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Zerstört Israel
sich selbst?
Der Historiker Gershom Gorenberg sieht in
seinem Buch „Israel schafft sich ab“ den jüdischen Staat am
Abgrund / Vision einer neuen Republik
Arn Strohmeyer
Die Zahl der warnenden Stimmen, die Israel
nur noch eine begrenzte Anzahl von Jahren in seiner Existenz
zugestehen (vorausgesetzt, dass dieser Staat seine
gegenwärtige Politik gegenüber den Palästinensern
fortführt), hat in letzter Zeit beträchtlich zugenommen. Da
war die Studie der amerikanischen Geheimdienste unter
Federführung des CIA, die Israel noch höchstens zwanzig
Jahre gab. Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger,
selbst Jude und ein großer Freund Israels, setzte sogar nur
noch zehn Jahre an. Der israelische Historiker und Soziologe
Moshe Zuckermann beschreibt in seinem jüngsten Buch „Wider
den Zeitgeist“ die Zukunftsaussichten des jüdischen Staates
auf Grund der Politik der Regierung Netanjahu als
„katastrophal“ und fügte als Grund für die Misere hinzu:
„Jeder Israeli weiß letztlich oder ahnt zumindest, dass
Israel ohne Frieden in der Region kaum wird existieren
können.“ Und der israelische Philosoph Chaim Gans fügte
hinzu: „Die Art und Weise, wie die Regierung Netanjahu
Zionismus interpretiert und ausführt, wird langfristig zum
Tod des Zionismus führen. Netanjahus Interpretation basiert
auf einer Philosophie, die gegen die Menschenrechte
arbeitet. Die einzige Hoffnung, wie der Zionismus bestehen
kann, ist unter einer egalitären und an Menschenrechten
orientierten Interpretation.
Das sind klare Worte. Zum Kreis der
Untergangspropheten hat sich nun auch der israelische
Historiker und Publizist Gershom Gorenberg gesellt. Schon
der Titel seines neuen Buches „Israel schafft sich ab“ macht
überaus deutlich, wie dieser orthodoxe Jude Israels Zukunft
sieht: sehr düster. Für Gorenberg war die israelische Welt
bis zum Sechs-Tage-Krieg 1967 in Ordnung. Nach diesem
einschneidenden Ereignis wurde alles völlig anders. Der
Rausch des Sieges löste unter frommen Juden eine religiöse
Ekstase aus , der Messianismus erlebte einen neuen
Aufschwung: die Siedler, die in die eroberten Gebiete
gingen, taten dies, um „Gottes Plan auf dem Weg zur
Erlösung“ zu erfüllen. Das Land , das sie besetzten, der
Staat Israel, den sie als „das Ende der Geschichte“ ansahen,
und die israelische Armee, die das alles möglich gemacht
hatte, wurden für „heilig“ erklärt.
Die ultraorthodoxen Siedler glaubten
wirklich, dem Zionismus zu dienen, tatsächlich taten sie
aber das Gegenteil. Sie leben rückwärtsgewandt und
verwandelten einen etablierten Staat wieder in eine
ethnische und religiöse Bewegung. Stück für Stück
demontierten sie so den Staat. In dem Anachronismus, dass
ein Staat wieder zu einer Bewegung wird, sieht Gorenberg das
politische Grundübel des heutigen Israel, denn das
permanente Festhalten an völlig überholten Zielen und Werten
bringe den jüdischen Staat nun in die Gefahr der
Selbstzerstörung. Um die Absurdität diese Vorganges deutlich
zu machen, führt er einen Vergleich aus den USA an: Was in
Israel seit 1967 abläuft, wäre so, als ob die heute lebenden
amerikanischen Pilgerväter noch einmal in langen
Planwagen-Trecks nach Westen aufbrechen würden.
Gorenberg fasst Israels Dilemma so zusammen:
„Im Augenblick seines Triumphes begann Israel also, sich
selbst zu zersetzen. Mit der langfristigen Herrschaft über
die Palästinenser entfernte sich das Land vom Ideal der
Demokratie, ein Abrücken, das wechselnde israelische
Regierungen mit der Behauptung in Abrede stellten, die
Besatzung sei nur eine vorübergehende Episode. Das
Siedlungsunternehmen war ein breit angelegter Angriff auf
die Rechtsstaatlichkeit. Entgegen einer verbreiteten
Darstellung waren es säkulare Politiker. die mit der
Besiedlung der besetzten Gebiete begannen und sie seither
decken. Aber die ideologisch vernagelsten Siedler waren
religiöse Zionisten – und die staatliche Unterstützung der
Besiedlung beförderte die Verwandlung des religiösen
Zionismus in eine Bewegung der religiösen Rechten.“
Das Siedlungsunternehmen stellt für Gorenberg
aber auch das Judentum selbst und seine Werte in Frage. Er
definiert es als einen Glauben, der die Achtung für das
menschliche Leben vertiefe. So wie es im Talmud steht: „Wer
einen Menschen zerstört, hat eine ganze Menschenwelt
zerstört; wer dagegen ein Menschenleben erhält, hat eine
ganze Menschheit erhalten.“ In diesem Sinn haben – so
schreibt Gorenberg unter Berufung auf den großen
israelischen Wissenschaftler und Theologen Yeshayahu
Leibowitz – die Besatzung und das Siedlungsunternehmen
sowohl die israelische Demokratie wie auch das Judentum
korrumpiert. Leibowitz hatte schon 1967 vor den Folgen einer
Besiedlung der eroberten Gebiete gewarnt und die Siedler als
„Nazi-Juden“ bezeichnet (in seinem auch in Deutschland
erschienenen Buch „Gespräche über Gott und die Welt“,
Frankfurt 1990).
Die von Anfang an staatlich geförderte
Siedlungsbewegung entwickelte eigene theologische Doktrinen,
die den Anspruch auf das palästinensische Land rechtfertigen
sollen. Diese Doktrinen vermischten sich mit dem politischen
Extremismus der Rechten, der in Israel immer mehr an Macht
gewann. Die Politik des Staates geriet damit zunehmend in
einen schizophrenen Zustand. Man führte eine Politik
im Munde, betrieb aber zugleich eine ganz andere:
Israel trat Anfang der neunziger Jahre mit den
Palästinensern in einen Verhandlungsprozess über Frieden
ein, an dessen Ende die Schaffung eines palästinensischen
Staates stehen sollte. Andererseits baute derselbe Staat im
Eiltempo die Siedlungen in den besetzten Gebieten immer mehr
aus, was zu dem heute allgemein konstatierten Zustand
geführt hat: die Schaffung eines palästinensischen Staates
ist nun wegen des dichten Siedlungsnetzes gar nicht mehr
möglich. Für die Palästinenser ist schlicht nicht mehr genug
Land da.
Israel baute in den besetzten Gebieten ein
Regime auf, in dem für Palästinenser und Juden
unterschiedliche oder überhaupt keine Gesetze gelten,
wodurch – als notwendige Folge – zugleich die Rechtsordnung
und die Demokratie innerhalb Israels selbst untergraben
wurden. Gorenberg konstatiert, dass Israel dabei, ist von
seinen Widersprüchen zerrissen zu werden: „Es ist ein Land
mit unsicheren Grenzen und einem Staat, der seine eigenen
Gesetze ignoriert. Seine demokratischen Ideale , so sehr sie
mithalfen, die Geschichte des Landes zu prägen, stehen kurz
davor, wie die Ideologien des 20. Jahrhunderts als falsche
politische Versprechen in die Erinnerung einzugehen.“ Denn
je länger die Besatzung mit Gewalt und Gesetzlosigkeit
herrscht, desto stärker fallen ihre Übel wie Metastasen
einer unheilbaren Krankheit auf Israel zurück. Da hilft auch
die acht Meter hohe Mauer nichts. Eine Demokratie bringt
sich selbst um ihre Glaubwürdigkeit und Reputation, wenn sie
in einem Besatzungsgebiet ein undemokratisches und inhumanes
Regime errichtet.
Die rechte Regierung Netanjahu/ Lieberman hat
nach Gorenbergs Ansicht eindrucksvolle Beispiele dafür
geliefert, wie man einer Demokratie großen Schaden zufügen
und sie in ihrer Substanz zersetzen kann. Gorenberg zählt
sie seitenlang auf: die überall auch in arabischen Städten
fortschreitende „Judaisierung“ – also jüdischer Siedlungsbau
mitten in arabischen Städten, dem die gewaltsamen
Auseinandersetzungen zumeist unmittelbar folgen; die
Diskriminierung der israelischen Palästinenser, die nicht
als gleichberechtigte Staatsbürger behandelt werden, sondern
als Menschen einer niederen Klasse; das scharfe Vorgehen
gegen Kritiker der Regierungspolitik und
Menschenrechtsgruppen, denen man ihre Geldquellen zum
Versiegen bringen will. Der Autor nennt in diesem
Zusammenhang auch die Erteilung der Staatsbürgerschaft nur
noch unter der Bedingung, dass ein Treuegelöbnis zum
jüdischen Staat, seiner Hymne und Fahne abgelegt wird – ein
Gesetz, das natürlich nur für Araber, aber nicht für Juden
gilt. Die Knesset verabschiedete zudem ein Gesetz, das
Kriterien für den Zuzug von Fremden in jüdische Wohngebiete
regelt. Danach können Personen zurückgewiesen werden, die
„nicht in das sozio-kulturelle Gefüge“ einer Gemeinschaft
passen. Gegen wen sich dieses eindeutig rassistische Gesetz
richtet, ist klar.
Gorenberg sieht auch eine große Gefahr für
die israelische Demokratie im Umgang des Staates mit den
ultraorthodoxen Juden (den Charedim). Diese Strenggläubigen
widmen ihr ganzes Leben dem Thora-Studium und brauchen ihren
Lebensunterhalt nicht zu verdienen, weil der Staat sie
unterhält. Der Autor sieht bei dieser von der restlichen
Gesellschaft völlig separierten Gruppe sogar den Tatbestand
des Kindesmissbrauchs gegeben: „Die Religionsfreiheit darf
so etwas nicht decken. Wenn ein Erziehungssystem jungen
Menschen das Wissen vorenthält, das sie als Erwachsene zum
Erwerb ihres Lebensunterhalts brauchen werden, um ihnen auf
diese Weise die freie Entscheidung zu rauben, ob sie in
einer sektiererischen Gemeinschaft bleiben oder sie
verlassen wollen, ist das eine Form des Kindesmissbrauchs.
Wenn der Staat diesen Missbrauch duldet, verletzt er seine
Pflichten. Wenn er eine solche Erziehung finanziert, ist das
gewissenlos. Indem er solche Kinder zwingt, als Erwachsene
zu Mündeln der Öffentlichkeit zu werden, verletzt der Staat
die Rechte der übrigen Bürger, die sie unterstützen müssen.“
Da die Familien der Charedim im Durchschnitt
sieben Kinder haben, wächst ihre Gemeinschaft unaufhörlich
weiter an – ein Desaster für den dafür zahlenden Staat.
Durch geschickte politische Patronage haben ultraorthodoxe
Kleriker die religiöse Bürokratie des Staates weitgehend in
ihre Hände gebracht, wodurch sie die Macht haben, anderen
Juden ihre extreme Auslegung des jüdischen Gesetzes
aufzuzwingen. Der Staat hat also durch seine
Subventionierung diese radikale Gruppe erst stark gemacht,
die aber demokratische Werte nicht nur nicht versteht und
schätzt, sondern sich äußerst demokratiefeindlich gebärdet.
Der Graben zwischen der säkularen und ultraorthodoxen Welt
ist so schon so gut wie unüberbrückbar geworden. Ein
weiteres Problem schließt sich an: Ein großer Teil der
Soldaten der israelischen Armee besteht heute schon aus
Unterstützern der Siedler, was im Ernstfall zu einer
Spaltung der Streitkräfte führen könnte, wenn die Regierung
sich denn zum Abzug aus dem Westjordanland entschließen
sollte. Die Politik scheut heute noch vor Entscheidungen
zurück, was aber das Risiko nur erhöht.
Gorenberg zieht angesichts dieser
Zustandsanalyse eine äußerst pessimistische Bilanz: „Die
fortdauernde Besatzung, die Förderung des religiösen
Extremismus, die Untergrabung von Recht und Gesetz durch die
Regierung selbst, all das bedroht die Zukunft Israels.
Insbesondere gerät dadurch sein demokratischer Anspruch in
große Gefahr. Im Augenblick seines Triumphes begann Israel
also, sich selbst zu zersetzen.“
Da ergibt sich natürlich automatisch die
Frage: Wohin führt Israels Weg in den nächsten Jahren?
Gorenberg sieht noch Chancen für eine Veränderung. Er
schlägt vor, den Staat neu zu begründen, er fordert die
„zweite israelische Republik“. Um sie zu erreichen, müssen
aber drei Bedingungen erfüllt werden: 1. muss Israel sehr
bald den Siedlungsbau einstellen, die Besatzung beenden und
einen friedlichen Weg, finden, um das Land zwischen Jordan
und Mittelmeer neu aufzuteilen. Leidenschaftlich plädiert er
für die Zweistaatenlösung, die Einstaatenlösung würde in die
absolute Katastrophe führen, da die Gegensätze zwischen den
beiden Volksgruppen zu groß seien; 2. müssen Staat und
Synagoge unbedingt getrennt werden und 3. muss Israel von
einer ethnischen Bewegung zu einem wirklichen Staat
heranreifen, in dem alle seine Bürger die volle Gleichheit
genießen.
Görenberg führt im Einzelnen aus, wie er sich
diese „zweite israelische Republik“ vorstellt. Absoluten
Vorrang vor allem anderen hat der Frieden mit den
Palästinensern, dafür muss Israel Land aufgeben, nur so kann
sich die Demokratie neu konstituieren: „Frieden bietet
Israel einen Weg, die Umklammerung des Gazastreifens zu
lösen und sicher aus dem Westjordanland abzurücken. ‚Trag zu
viel, und Du wirst nichts halten‘, lautet eine talmudische
Weisheit. Wenn der Staat Israel am Westjordanland
festzuhalten versucht, wird es keinen Staat mehr geben.“
Die Siedlungen müssen zur Erreichung des
Friedens also aufgegeben und die Siedler zurückgeholt
werden. Der Autor glaubt, dass dies auf gewaltlosem Weg
geschehen kann. Er warnt aber davor, die Siedlungen als
Verhandlungspoker zu benutzen: „In diplomatischer Hinsicht
ist die Vorstellung, die Siedlungen seien ein
Verhandlungstrumpf, eine Illusion. Die Siedlungen stärken
Israels Verhandlungsposition nicht, sondern zerstören im
Gegenteil seine Glaubwürdigkeit und ketten es an die
besetzten Gebiete. Werden sie nicht beseitigt, werden sie
wachsen, und die Ketten werden noch schwerer lasten.
Unterdessen zersetzt die Anstrengung, sie zu erhalten, den
Staat und macht den Albtraum einer Einstaatenlösung
wahrscheinlicher. Ihre Beseitigung wäre eine öffentliche
Erklärung, dass Israel sobald als möglich die militärische
Kontrolle aufgeben wird.“
Gorenbergs Analyse des bedenklichen Zustandes
der israelischen Demokratie und der bedrohten Zukunft dieses
Staates überzeugt, weil sie der Wirklichkeit entspricht, wie
sie auch in Europa gesehen wird. Drei Motive verfolgt er mit
dem Vorschlag der Schaffung eines „neuen Israel“: das
Judentum, den Zionismus und den Staat vor dem Abgrund zu
retten, was aus seiner Sicht natürlich verständlich ist.
Aber bewegt er sich mit seiner Vision vom Frieden und der
neuen friedenswilligen Republik Israel nicht im Reich der
Träume und Luftschlösser? So etwas mag in
Intellektuellen-Kreisen debattiert werden, aber wo sind die
politischen Kräfte in Israel, die auch nur im kleinsten
Ansatz bereit sind, dieses Zukunftskonzept in die Realität
umzusetzen? Niemand weiß, was die nächsten Jahre im Nahen
Osten bringen werden, Überraschungen und plötzliche
Wendungen sind auch in der Politik möglich – siehe den
Zusammenbruch des Sowjetimperiums, den niemand wenige Jahre
zuvor vorausgesagt hatte, oder die Umwälzungen im arabischen
Raum - , aber darauf kann man einstweilen nicht bauen.
Gorenbergs schöne und so humane Vision ist von den heutigen
Realitäten aus gesehen eher auf Sand gebaut.
Gorenberg. Gershom: Israel schafft sich
ab, Campus-Verlag Frankfurt/ New York 2012, 19,99 Euro |