Hat Omri Boehm ein antisemitisches Buch geschrieben?
Sei Plädoyer für einen radikalen Universalismus macht ihn bei Zionisten und deren Anhängern höchst verdächtig
Arn Strohmeyer - 20.11. 2022
Omri Boehm
Radikaler Universalismus
Jenseits von Identität
Berlin 2022 - 22 Euro
ISBN 978-3-549-10041-7 |
Wer sich in Israel – bezogen auf die Palästinenser – für die universalistischen Kategorien Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und die Moral des Staates einsetzt, der hat nicht nur einen schweren Stand, er gilt als „Verräter“, schreibt die israelische Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch Israel. Menschenrechte gelten eben nur für Juden und nicht für Palästinenser, das ist zionistisches Dogma in diesem Apartheidstaat. Eva Illouz sieht die Gefahren, die eine solche Haltung für die Zukunft des Staates bedeutet und fährt deshalb fort: „Mehr denn je müssen Israel und das Judentum das Erbe aufgeklärter Juden fortführen, indem sie den Universalismus zu Israels moralischem Horizont machen.“ Das heißt mit anderen Worten: Es steht sehr schlecht um eine universalistische Ethik in Israel. Nach den neuesten politischen Entwicklungen in diesem Staat ist eher Hoffnungslosigkeit angesagt.
Der israelische Philosoph Omri Behm ist einer dieser aufgeklärten Juden, die dem Universalismus zu neuem Leben in Israel und anderswo verhelfen wollen. Diesem Zukunftsprojekt hat er nun sein neues Buch Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität gewidmet. Boehm holt religionsgeschichtlich und philosophisch weit aus und macht es seinen Lesern nicht immer leicht, seiner Gedankenführung zu folgen. Aber je tiefer man in das Werk eindringt, schält sich Boehms klare Argumentationslinie heraus.
Sein Ausgangpunkt ist die Kritik an der in der „progressiven Linken“ gegenwärtig vorherrschenden Identitätspolitik, also einer Form des politischen Handelns, das die Bedürfnisse spezieller Gruppen in den Vordergrund des Interesses stellt – etwa nicht-weißer Ethnien, Homosexueller usw. Priorität in dieser politischen Sicht genießen also kulturelle, ethnische, soziale und sexuelle Merkmale. Diese Linke kämpft im Namen von „Gender und Race“.
Vertreter der Identitätspolitik ersetzen den Maßstab des abstrakten Universalismus durch konkrete Identität. Der Humanismus mit universeller Gültigkeit hat in dieser Ideologie ausgedient, ein Anti-Universalismus tritt an die Stelle des sich auf die Aufklärung berufenden Humanismus. Der Aufklärer Immanuel Kant wird wegen bestimmter Äußerungen über außereuropäische Ethnien, die sicher dem Geist seiner Zeit geschuldet waren und die er später auch korrigiert hat, als „Vater des modernen Rassismus“ denunziert. Verteidigern des universellen Humanismus wird zudem vorgeworfen, Strukturen aufrechtzuerhalten, die den Herrschende Ausgrenzung und Ausbeutung ermöglichten.
Boehm ergreift kompromisslos Partei für die Gegenseite, für die Aufklärung und den humanen Universalismus. Kants Definition der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ ist dabei das alles bestimmende Prinzip. Um das zu begründen, geht der Autor tief in die Religionsgeschichte zurück: Indem Abraham bereit ist, auf Befehl Gottes seinen Sohn Isaac zu opfern, verkörpert er das Modell des monotheistischen Glaubens, weil er Gottes Befehl über das universelle Gebot der Gerechtigkeit stellt.
In der biblischen Erzählung von Sodom und Gomorra lehnt Abraham sich aber gegen Gott auf, weil er dessen Beschluss kritisiert, beide Städte zu zerstören – also dabei Gerechte wie Ungerechte gleichermaßen umzubringen. Abraham stellt in diesem Fall in einem Akt des Ungehorsams und der Auflehnung die Pflicht zur Ausübung der universellen Gerechtigkeit über Gottes Gebot. Die Idee der Gerechtigkeit steht also – universalistisch gesehen – unbedingt über den göttlichen Geboten. Ungehorsam wird in solchen Situationen zu Pflicht.
Es ist das Verdienst des Philosophen Immanuel Kant, diesen Sachverhalt aus der religiösen Sphäre auf die säkulare Ebene gehoben und damit der Idee der Menschheit erstmals als moralischen Begriff formuliert zu haben. Denn dieser Begriff beinhaltet die selbstverständliche Wahrheit, dass alle Menschen gleich sind – und damit auch, dass sie die Freiheit haben, ihrer Verpflichtung zu moralischen Gesetzen Folge zu leisten. Erst diese Freiheit verleiht dem Menschen seine Würde.
Was haben diese philosophischen Ausführungen nun mit dem heutigen Israel und seiner Politik zu tun? Man kennt Omri Boehm von seinem Buch Israel eine Utopie her und weiß, dass dieser Autor immer hoch politisch argumentiert. Am Ende seines neuen Buches stellt er sich selbst die Frage, wie sein Plädoyer für einen radikalen Universalismus – abgeleitet von Kant –auf die reale Welt angewandt aussieht. Seine Antwort liegt ganz in der Logik seiner völligen Ablehnung der Identitätspolitik: Im Fall Israels sind die ethnischen Merkmale ausschlaggebend, denn es will ein Staat ausschließlich für Juden sein.
Boehm nennt dann die Gründe, warum Israel den Universalismus in jeder Hinsicht ablehnt: „Der Zionismus ist schließlich der exemplarische Fall von Identitätspolitik in der Nachkriegszeit. Er ist zudem eine gerechtfertigte Form von Identitätspolitik, wenn es so etwas überhaupt gibt.“ Er legt dann dar, warum der Zionismus den Universalismus ablehnt: „Der Universalismus der europäischen Aufklärung hat uns im Stich gelassen. Er hat bei der Verteidigung unserer Rechte versagt; er hat bei der Verteidigung unserer Kultur versagt; er hat ganz sicher bei der Verteidigung unseres Lebens versagt. Tatsächlich hat er, soweit der europäische Faschismus und Auschwitz (…) Produkte der Aufklärung waren (man denke an die Dialektik der Aufklärung), nicht nur bei unserer Verteidigung versagt, sondern er hat uns gezielt angegriffen, genauso wie er Kolonialismus und Sklaverei hervorgebracht hat. Deshalb brauchen wir unsere eigene, jüdische Politik, um zu überleben. Und wenn man diese Idee aus einer universalistischen Perspektive kritisiert, dann nur deshalb, weil man als privilegierte Nicht-Jude die jüdische Erfahrung gar nicht verstehen kann. Der Gedanke, man habe das Recht, über die Opfer zu urteilen, macht einen zum Antisemiten.“
Gegen diese zionistische Argumentation gibt es gute Argumente. Israel ist als „Demokratie“ (wie es sich selbst bezeichnet) und als Nationalstaat natürlich selbst ein Produkt der Aufklärung. Außerdem ist es als siedlerkolonialistischer Staat ein Erbe des Kolonialismus, den es aber kritisiert. Zudem: Ohne die Hilfe und Unterstützung westlicher Demokratien würde es Israel gar nicht geben. Eine Ideologie wie die hier geschilderte hat wohl eher die Funktion, die zionistische Formel des „Uns ist alles erlaubt!“ – auch extreme Gewalt z.B. gegenüber den Palästinensern – zu rechtfertigen und dazu auch noch die isolationistische Formel „Die ganze Welt ist gegen uns!“ Dass Israel auch den Holocaust instrumentalisiert und sich mit Berufung auf ihn jede Kritik an seiner Politik verbietet, kommt noch dazu.
Boehm weiß natürlich, dass die Aufklärung auch missbraucht worden ist und furchtbare Irrwege gegangen ist. Er unterscheidet aber zwischen der „positivistischen“ und der Kantschen humanistischen Aufklärung. Was die zionistische Argumentation hier anprangert, geht, wenn es überhaupt einen realistischen Hintergrund hat, auf das Konto der positivistischen Aufklärung. Man darf in diesem Zusammenhang auch an Jürgen Habermas‘ Satz erinnern, dass man die Fehler der Aufklärung nur mit der Aufklärung korrigieren könne. Womit sonst?
Boehm sieht die starken Merkmale einer Identitätspolitik aber nicht nur bei Israel, sondern auch bei den Palästinensern – auch wenn er zugesteht, dass das Verhältnis durch Besatzung, Apartheid und Unterdrückung sehr asymmetrisch sei. Auch sie beständen wie die Israelis auf ihrer „Wir-Identität“. Mit einer solchen Sicht gegenüber dem Anderen löschten beide Kontrahenten sich aber gegenseitig aus – ihr jeweiliges Narrativ, ihre Geschichte, ihre Legitimation und Existenz. Er sieht den einzigen Ausweg im Beharren auf dem radikalen Universalismus statt auf der Identität: „Darin, die eigene Politik mit der Verpflichtung auf die Gleichheit aller Menschen zu beginnen und die Ansprüche von Identität an dieser Verpflichtung zu prüfen.“ Nur dieser Universalismus sei in der Lage zu bewirken, dass sich die Identitäten nicht gegenseitig vernichteten, sondern sie verteidigten. Nur ein solcher Weg könne das Land neu strukturieren und einen gemeinsamen Begriff von Staatsbürgerschaft entwickeln. Am Ende eines solchen Prozesses müsste ein binationales „Wir“ stehen.
Das ist sehr human und durchaus im Sinne Kants gedacht, aber politisch wenig konkret. Und bedenkt man die Situation in der gegenwärtigen israelischen Politik mit dem Rechtsruck in Richtung eines religiösen Ultra-Nationalismus, den einige israelische Analytiker durchaus als Weg in den Faschismus bezeichnen, dann muss man feststellen, wie utopisch Boehms Zukunftsvision ist. Dazu kommt etwas Anderes: Wenn Israel – wie aufgezeigt – den humanistischen Universalismus vollständig und radikal ablehnt, dann beweist das, dass dieser Staat nicht zur „westlichen Wertegemeinschaft“ gehört (wie fragwürdig dieser Begriff auch sein mag). Boehms Plädoyer für einen radikalen Universalismus ist aus zionistischer Sicht „Verrat“ und damit eben „Antisemitismus“. Antisemitismus, weil jede universalistische Lösung das Ende des bestehenden zionistischen Projektes bedeutet, also die Existenz eines rein jüdischen Staates beenden würde.
Die deutsche Politik vertritt in Treue zu Israel die zionistische Position ohne Abstriche – siehe etwa den BDS-Beschluss des Bundestages. Boehm ist demnach auch aus deutscher Sicht ein „Antisemit“. Kritiker der israelischen Politik und Palästina-Aktivisten haben es schon leidvoll erfahren müssen: Wer sich hierzulande für die universal geltenden Menschenrechte und die Einhaltung des Völkerrechts für die Palästinenser einsetzt, muss damit rechnen, als „Antisemit“ an den Pranger gestellt zu werden. Aus Solidarität zu Israel nimmt man einen Abbau demokratischer – also universalistischer – Rechte gern in Kauf. Boehm riskiert mit seinen Aussagen über den Universalismus das gleiche Schicksal zu erleiden wie andere Kritiker der israelischen Politik. Diese Denunziationspraxis macht auch vor „linken“ und universalistisch gesinnten Juden nicht Halt. Man darf gespannt sein, ob Omri Boehm auch unter dieses inquisitorische Sperrfeuer gerät.
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