Der Mythos von der Vertreibung
der Juden aus arabischen Ländern
Israels Forderungen nach
Entschädigung sind nichts als ein Ablenkungsmanöver von eigener Schuld gegenüber
den Palästinensern
Arn Strohmeyer
Eins muss man dem Staat Israel lassen: Seine Chuzpe (laut
Duden: Dreistigkeit) kennt keine Grenzen. Gemeint sind in diesem Fall die jetzt
erhobenen Forderungen an die arabischen Staaten, insgesamt 250 Milliarden Dollar
„Entschädigung“ für die „Vertreibung“ von Juden aus diesen Ländern im Jahr
1948/49 zu zahlen. Als Grund wird neben der „Vertreibung“ die Ablehnung des
UNO-Teilungsplans von 1947 durch die Araber bzw. die Palästinenser angegeben.
Israel argumentiert: Die Palästinenser hätten ja damals ihren Staat haben
können, und sie seien selbst schuld, wenn sie das Angebot nicht angenommen
hätten.
Was die israelische Seite natürlich nicht sagt, ist, wie
dieser UNO-Teilungsplan aussah. Die Juden, die damals nur ein Drittel der
Bevölkerung stellten, sollten 56 Prozent Palästinas bekommen, die Palästinenser
(zwei Drittel der Bevölkerung) aber nur 42 Prozent und dazu noch das qualitativ
schlechtere Land. Jerusalem sollte internationalen Status erhalten. Es versteht
sich von selbst, warum die Palästinenser diesen Beschluss, der sie so
benachteiligte, ablehnten. Dazu kommt ein völkerrechtliches Problem: Die UNO
muss nach ihrer Charta das Selbstbestimmungsrecht der Völker achten, darf also
gar keine Staaten gründen. Es hätte also ein Referendum über die Zukunft
Palästinas stattfinden müssen. Das hat es aber nicht gegeben, was heißt: Die
Palästinenser sind gar nicht gefragt worden. Man wollte ihnen verweigern, über
ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Der Zionistenführer und erste israelische
Ministerpräsident Ben Gurion hat im Übrigen immer wieder bekannt, dass jede
„Lösung“ für ihn nur eine „Zwischenlösung“ sei, denn Ziel der Zionisten sei es,
ganz Palästina in Besitz zu nehmen. Was inzwischen ja auch geschehen ist.
Die Vertreibung der Palästinenser (Nakba) wird heute von
keinem ernsthaften Historiker mehr bestritten. Selbst der zum rechten
zionistischen Lager gehörende Benny Morris gibt die Zahl der Vertriebenen mit
750 000 bis 800 000 an, bedauert heute nur, dass die Zionisten damals das
Problem nicht vollständig gelöst hätten, das heißt: Man hätte eben alle
vertreiben müssen. Unumstritten ist auch, dass Plünderungen, Raub und
Zerstörungen die Vertreibung der Palästinenser begleiteten. Ihr ganzer Besitz
wurde beschlagnahmt.
1950 wurde sogar ein Gesetz bezüglich des „Besitzes
Abwesender“ erlassen, mit dem die Regierung ermächtigt wurde, alles Eigentum von
den Palästinensern in Beschlag zu nehmen, die nicht nachweisen konnten, dass sie
am 29. November 1947 vor Ort zugegen waren. 1953 wurde die Anwendung dieses
Gesetzes auf die Armee ausgedehnt, die somit ermächtigt wurde, palästinensischen
Grund und Boden, palästinensische Häuser und ganze Dörfer zu nutzen.
Wenn Israel heute Entschädigungszahlungen von den Arabern
verlangt, dann ist das wohl mehr ein zynisches Ablenkungsmanöver von der eigenen
Schuld den Arabern und Palästinensern gegenüber. Man argumentiert: Israel hat
Hunderttausende von Palästinensern vertrieben (wenn nicht gar behauptet wird,
sie seien „freiwillig“ gegangen), aber dafür hätten die Araber im Gegenzug
Hunderttausende von Juden aus ihren Ländern vertrieben und diese Menschen hätte
Israel aufnehmen müssen, was dem jungen Staat nicht leichtgefallen sei. Mit
anderen Worten: Beide Seiten haben vertrieben und damit gleicht sich die Sache
aus.
Hier handelt es sich eindeutig um einen Mythos. Einmal davon
abgesehen, dass man ein Unrecht nicht mit einem anderen aufrechnen kann, die
historische Wahrheit sieht ganz anders aus. Zwei Historiker – der Israeli Tom
Segev und sein österreichisch-jüdischer Kollege John Bunzl – haben intensiv über
dieses Thema gearbeitet und kommen zu ganz anderen Ergebnissen. Die Zionisten
hatten im Krieg von 1948/49 große Gebiete erobert und die meisten der bis dahin
dort lebenden palästinensischen Einwohner vertrieben. Dadurch waren große „entarabisierte“
Gebiete in den Machtbereich Israels geraten. Israel fehlte es daher an Menschen,
denn durch den Völkermord an den Juden durch die Nazis blieben Millionen
Menschen aus – vor allem osteuropäische Juden – , die für die Besiedlung
eigentlich vorgesehen waren. Juden aus anderen Teilen der Welt zeigten aber
wenig Interesse, in den neuen Staat überzusiedeln.
Einwanderer aus den islamischen Staaten zu gewinnen, war also
ein vorrangiges Projekt des jungen Staates Israel. Ministerpräsident Ben Gurion
formulierte das 1949 so: „Wir haben Gebiete erobert, aber ohne Besiedlung haben
sie keinen entscheidenden Wert, weder im Negev noch in Galilea noch in
Jerusalem. Besiedlung ist erst die wirkliche Eroberung. Tausende Jahre waren wir
eine Nation ohne Staat. Jetzt besteht die Gefahr, dass wir ein Staat ohne Nation
werden.“
Der Historiker isarelische Historiker Halevi schreibt dazu:
„Vor diesem Hintergrund beschließen die Führer der Arbeiterzionisten des
Jischuw, mit allen Mitteln die Juden der mohammedanischen Länder Nordafrikas und
des Mittleren Ostens kommen zu lassen. (...) Aus Marokko, Algerien, Tunesien,
Lybien, Ägypten, dem Jemen, Irak Syrien und dem Libanon (...) trafen zwischen
1948 und 1967 eine Million ‚arabischer’ Juden in Palästina ein, wo sie (...) den
leeren arabischen Raum bevölkerten. Als Minderheit unter dem Juden der ganzen
Welt wurden die Juden ‚Afrikas und Asiens‘, wie sie der offizielle israelische
Sprachgebrauch bezeichnet, zur Mehrheit im Staat Israel.“
Es gab aber auch direkte politische Gründe, die Einwanderung
orientalischer Juden zu befördern: Ben Gurion wollte sie im Lande haben, um die
Armee zu stärken. Und Menachem Begin wünschte ihre Einwanderung, weil er
glaubte, dass „diese unwissenden und primitiven“ Massen ihn und seine rechte
Herut-Partei schneller an die Macht bringen würden. Um Juden in den islamischen
Staaten zur Einwanderung nach Israel zu überreden, sandte Israel Agenten aus,
die bei den jeweiligen Regierungen Ausreisegenehmigungen für die Juden erreichen
sollten. Die Methoden, mit denen diese Agenten arbeiteten, waren nicht immer
legal. So wurden an Beamte und Mitglieder der Regierungen hohe Summen gezahlt –
Nuri Said, der Schah des Iran und die Sultane des Jemen kamen auf die
Gehaltsliste des Mossad. Wenn Geld nicht die gewünschte Wirkung erzielte,
entwickelten zionistische Stellen das Interesse, die Lebensbedingungen der
jüdischen Minderheiten in diesen Staaten zu verschlechtern.
Jitzak Ben-Menahem, ein Agent, der in arabischen Ländern
viele Operationen ausgeführt hatte, schrieb: „Massenauswanderung wird nur als
Folge von Bedrängnis eintreten. Das ist die bittere Wahrheit, ob es uns passt
oder nicht. Wir müssen daran denken, die Bedrängnis zu initiieren, sie in der
Diaspora herbeizuführen.“ Und Ben Gurion bemerkte: „Selbst Juden, die [ihre
Wohnorte] nicht verlassen wollen, müssen gezwungen werden zu kommen.“
Dabei war man sich in Israel sehr wohl bewusst, dass die
Einwanderung der Juden aus den islamischen Ländern viele Probleme schaffen
würde, denn der Bildungsstandard dieser Menschen war sehr niedrig. In einem
israelischen Zeitungsartikel hieß es 1949: „Die Primitivität dieser Leute ist
unübertreffbar. Sie haben fast überhaupt keine Erziehung, schlimmer noch ist
ihre Unfähigkeit, irgendetwas Intellektuelles zu verstehen. In der Regel sind
sie nur etwas weiter als Araber, Neger und Berber. Das Niveau liegt bestimmt
unter jenem der vormaligen palästinensischen Araber.“ Aber man brauchte diese
Menschen als Landarbeiter, die die palästinensischen Araber ersetzen sollten.
Diese Einwanderer wurden wegen ihrer Fremdartigkeit in Israel auch mit
Bestürzung und Feindseligkeit empfangen. Ben Gurion verteidigte die
Notwendigkeit ihres Kommens aber, er verglich sie mit den Schwarzen, die als
Sklaven nach Amerika geholt wurden.
Der israelische Historiker Tom Segev spricht in seinem Buch
„Die ersten Israelis“ nur von „Einwanderung“ der orientalischen Juden. Das Wort
„Vertreibung“ benutzt er nur ein einziges Mal – im Zusammenhang mit dem Irak.
Aber dort war die Situation sehr kompliziert und Segev belegt, dass die
zionistischen Agenten bei der „Vertreibung“ der irakischen Juden kräftig
nachgeholfen haben. Auf jeden Fall ist die These der zionistischen
Geschichtsschreibung, dass die Sehnsucht dieser Menschen nach dem Heiligen Land
und die grausame Verfolgung dort sie zum Verlassen des Landes bewogen hätten,
nicht haltbar. Segev beschreibt eine sehr aktive Tätigkeit von Mossad-Agenten im
Irak, ja spricht sogar von einem „zionistischen Untergrund“. Es seien nur Juden
im Irak verfolgt worden, die mit diesen Untergrundtätigkeiten zu tun gehabt
hätten.
1950 beschloss das irakische Parlament ein Gesetz, alle Juden
auswandern zu lassen. Segev bringt diesen Beschluss mit „Vertreibung“ in
Verbindung, fügt aber hinzu, dass das Gesetz, das die Juden zwang, das Land zu
verlassen, eine Folge der subversiven Arbeit des Mossad war. Bei einem
Bombenanschlag in Bagdad kamen im Januar 1951 vier Juden ums Leben. Die Täter
wurden nie ermittelt, aber Gerüchte gaben dem Mossad die Schuld. Der Anschlag
sollte die Juden in Panik versetzen und zur Auswanderung bewegen.
Mit dem Jemen schloss Israel ein Abkommen über die
Auswanderung der Juden. Sie wurden zum Exodus überredet, indem man in diesen
sehr ungebildeten Menschen messianische Hoffnungen weckte. So glaubten viele,
dass es sich bei Israel um ein neues Königreich Davids handele, weil der
Regierungschef David Ben Gurion heiße. Die jemenitischen Juden wurden mit einer
Luftbrücke nach Israel gebracht, wobei sie die weißen Flugzeuge für die
„fliegenden weißen Esel des Messias“ hielten.
In Ägypten herrschte eine ganz andere Situation. Hier hatten
islamistische und nationalistische Strömungen seit den vierziger Jahren das
Leben von nicht-ägyptischen Minderheiten erschwert – also nicht nur von Juden,
sondern auch von Europäern, koptischen Christen und Griechen. Ab Juli 1954
belastete ein von einem israelischen Spionagering begangener Anschlag in Kairo
die Beziehungen zwischen der ägyptischen Regierung und den Juden schwer. Die
israelischen Agenten hatten Bomben in britischen und amerikanischen
Informationszentren, britischen Kinos und ägyptischen öffentlichen Einrichtungen
hochgehen lassen. In Israel hieß dieser Anschlag nach einem damaligen Minister
die Lavon-Affäre. Ziel des Anschlages war es, „das Vertrauen des Westens in das
derzeitige ägyptische Regime zu untergraben.“
Die Briten verhandelten damals mit Ägypten über die
Evakuierung der Kanalzone. Die Amerikaner wollten Ägypten Waffen liefern. Es war
sogar ein amerikanisch-ägyptisches Bündnis im Gespräch. Israel führte zunächst
eine Kampagne, um den Ägyptern die Anschläge „als ein anti-jüdisches
abgekartetes Spiel“ in die Schuhe zu schieben. Schließlich kam aber auch in
Israel die Wahrheit heraus, dass eine Gruppe im Sicherheitsestablishment die
Anschläge ausgeheckt hatte.
Als Israel dann im Oktober 1956 im Suezkrieg zusammen mit
Großbritannien und Frankreich Ägypten angriff, verfügte die ägyptische Regierung
Massenausweisungen. Rund 100 000 Juden verließen das Land. Aber auch Angehörige
anderer Staaten – Griechen, Italiener, Franzosen und Briten – mussten Ägypten
verlassen. Die Juden hatten aber auch unter den Folgen der
panarabisch-islamischen Ägyptisierung von Wirtschaft und Verwaltung und den
Auswirkungen des Palästina-Konfliktes zu leiden. Bunzl betont ausdrücklich: „Die
antijüdischen Maßnahmen lagen weder in einer‚ewigen‘ muslimischen Feindschaft
antisemitischen Typs noch in der Haltung der Mehrheit der ägyptischen
Bevölkerung begründet – diese war bis in die Mitte das 20. Jahrhunderts durchaus
‚tolerant‘.
Segev notiert denn auch, dass es für die orientalischen
Einwanderer in Israel viele Motive gab, ihre alte Heimat zu verlassen. Es gab
persönliche, politische und religiöse Gründe. Er schreibt: „Einige Juden
wanderten spontan aus, weil sie schikaniert und verfolgt wurden, sei es wegen
ihrer zionistischen oder religiösen Überzeugungen. Andere kamen wegen der
Propaganda nach Israel, die von Vertretern des Zionismus in ihren Ländern
verbreitet wurde. Einige schlossen sich einfach den emigrierenden Massen an, und
manche verschlug es tatsächlich gegen ihren Willen nach Israel.“ Aber eins kann
man mit Sicherheit sagen: Eine der ethnischen Säuberung, also der Nakba der
Palästinenser 1948/49 entsprechende Vertreibung der Juden aus den islamischen
Ländern hat es nicht gegeben.
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