er vor allem die große Mehrheit der Israelis
verantwortlich macht, die sich ja rein theoretisch bei
Wahlen anders entscheiden könnte. Aber sie tut es nicht.
Denn: "Zum Tangotanzen gehören zwei Partner: die
erpresserische Minderheit und die mitziehende Mehrheit, die
sich aus der Position als Geisel nicht mehr herauswagt, weil
sie sich mittlerweile an den Status quo des Unfriedens
gewöhnt hat und die für seine Fortsetzung nötigen Ausreden
akzeptiert." Die Mehrheit hat Angst vor der Ungewissheit,
aber auch vor den Erpressergruppen. Deshalb fügt sie sich
und ist gegen jede Alternative.
Als entscheidendes Motiv hinter
dieser Mentalität sieht Zimmermann die Angst. Die
existenzielle Angst - analysiert er - ist das oberste Gebot
der israelischen Gesellschaft und sie macht auch das "Wir
dürfen alles!" erst möglich. Die Angst diktiert auch das
Feindbild. Die Bedrohung, die die Mehrheit empfindet, wird
nicht kritisch auf ihren Realitätsbezug hin befragt, man
fühlt sich völlig im Recht. Schon gar nicht wird die Frage
gestellt, ob die eigene als so bedrohlich erlebte
Befindlichkeit etwas mit einer falschen und fehlgeleiteten
Politik zu tun hat. Die Schuldfrage ist klar entschieden: Es
ist die antisemitische, antiisraelische Haltung der Araber
und aller Gojim (Nichtjuden). Jeder Kompromiss, jede
Alternative und jedes mögliche Friedensangebot wird als
lebensgefährlich und existenzbedrohend erlebt. Es gibt kein
Zusammenleben mit den "Anderen". Man sucht nur den großen
Befreiungsschlag, der den "Anderen" Angst einjagt und ihn in
Schach hält. Denn die ganze Welt ist gegen Israel, sie hat
nichts Besseres zu tun als Israel zu hassen und zu
bekämpfen. Wer etwas anderes sagt, ist ein Verräter,
Ignorant und Bösewicht. An einer Stelle gebraucht Zimmermann
das Wort "paranoid" für diese Haltung. Ein anderer Israeli,
Ofer Grosbad, hat über dieses Problem ein ganzes Buch
geschrieben: " Israel auf der Couch. Zur Psychologie des
Nahostkonfliktes". Auch Abraham Burg geht in seinem Buch
"Hitler besiegen!" ausführlich auf diesen Befund ein. Israel
kann nur weiter bestehen, schreibt er dort, wenn es seine
Besessenheit, sich bei allem und jedem auf die Shoah zu
berufen, aufgibt.
Auch Zimmermanns zieht ein
schreckliches Resümee. Wie kann ein Land, das sich selbst so
isoliert, einkapselt und in die totale Selbstgerechtigkeit
flieht, überleben? Dem bestürzten Leser bleibt nach Lektüre
dieses Buches nur die bange Frage: Quo vadis Israel? Israel
braucht offenbar wirklich unsere Hilfe und Solidarität, aber
eine ganz andere als der "Westen" sie bisher erbracht hat.
Und noch etwas kommt hinzu: Israel ist Atommacht und - wenn
man den Aussagen vieler seiner Politiker und Intellektuellen
glauben darf - auch bereit, diese schrecklichste aller
Waffen bedenkenlos einzusetzen. Was das für den Nahen Osten
bedeuten würde, wagt man sich noch gar nicht auszumalen.