„BDS ist die einzige Hoffnung der Palästinenser“
Anmerkungen zu einer Bewegung, die für die Freiheit und Selbstbestimmung eines ganzen Volkes kämpft
Arn Strohmeyer
Die Palästinenser befinden sich in einer so gut wie aussichtslosen Lage. Wenn sie sich gegen ihren zionistischen Besatzer mit Gewalt wehren (was sie nach dem Völkerrecht dürfen, wenn dabei keine Zivilisten zu Schaden kommen), sind sie in den Augen Israels und der Welt „Terroristen“. Versuchen sie aber mit friedlichen Mitteln, das Ende der Okkupation und ihre politische Selbstbestimmung zu erreichen – wie eben mit BDS – , dann sind sie „Antisemiten“. Mit anderen Worten: Sie können tun, was sie wollen, sie stehen immer auf der falschen Seite. Sie sind die absoluten Loser in der Völkerfamilie, obwohl sie das internationale Recht und auch die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen auf ihrer Seite haben.
Was ist BDS? Am 9. Juli 2005 sind 170 Organisationen der palästinensischen Zivilgesellschaft mit einem Appell an die Öffentlichkeit getreten, der zu Boykott, Investitionsentzug (Deinvestment) und Sanktionen nach dem in Südafrika erfolgreichen Vorbild aufruft, um von Israel die Einhaltung des internationalen Rechts und der universellen Prinzipien der Menschenrechte zu erlangen. Die Initiatoren appellieren an alle Staaten, Organisationen und rechtschaffenen Menschen der ganzen Welt, diese gewaltlosen Strafmaßnahmen – Embargos und Sanktionen – solange durchzuführen und aufrechtzuerhalten, bis Israel seiner Verpflichtung nachkommt, die Besatzung zu beenden und den Palästinensern das unveräußerliche Recht der Selbstbestimmung zuzugestehen. Im Einzelnen fordert die BDS-Kampagne:
· die Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes zu beenden und die Mauer abzureißen [mit „arabischen Land“ sind ganz offensichtlich die von Israel besetzten Gebiete gemeint];
· das Grundrecht der arabisch-palästinensischen Bevölkerung Israels auf völlige Gleichheit anzuerkennen;
· die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren, wie es in der UNO-Resolution 194 von 1948 vereinbart wurde, zu schützen und zu fördern.
Die meisten Völkerrechtler argumentierten, dass diese Initiative nichts anderes als die Einhaltung der europäischen Rechtsordnung und des Völkerrechts fordert und dass Boykott zur Befreiung der besetzten Gebiete ein legitimes Mittel ist, zumal BDS eine von unten aus der Bevölkerung organisierte Bewegung ist, die keinen direkten Zwang ausübt, sondern durch gesellschaftliche Aktion Druck ausüben will. Israel selbst setzt zum Beispiel mit seinem totalen Embargo über den Gazastreifen eine viel schärfere Form des Druckes und Zwanges ein, die die dortige Bevölkerung an den Rand des Elends bringt.
Der BDS-Aufruf und die sich daraus entwickelnden Aktivitäten von Unterstützern und NGO’s führten in der internationalen Politik und der Öffentlichkeit zu heftigen Kontroversen. Israel, das den Aufruf sehr ernst nahm und durch BDS sogar seine Existenz bedroht sieht, befürchtete ökonomische Einbußen großen Ausmaßes. Ob diese wirklich eingetreten sind, ist schwer zu sagen, da darüber keine verlässlichen Zahlen vorliegen. Verschiedene internationale Konzerne und Firmen haben ihre Tätigkeiten in den besetzten Gebieten aber eingestellt. Die Knesset verabschiedete ein Gesetz, das die Unterstützung von BDS unter Strafe stellte, außerdem wurde ein Einreiseverbot für Sympathisanten der Bewegung verhängt.
Zudem wurde ein Ministerium für strategische Angelegenheiten ins Leben gerufen, das – mit einem voluminösen Etat ausgestattet – mit allen Mitteln gegen BDS vorgeht. Israel setzt in diesem Kampf auch seine stärkste Waffe ein: den Antisemitismus-Vorwurf. Das heißt, wer die Initiative unterstützt, wird als „Antisemit“ an den Pranger gestellt. Was an sich ein Widerspruch ist, denn die Bewegung ruft nicht zum Boykott jüdischer Menschen auf, sondern zum Boykott von Produkten aus Israel. Außerdem zielen die Aktivitäten von BDS unter Berufung auf die Menschenrechte und das internationale Recht auf die Politik des Staates Israel, die genau diese Rechte unterdrückt.
Die rechtliche Lage ist das Eine, die politische Beurteilung aber das Andere. BDS spaltete in den Staaten der westlichen Hemisphäre Anhänger und Gegner in unversöhnliche Lager. Die Gegner halten BDS für „antisemitisch“, sprachen von „Israel bezogenem Antisemitismus“ und führten zur Stützung ihrer Position die Gleichsetzung von BDS mit der Nazi-Parole „Kauft nicht bei Juden!“ an. Die Verteidiger des palästinensischen Aufrufs wurden mit der SA verglichen, die in den 30er Jahren zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen hatte und ihn auch mit brutalem Terror durchsetzte.
Die Kriminalisierung von BDS durch die Gegner vergiftete das politische Klima in vielen westlichen Staaten, denn es wurde von diesen alles getan, um die Bewegung als Ganzes zu unterdrücken und zu desavouieren, was sich verheerend auf das wichtigste Gut demokratischer Gesellschaften auswirkte: die Meinungsfreiheit. Der renommierte amerikanische Publizist Glenn Greenwald ging so weit zu warnen: „Der Versuch, BDS zu unterdrücken ist die größte Gefahr für die Meinungsfreiheit im Westen.“
In Deutschland nahm die „Schlacht“ um BDS besonders abstoßende Formen an: In der Atmosphäre eines neuen „McCartyismus! (Micha Brumlik) wurde alles unter den Verdacht des Antisemitismus gestellt, was nur irgendwie im Entferntesten mit BDS zu tun haben könnte. Stadtväter sperrten Räume für Veranstaltungen, die eine kritische Auseinandersetzung mit der israelischen Politik zum Thema hatten mit der Begründung, es könnte ja BDS angesprochen werden; Ausstellungen wie die über die Nakba gerieten unter Beschuss; Journalisten und Publizisten übten Selbstzensur, um die berufliche Existenz nicht zu gefährden.
Der Leiter des Jüdischen Museums in Berlin Peter Schäfer musste von seinem Amt zurücktreten, weil er meinte, dem Druck von jüdischer Seite (Zentralrat der Juden in Deutschland, israelischer Botschafter sowie Ministerpräsident Netanjahu) nicht mehr standhalten zu können, die seine Arbeit – besonders eine Ausstellung über Jerusalem – massiv kritisierte und auch in Verbindung mit BDS gebracht hatte. Die Gegner von BDS schafften es, über das Thema Israel und BDS einen dichten Teppich von Verdächtigungen, Verleugnungen und Angst zu breiten. Der Artikel 5 des Grundgesetzes, der die Meinungs-, Informations- und Pressfreiheit sowie die Freiheit von Kunst und Wissenschaft garantiert, drohte dabei völlig unter die Räder zu geraten.
Höhepunkt der Kampagne gegen BDS war der Beschluss des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 2019, der BDS als „antisemitisch“ erklärte. In dieser Resolution, die allerdings keine Gesetzeskraft hat, wurde festgehalten, dass BDS Israels Existenzrecht als „jüdischer Staat“ in Frage stelle und dies überschreite die Schwelle zwischen legitimer Kritik an Israel und Antisemitismus. Da Israels Existenzrecht aber deutsche Staatsräson ist, sollen diejenigen, die das in Frage stellen, weder öffentliche institutionelle Unterstützung noch staatliche Fördermittel erhalten. Damit hatte der neue McCartyismus sozusagen seinen staatlichen Segen erhalten.
Kritik an der BDS-Resolution von allen Seiten
Es ist aufschlussreich, dass massiver Protest gegen die BDS-Resolution des Bundestages gerade von jüdischer bzw. israelischer Seite kam, die in Deutschland nun den Rechtsstaat in Gefahr sah. 240 namhafte Wissenschaftler aus Israel appellierten vor der Abstimmung an den Bundestag: „Wir lehnen die trügerische Behauptung ab, BDS sei als solche antisemitisch und bekräftigen, dass Boykotte ein legitimes und gewaltfreies Mittel des Widerstandes sind.“ Die Unterzeichner betonen, dass die drei Ziele von BDS – Ende der Besatzung in den palästinensischen Gebieten, Gleichstellung palästinensischer Bürger Israels und das Recht auf Rückkehr der Flüchtlinge – völkerrechtlich verbürgt seien, auch wenn letzteres noch der Diskussion bedürfe.
Weiter warfen die Akademiker dem Bundestag vor, nicht in erster Linie den Antisemitismus bekämpfen zu wollen, die BDS-Resolution sei vor allem von den politischen Interessen der israelischen Regierung angetrieben. Der Kampf gegen den Antisemitismus werde hier instrumentalisiert, „um die Politik der israelischen Regierung zu schützen, die schwere Menschenrechtsverletzungen verursacht und die Chancen auf Frieden zerstört.“ Die Unterzeichner riefen die Bundesregierung auf, den Beschluss des Bundestages nicht zu übernehmen.
Der israelische Journalist Gideon Levy von der Tageszeitung Haaretz schrieb nach der Abstimmung unter der Überschrift „Deutschland, Schande über Dich und Deinen Anti-BDS-Beschluss“: „Deutschland hat eben die Gerechtigkeit kriminalisiert und unter Anklage gestellt, indem berechtigte Schuldgefühle wegen der deutschen Vergangenheit zynisch und manipulativ bis ins Extreme ausgenutzt wurden. Es ist tatsächlich so weit gekommen, dass der Deutsche Bundestag jetzt eine der empörendsten und bizarrsten Resolutionen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verabschiedet hat. Der Bundestag hat die BDS-Bewegung gegen Israel als antisemitisch definiert. Benjamin Netanjahu und Gilad Erdan [der für die Bekämpfung von BDS zuständige Minister] haben gejubelt. Deutschland sollte sich schämen.“
Und weiter: „Deutschland wird fortan jeden Unterstützer von BDS als Judenhasser betrachten. Von der ‚israelischen Besatzung‘ zu sprechen wird sein wie ‚Heil Hitler‘ zu sagen. Fortan kann sich Deutschland nicht mehr rühmen, ein Land zu sein, in dem das Recht der Redefreiheit gilt. Es ist faktisch zu einem Agenten des israelischen Kolonialismus geworden. Es gibt zwar tatsächlich Antisemiten unter den Unterstützern von BDS, aber die meisten sind gewissenhafte Menschen, die der Meinung sind, dass ein Apartheidstaat einen Boykott verdient hat. Was ist daran antisemitisch? Die Mehrheit der Bundestagsparteien hat den Beschluss befürwortet, darunter Angela Merkel, das Gewissen Europas. Wie traurig. So lähmend sind Schuldgefühle, so wirksam Propaganda.“
Der frühere Sprecher des israelischen Parlaments (Knesset) und Ex-Präsident der Jewish Agency Abraham Burg und der israelische Bildhauer Dani Karavan erinnerten die Bundesregierung in einem gemeinsamen Offenen Brief an die internationalen Verträge und Abkommen, die die Menschenrechte zum Inhalt haben und denen Deutschland beigetreten sei. BDS sei ein legitimes und angebrachtes Mittel, um Staaten zu bewegen, mit schwerer Diskriminierung und arger Verletzung von Menschenrechten ins Gericht zu gehen. Mit dem BDS-Beschluss habe Deutschland das Ideal der Menschenrechte aufgegeben, denn mit der Unterstützung der extrem rechtsgerichteten und populistischen Politik der gegenwärtigen israelischen Regierung habe sich Deutschland in Gegensatz zu allen Werten gesetzt, die es zu unterstützen beanspruche.
Schon zuvor hatte der israelische Historiker Avi Shlaim, der an der Universität Oxford bis zu seiner Emeritierung einen Lehrstuhl für internationale Beziehungen innehatte und der die Standardwerke über die israelisch-arabischen Beziehungen geschrieben hat, die grundsätzliche Feststellung getroffen: „Es gibt keine Hoffnungen für die Palästinenser, das Ende der Besatzung durch die Unterstützung westlicher Regierungen oder die Vereinten Nationen herbeizuführen. Die einzige Hoffnung, die die Palästinenser haben, ist durch BDS.“
Aber auch von deutscher Seite hagelte es Kritik an der BDS-Resolution. Mehr als ein Dutzend Nahost-Experten von deutschen Universitäten kritisierte in einer gemeinsamen Stellungnahme die pauschale Verurteilung von BDS. Der Beschluss stigmatisiere die ganze Bewegung , schränke die Meinungsfreiheit ein und differenziere nicht zwischen Israel und den besetzten Gebieten. Auch sie warfen den Abgeordneten vor, einer „breit angelegten Kampagne der israelischen Regierung gefolgt“ zu sein, die darauf abziele, Kritik an der israelischen Regierungspolitik pauschal als antisemitisch zu diskreditieren, um so ihre Lesart der nahöstlichen Geschichte durchzusetzen.
Der Völkerrechtler Norman Paech merkte an: „Wer den Boykott von internationalen Universitäten, Schulen, Kirchen, Gewerkschaften und zahllosen zivilgesellschaftlichen Organisationen mit dem Ziel, die Geltung von Völkerrecht und Menschenrechten für das palästinensische Volk durchzusetzen mit dem Boykott der Nazis zur Vernichtung des jüdischen Volkes gleichstellt, hat die Ebene ernstzunehmender Argumentation verlassen und sich auf das Niveau politischer Verleumdung herabbegeben. Es ist widersinnig und falsch, Kritik und Sanktionen, die man gegen andere Staaten ausgiebig und nachdrücklich fordert und praktiziert, hinter einer unseligen Geschichte zu verstecken und Palästina als völkerrechtsfreies Gebiet außerhalb von UNO und UNO-Charta zu akzeptieren.“
Ergänzend zu dieser Aussage von Norman Paech muss man feststellen, dass der „Kauft-Nicht-bei-Juden!“-Vergleich auch aus dem Grund unhaltbar ist, weil hier Unvergleichbares miteinander in Relation gesetzt wird. Denn die Juden in Hitlers „Drittem Reich“ waren eine schwache und wehrlose Minderheit, der Staat Israel ist aber eine hoch gerüstete Militärmacht, die ausgerüstet mit modernster Militärtechnik aus eigener oder amerikanischer Produktion einschließlich Atomwaffen eine der stärksten Armeen der Welt besitzt.
Auch die UNO meldete sich zu Wort. Die Menschenrechtskommission der Weltorganisation drückte die Sorge aus, dass der Beschluss des Bundestages einen besorgniserregenden Trend setze, die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit unverhältnismäßig einzuschränken. Die Kommission forderte Außenminister Heiko Maas auf, innerhalb von 60 Tagen zu erklären, welche rechtlichen Auswirkungen der Beschluss habe und wie er sich mit den Verpflichtungen Deutschlands zum Schutz der internationalen Menschenrechte vertrage. Zudem solle die Regierung erklären, wie sie sicherstellen könne, dass BDS-Aktivisten Menschenrechtsverletzungen ohne unzulässige Einschränkungen weiter benennen könnten. Auch der Europäische Gerichtshof (EGMR) sah in einem Urteilsspruch das Recht von BDS-Aktivisten auf die in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierte Meinungsfreiheit verletzt.
Das deutsch-israelische Verhältnis
Angesichts einer solchen geballten Kritik von Experten stellt sich die Frage, was den Deutschen Bundestag und auch die Bundesregierung bewogen hat, einen solch unheilvollen politischen Kurs zu verfolgen. Um diese Frage zu beantworten muss man einen kurzen Blick auf das deutsch-israelische Verhältnis werfen, das von Anfang an durch das monströse Verbrechen des Holocaust bestimmt war und noch ist. Der Holocaust war für die deutsche Politik eine ungeheure Last, und sie glaubte sich von dieser Schuldlast nur dadurch befreien zu können, dass man nach 1945 von einem staatlich getragenen Antisemitismus zu einer philosemitischen Haltung überwechselte. Die Sühne bestand darin, dass man sich mit philosemitischer Empathie dem jungen Staat Israel zuwandte, der zwar seine Gründung und Entstehung – kausal gesehen – nicht direkt dem Holocaust verdankte, aber ohne die aus diesem Verbrechen abgeleitete weltweite Sympathie für die Juden wohl kaum so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden wäre.
Die deutsche Zuwendung zu Israel bedeutete aber, die Tatsache, dass dieser Staat durch ein großes Verbrechen – die Nakba 1948, also die Vertreibung der Palästinenser, den Raub ihres Landes und die Zerstörung ihrer Gesellschaft und Kultur – zustande gekommen ist, zu verschweigen und zu verdrängen. Die deutsche Seite unterstützte also das zionistische Siedlungsunternehmen und nahm gar nicht zur Kenntnis, dass der Wertekanon des Grundgesetzes sowie die internationalen Verpflichtungen, die die Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf die Menschenrechte und das Völkerrecht eingegangen war, und die Maximen des Zionismus, die Israels Politik bestimmen, in keiner Weise kompatibel sind.
Das deutsche Israelbild war also eine Fiktion, die aus dem Verlangen nach Sühne und „Wiedergutmachung“ entstanden war. Die Realität, dass es sich bei diesem Staat um ein kolonialistisches Siedlerunternehmen handelt, was nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 und der nachfolgenden Besetzung der palästinensischen Gebiete Westbank und Gazastreifen noch deutlicher hervortrat, wollte man nicht sehen. So musste die Unaufrichtigkeit der ständige Begleiter dieser Beziehung sein. Nennt man die Dinge aber beim Namen, dann folgt der Antisemitismus-Vorwurf auf dem Fuße, ob aus Israel, von deutschen Politikern oder von den Anhängern dieses Staates in Deutschland.
Israel hat inzwischen eine über 70jährige Geschichte und ist eine politische Realität. Aber kritische Bürger dieses Staates sehen ihn heute wegen seiner Verachtung der Menschenrechte und des Völkerrechts, also universalistischer humanistischer Prinzipien, in einer tiefen Krise, ja in einer politischen Sackgasse. Sie sehen den Zionismus an seinem Ende angekommen. Wenn die deutsche Politik die Sicherheit Israels zur „Staatsräson“ erklärt, will sie nicht sehen, in welche Gefahr sich das zionistische Unternehmen Israel selbst durch seine aggressive Politik gebracht hat. Außerdem ist die bedingungslose deutsche politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung dieses Staates ein Beitrag dazu, dass Israel seine brutale Politik gegenüber den Palästinensern fortsetzen kann. Was die paradoxe Situation schafft: dass Deutschland sich durch seine rückhaltlose Freundschaft mit Israel von seiner Schuld zu befreien versucht, durch seinen Beitrag zu Israels brutaler Okkupationspolitik aber neue Schuld auf sich lädt. Ein Teufelskreis also.
Wie sehr die Nicht-Wahrnehmung der israelischen Realität auch heute noch die deutsche Politik bestimmt, machte die Rede deutlich, die Bundeskanzlerin Angela Merkel im März 2008 anlässlich des 60jährigen Bestehens des Staates Israel in der Knesset hielt. Sie betonte acht Mal, dass Deutschland und Israel dieselben Werte – Freiheit, Demokratie und die Achtung der Menschenwürde – teilten. Das sei das kostbarste Gut, das man hätte. Die Äußerungen der Kanzlerin stießen selbst in kritischen Kreisen Israels auf Unverständnis.
Der deutsch-jüdische Philosoph Ernst Tugendhat hat ein überzeugendes psychologisches Erklärungsmodell für das deutsch-israelische Verhältnis angeboten. Er meint, dass das Schuldgefühl der Deutschen noch sehr groß und noch keineswegs rational aufgearbeitet sei. Das verschaffe der israelischen Regierung aber die Möglichkeit, „auf diesem irrationalen Schuldgefühl der Deutschen virtuos wie auf einem Klavier zu spielen.“ Erst wenn die Schuld wirklich rational aufgearbeitet sei, bestehe keine Notwendigkeit mehr, sich den – auch irrationalen Wünschen des Anderen zu unterwerfen. Der Handelnde behalte dann sein autonomes Handlungsvermögen. Die Frage laute dann: Wie kann ich dem Anderen helfen? Wo liegen seine Interessen?
Diesen Zustand haben die deutsch-israelischen Beziehungen ganz offensichtlich noch nicht erreicht. Die Verabschiedung der BDS-Bundestagsresolution ist dafür ein klarer Beleg. Es kommt aber ein anderes Moment hinzu, das in diesem Verhältnis eine bedeutende Rolle spielt: Das Antisemitismus-Problem. Es gibt natürlich in Deutschland nach wie vor den „alten, klassischen“ Antisemitismus, besonders im rechtsextremen und Neonazi-Lager. Dieser alte Antisemitismus hängt dem Glauben an, dass Juden negative Eigenschaften besitzen, die durch Blut und Rasse bestimmt und dadurch per definitionem nicht zu ändern seien. Man hasst deshalb Juden, weil sie Juden sind.
Der Antisemitismus-Begriff wird politisch manipuliert
Der Antisemitismus-Begriff hat aber durch die Entstehung des Staates Israel eine bedeutende Veränderung erfahren, auf die der Holocaust-Forscher Daniel Blatman von der Jerusalemer Universität aufmerksam gemacht hat. Er bringt seine Ausführungen über diesen neuen Antisemitismus-Begriff auch in direkten Zusammenhang mit der BDS-Bundestagsresolution.
Blatman beschreibt zunächst den „traditionellen, vertrauten Antisemitismus“, der eine vielfältige Feindseligkeit, ja Hass gegenüber Juden und Judentum ausdrücke: Dämonisierung, Behauptung von kollektiven negativen Eigenschaften, Mythen und Stereotypen von Geld, Einfluss und Macht. Bei dieser Form des „alten“ Antisemitismus bestimmten Nicht-Juden nach Kriterien wie Religion, Kultur, Nationalität oder Rasse darüber, was Antisemitismus und wer Antisemit ist. Der „neue Antisemitismus“ – Blatman nennt ihn eine „Revolution“ im Verständnis des Antisemitismus – unterscheidet zwischen Antisemiten und Nicht-Antisemiten nach Kriterien, die die israelische Regierung sowie Juden und Nicht-Juden, die Israel unterstützen, festlegen.
Das bedeutet: Nicht mehr antisemitische Deutsche oder Angehörige anderer Nationen bestimmen und definieren, wer ein Jude ist, der geächtet oder sogar aus der Gesellschaft verbannt werden muss, sondern bestimmte Juden definieren, wer ein Antisemit oder Philosemit ist, und die Deutschen – so Blatman – haben sich diesen Antisemitismusbegriff weitgehend zueigen gemacht. Er nennt diese Form des Antisemitismus „funktionalen Antisemitismus“, weil er in erster Linie den aktuellen politischen Interessen Israels dient. Antisemitismus wird heute also so gut wie überall in den westlichen Staaten so verstanden, wie die israelische politische Elite und die großen jüdischen Organisationen vor allem in den USA ihn definieren.
Blatmans Antisemitismus-Definition ist ein gutes Instrument, den BDS-Beschluss des Bundestages zu verstehen. Es muss aber um ein weiteres Instrument ergänzt werden: die IHRA-Definition von Antisemitismus. IHRA ist eine Abkürzung von International Holocaust Remembrance Alliance (Internationale Holocaust Gedenk-Allianz). Es handelt sich dabei um eine internationale Organisation, die sich der Aufklärung über und die Erinnerung an den Holocaust zum Ziel gesetzt hat.
Ihre Definition von Antisemitismus, die 2016 in Bukarest beschlossen wurde, lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden und Jüdinnen, die sich als Hass gegenüber Juden und Jüdinnen ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische und nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.
Um die IHRA bei ihrer Arbeit zu leiten, können die folgenden Beispiele zu Veranschaulichung [für Antisemitismus] dienen (Ausschnitt):
· Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel richten, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass ‚die Dinge nicht richtig laufen.‘ Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt unheilvolle Stereotypen und unterstellt negative Charakterzüge.
· Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
· Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird.
· Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.“
Diese IHRA-Definition von Antisemitismus wurde sehr schnell als unbrauchbar für den Diskurs über diese Problematik erkannt. Selbst einer ihrer Mitverfasser, der amerikanische Jurist und Menschenrechtsanwalt Kenneth S. Stern hält sie heute für einen großen Fehler, weil sie zur Vergiftung der Debatte geführt habe. Wenn man aus der Definition die Verneinung des Existenzrechts Israels – Stichwort Rückkehr der Flüchtlinge – ableite, dann verneine man damit auch das Existenzrecht eines palästinensischen Staates, was einem anti-muslimischen Rassismus gleichkäme.
Einer der führenden Antisemitismus-Experten in Deutschland, Peter Ullrich, legte in einem Gutachten die Mängel und Schwächen der IHRA-Definition dar und zeigte ihre Gefahren auf. Er kritisiert, dass die Definition inkonsistent, widersprüchlich und ausgesprochen vage formuliert sei. Die Kerndefinition des Antisemitismus sei zudem reduktionistisch. Das heißt: Sie hebe einige antisemitische Phänomene und Analyseebenen hervor, spare andere wesentliche aber weitgehend aus. Die größte Schwäche der Definition sei, dass sie das Einfallstor für ihre politische Instrumentalisierung sei, etwa um gegnerische Positionen im Nahostkonflikt durch den Vorwurf des Antisemitismus zu diskreditieren. Da sie von staatlichen Institutionen als quasi rechtliche Grundlage angesehen werde, könne sie benutzt werden, um Grundrechte, insbesondere die Meinungsfreiheit, in Bezug auf missliebige israelbezogene Positionen zu beschneiden.
Ist Israel eine Demokratie?
In der IHRA-Definition erstaunt vor allem der Satz, dass es antisemitisch sei, doppelte Standards auf Israel anzuwenden, indem man von Israel ein Verhalten fordere, das von keinem anderen Staat erwartet oder gefordert werde. Ist Israel aber ein normaler Staat? Welcher Staat auf dieser Welt, der sich zugleich eine Demokratie nennt, hat in seinem Herrschaftsbereich fünf Millionen Menschen (Westjordanland und Gazastreifen), die unter einer brutalen Besatzung leben müssen und über keinerlei bürgerliche oder politische Rechte verfügen? Und selbst die im israelischen Kernland lebenden Palästinenser (20 Prozent der Bevölkerung) sind seit der Staatsgründung 1948 harten Diskriminierungen unterworfen. Nach dem neuen Nationalstaatsgesetz von 2018 sind sie keine vollwertigen Bürger des Staates, da sie nach diesem Gesetz nicht zur jüdischen Nation gehören und nur Juden in Israel über das Selbstbestimmungsrecht verfügen. Ist Israel also eine ganz normale Demokratie?
Es gibt andere wichtige Kritikpunkte: Die IHRA-Definition setzt Judentum und Zionismus gleich, indem sie voraussetzt, dass alle Juden Zionisten sind und dass der Staat Israel in seiner gegenwärtigen Realität die Selbstbestimmung aller Juden verkörpert. Das ist aber nicht der Fall. Denn sehr viele Juden in der Welt und sogar in Israel lehnen den Zionismus ab und fühlen sich politisch durch ihn nicht vertreten. Wenn in der IHRA-Definition das Recht auf Selbstbestimmung des jüdischen Volkes hervorgehoben wird, dann ergibt sich automatisch die Frage, ob dieses Recht auch das Recht einschließt, ein anderes Volk durch eine ethnische Säuberung zu vertreiben und diese davon betroffenen Menschen an der Rückkehr in ihr Land und zu ihrem Eigentum zu hindern. Das Recht auf Rückkehr ist wie erwähnt durch die UNO-Resolution 194 völkerrechtlich abgesichert und kann deshalb nicht antisemitisch sein. Zudem kommen die Rechte der Palästinenser in der IHRA-Definition gar nicht vor.
Israel hat als Lösung des Konflikts mit den Palästinensern die Schaffung von zwei Staaten immer abgelehnt. Ein Nachdenken über eine andere Lösung des Problems – etwa die Ein-Staaten-Lösung – ist unbedingt notwendig. Die IHRA-Definition schließt aber alle gegen die Interessen des Zionismus gerichteten Lösungsansätze aus – etwa ein säkularer demokratischer Staat, in dem alle Bürger gleiche Rechte haben. Solche Konzepte sind nach der IHRA-Definition antisemitisch, weil ihr zufolge nur das jüdische Volk das Recht auf Selbstbestimmung hat.
Aufschlussreich ist das Zustandekommen des Textes der IHRA-Definition. Daniel Blatman weist vor allem auf den starken und bestimmenden Einfluss Israels in der IHRA-Organisation hin. Der israelische Holocaust-Forscher Professor Yehuda Bauer sei ihr führender akademischer Berater. Zudem habe Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Organisation wegen ihrer Rolle im Kampf gegen BDS geradezu verherrlicht. Blatman nennt die IHRA eine „unnötige und zerstörerische Organisation“.
Hier schließt sich wieder der Kreis zu BDS. Denn stellt man die ideologiekritische Frage cui bono? (wem nützt es?), so kann es darauf nur eine Antwort geben: Israel. Dieser Staat hat offenbar beim Zustandekommen der IHRA-Antisemitismus-Definition und bei der Verabschiedung der BDS-Bundestagsresolution sehr geschickt im Hintergrund Einfluss genommen. Das ist keine Verschwörungstheorie von der „Macht der Juden“, sondern die israelische Politik hat ja ein handfestes Interesse, so vorzugehen, dass der Antisemitismus-Begriff in ihrem Sinne instrumentalisiert wird – eben im Sinne von Blatmans geschildertem „funktionalem Antisemitismus-Begriff“ – , damit Israel sein vorrangiges Ziel erreichen kann: die gewaltfreie BDS-Bewegung, die aktiv gegen die Besatzung , die Unterdrückung der Palästinenser und gegen die an diesem Volk begangenen Kriegsverbrechen vorgeht, zu schwächen und – wenn möglich – völlig auszuschalten. Natürlich ist damit auch ein übergeordnetes Ziel eng verbunden: jede Kritik an Israels menschenrechts- und völkerrechtswidriger Politik zu unterbinden, sie als „antisemitisch“ zu diffamieren und Israel als ganz „normale“ Demokratie darzustellen.
Die deutsche Politik folgt diesen israelischen Vorgaben wegen des immer noch lastenden Schuldgefühls und dem Bestreben nach Entsühnung in devoter Weise. Wie sie mit einer solchen Politik aus der fatalen und widerspruchsvollen Verstrickung von Philosemitismus, Unterstützung des siedlerkolonialistischen Besatzungsstaates bei gleichzeitiger Propagierung universalistischer Werte herauskommen will, bleibt ihr Geheimnis. Und ob eine solche Politik dem Frieden im Nahen Osten und Kampf gegen den Antisemitismus dienlich ist, ist zudem sehr fraglich.
Literatur
Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft zu BDS, 9.7.2005
BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages (Drucksache 19/10191)
Blatman, Daniel: Warum existiert, wenn es um Antisemitismus geht, kein „anderes Deutschland?“, Palästina-Portal 3.7.2019
Boehm, Omri: Gleichheit ist nicht antisemitisch, ZEIT-online 17.12.2020
Brumlick, Micha: Unter BDS-Verdacht: Der neue McCartyismus, Bätter für deutsche und internationale Politik, 8/2019
Burg, Abraham/ Karavan, Dani: Deutschland düpiert den Kampf gegen Antisemitismus, Haaretz 17.6.2019
Groth, Anette/ Paech, Norman/ Falk, Richard (Hg.): Palästina – Vertreibung, Krieg, Besatzung. Wie der Konflikt die Demokratie untergräbt, Köln 2017
IHRA-Definition Antisemitismus, Bukarest 16.05.2016
Levy, Gideon: Deutschland, Schande über dich und deinen Anti-BDS-Beschluss!, Haaretz 19.05.2019
Krell, Gerd: Leserbrief zu BDS, FAZ 17.12.2020
Paech, Norman: Israel, Demokratie, Apartheid und BDS – einige Anmerkungen zur Antisemitismus-Debatte, Nahost-Forum Bremen 1.7.2019
Shlaim, Avi: Über Israels Neue Historiker, die Hamas und die BDS-Bewegung, Jadaliyya 23.10.2017
Solloum, Raniah: UNO rügt BDS-Beschluss des Bundestages, SPIEGEL-Online 25.10.2019
Tugendhat, Ernst: Golfkrieg, Deutschland und Israel. Weshalb der Krieg ungerecht ist und warum die Deutschen nicht gut daran tun, den Argumenten Israels blindlings zu folgen, DIE ZEIT, Nr. 9, 22.2.1991
Ullrich, Peter: Gutachten zur „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance, Rosa Luxemburg Stiftung 2019
Was ist BDS? FAQ derMarx21-Redaktion, ohne Datum
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