Januar - 2020
Der Apostel der doppelten Moral
Die viel gerühmte Rede von Robert Habeck zum Gaza-Krieg wiederholte nur die Mantras der verfehlten deutschen Israel-Politik
Arn Strohmeyer - 5. 11. 2023
Robert Habeck hat den Gaza-Krieg zum Anlass genommen, eine Grundsatzrede zu halten. Politik und Medien waren sich einig: Hier hat ein Staatsmann gesprochen, vielleicht sogar der künftige Kanzler. Einmal davon abgesehen, dass Habeck mit dieser Rede sehr clever und geschickt von seiner desaströsen Wirtschaftspolitik ablenken konnte – irgendetwas Neues bot seine Ansprache nicht. Es war eine Wiederholung dessen, was die deutsche Politik seit je zu Israel, dessen Politik und der Reaktion der Kritiker darauf vorbringt. Die Berliner Politik und die staatstreuen Medien leben ganz offensichtlich in einer Blase, und niemand hat den Mut, zu einer Nadel zu greifen und sie zum Platzen zu bringen.
Während Völkerrechtler (auch jüdische) von „Massaker“, „Genozid“ und „Völkermord“ im Gazastreifen reden, spricht Habeck vorsichtig und zurückhaltend vom „Leid“ der Menschen dort, sogar das Wort „Tod“ benutzt er, aber nur eher beiläufig. Der Kern allen Übels ist für den deutschen Vizekanzler aber die Hamas. Deren Angriff auf Israel soll hier ja auch gar nicht verharmlost werden. Völkerrechtlicher sind sich einig, dass das ein Kriegsverbrechen war.
Aber darf dieses Kriegsverbrechen ein Vorwand und die Legitimation sein, jetzt einen Völkermord zu begehen – also ein Verbrechen, das das der Hamas bei weitem an Grausamkeit übertrifft? Der Völkerrechtler Norman Paech schreibt: „Dieser Krieg ist schon lange nicht mehr ein Verteidigungskrieg gegen die Hamas. Es ist ein Krieg gegen das Volk in Gaza, welches nach jüngsten Plänen der [israelischen] Regierung vollständig in die Sinai-Wüste nach Ägypten vertrieben werden soll. Das alte Siedlungskonzept ‚Land ohne Volk‘ lebt wieder auf. Dieser Krieg hat alle Regeln hinweggefegt.“
Der „Moralist“ Habeck bringt zu diesem barbarischen Morden (gestern lag die Zahl der Toten bei 10 000) keine Kritik vor, er spult die alten Mantras von der „Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson“ und der Hoffnung auf die Zwei-Staaten-Lösung ab. Dabei haben die Regierung, der Habeck angehört, und alle deutschen Vorgängerregierungen durch die rückhaltlose und bedingungslose Unterstützung der israelischen Besatzungs- und Unterdrückungspolitik (und sei es nur durch schweigende Hinnahme) eine große Mitverantwortung für das, was jetzt in Gaza geschieht. Man kann auch von Mitschuld sprechen.
Wenn er wirklich ein Staatsmann von Format und ein wirklicher Moralist wäre, hätte er die Fehler der deutschen Israel-Politik zugeben müssen: Dass es falsch war, jahrelang die brutale israelische Gewaltpolitik gegenüber den Palästinensern mitzutragen und zu den furchtbaren Menschenrechtsverletzungen dort zu schweigen. Und dass die Attacke der Hamas sozusagen die logische Folge dieses in Jahrzehnten erduldeten Martyriums der Palästinenser war, ihrer ganzen aufgestauten Wut und Frustration – eine Explosion, die vorauszusehen war, womit sie nicht entschuldigt, sondern nur erklärt werden soll.
Wenn Habeck ein wirklicher Moralist wäre, hätte er die Frage stellen müssen: Ist es wirklich nachzuvollziehen, dass Israel davon ausgehen kann, dass zwei Millionen Menschen seit sechzehn Jahren hinter einem großen Zaun eingesperrt, belagert, kontrolliert und alle paar Jahre bombardiert werden, ohne einen schrecklichen Preis für dieses Völkerrechtsverbrechen bezahlen zu müssen? Diese Frage hat der israelische Journalist Gideon Levy so gestellt.
Zu den gnadenlosen Bombardements auf unschuldige Zivilisten sagt der Moralist Habeck kein kritisches Wort. Er fordert keinen sofortigen Waffenstillstand und ein Ende des Mordens, sondern nur „humanitäre Hilfslieferungen“. Die Unmenschlichkeit sieht er ausschließlich bei der Hamas, nicht bei den israelischen Politikern und Militärs, die die Bombardierungen anordnen und das damit rechtfertigen, dass sie ja gegen „wilde Tiere“ kämpfen (Israels Verteidigungsminister Galant). Man will den „Palästinensern das Rückgrat brechen“ (der israelische Präsident Jitzhak Herzog) oder man will „Gaza zu einer Insel von Ruinen machen“ (Ministerpräsident Netanjahu). Der Armeeveteran Ezra Jachin forderte sogar: „Löscht ihre Familien aus, ihre Mütter und Kinder! Diese Tiere dürfen nicht länger leben!“ Und der israelische Generalmajor Ghassan Allan stimmte in den Schreckenschor mit der furchtbaren Drohung ein: „Ihre wolltet die Hölle, ihr kriegt die Hölle!“
Das ist die Sprache des Unmenschen und verrät die Absicht, eine ganze Gruppe oder ein ganzes Volk aus Rache zerstören zu wollen. Aber wer aus Rache zur Gewalt greift, weil er das Böse besiegen will, endet zumeist selbst als Vollstrecker des Bösen. Israel ist gerade dabei, diese alte Weisheit zu bestätigen.
Solche Tatbestände prangert Habeck nicht an. Er steht fest zum besonderen Verhältnis zu Israel und zum Bekenntnis zu Israels Sicherheit. Aber hat nur Israel ein Recht auf Sicherheit und die Palästinenser nicht? Der Gegner steht für ihn vor allem im Inneren des Landes – also in Deutschland selbst: die moslemischen „Antisemiten“ und die „Antisemiten“ in der Linken. Es sei hier klar angemerkt: Dass Jubelfeiern für die Untat der Hamas und Gewalt gegen Juden und ihre Einrichtungen in diesem Land unanständig und pervers sind, bedarf überhaupt keiner Debatte. In diesem Punkt hat Habeck natürlich Recht.
Was aber meint Habeck mit Antisemitismus? Dass Leute auf der äußersten Rechten, die den Nationalsozialismus als „Vogelschiss“ verharmlosen, zu dieser leider nicht aussterbenden Kategorie von Menschen gehören – auch da muss man Habeck zustimmen. Was aber ist mit den muslimischen „Antisemiten“ und denen bei der Linken gemeint? Erstere sind in ihrer großen Mehrheit Personen, die oftmals selbst oder ihre Angehörigen in ihrem Lebensschicksal unter der zionistischen Politik und deren Untaten zu leiden hatten und deswegen ein völlig anderes Narrativ vertreten als die deutsche Israel-Ideologie. Auf der linken Seite des politischen Spektrums handelt es sich zumeist um Aktivisten, die die Unmenschlichkeit der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern aus einem universalistischen Ethos heraus kritisieren und die Durchsetzung des Völkerrechts und der Menschenrechte fordern. Beide Gruppen sind nicht bereit, das Gut-Böse-Schema der deutschen Sicht auf den zionistischen Staat zu übernehmen. Aber was ist daran antisemitisch?
Habeck übernimmt devot und gehorsam das israelische Narrativ, dass jede Kritik an Israels Vorgehen gegen die Palästinenser antisemitisch sei – auch wenn er in seiner Rede das Gegenteil behauptet. Denn warum werden überall im Land Demonstrationen gegen Israels Krieg im Gazastreifen untersagt bzw. mit strengen Auflagen versehen, sodass kein kritisches Wort gegen Israel gesagt werden darf? Israelische Juden sind – das ist deutsches Staatsdogma – Opfer und können keine Täter sein. Dass längst das Gegenteil der Fall ist, ist ein Tabu, das streng gehütet und sanktioniert wird.
Drei Fehler sind dem Staatsmann in seiner für so bedeutend gehaltenen Rede unterlaufen. Erstens ist Israel nicht allein aus dem Grund gegründet worden, um Juden nach dem Holocaust Schutz zu gewähren. Die Absicht, diesen Staat zu gründen, bestand lange vor dem Holocaust. Die zionistische Besiedlung Palästinas, die zu diesem Ziel führen sollte, begann schon um 1880. Zweitens bringt Habeck die Auseinandersetzung um Israels Politik in den Zusammenhang mit religiöser Intoleranz, es handelt sich aber bei dem Konflikt im Nahen Osten um einen territorialen Konflikt um Land, der nur am Rande etwas mit Religion zu tun hat. Und drittens ist es falsch zu sagen, der Zweite Weltkrieg sei ein „Vernichtungskrieg gegen die Juden“ gewesen. Natürlich wollten die Nazis auch die Juden vernichten, aber der Vernichtungskrieg richtete sich zunächst gegen die Sowjetunion. Die „minderrassigen“ Slawen im Osten sollten vernichtet werden, um für das deutsche Volk „Lebensraum“ zu schaffen.
Es ist ein höchst interessantes und aufschlussreiches Phänomen, dass gerade israelisch-jüdische Intellektuelle deutsche Politiker mit ihren Statements zum Holocaust und Israel immer öfter ins Leere laufen lassen und deren ideologisch-narrative Abhängigkeit vom zionistischen Staat entlarven. Sie sprechen die Dinge aus, die in Deutschland tabu sind. Die Verbrechen der deutschen Vergangenheit haben offensichtlich in der deutschen politischen Elite dazu geführt, die ganze Realität etwa im Nahen Osten nicht sehen und beim Namen nennen zu dürfen, was dann dazu führt, dass man, um sich von der Schuld zu entlasten, Verbrechen in der Gegenwart – wie die israelischen an den Palästinensern – befürwortet und billigt. So sieht Bundeskanzler Scholz die Vorgänge in Gaza, die Experten des internationalen Rechts jetzt als „Völkermord“ bezeichnen, in vollem Einklang mit dem Völkerrecht. Habeck wird dem zustimmen, denn er findet kein kritisches Wort zu Israels Rachefeldzug.
Nicht chauvinistisch-zionistisch eingestellte Juden mahnen gerade jetzt von Deutschland eine universalistische Moral an, sagen also das, was Habeck in seiner „staatsmännischen“ Rede gerade nicht gesagt hat. So sprach die deutsch-jüdische Autorin Deborah Feldmann in der Talkshow von Markus Lanz Sätze aus, die jedem Menschen in diesem Land nicht nur zu denken geben sollten, sondern es wert sind, ein Umdenken einzuleiten.
Sie sagte: „Es gibt nur eine legitime Lehre aus dem Holocaust, und das ist die bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte für alle Menschen. Punkt. Wer den Holocaust instrumentalisieren will, um weitere Gewalt zu rechtfertigen, hat seine eigene Menschlichkeit verwirkt.“ Das war eine klare Kritik an Israels Politik, die genau das tut – mit Billigung der deutschen Polit-Elite. Direkt an Habeck gewandt, der der Sendung digital zugeschaltet war und sehr missmutig dreinschaute, sagte sie außerdem: „Juden werden hier [in Deutschland] nur als Juden angesehen, wenn sie hinter dem rechts-konservativen Vorhaben der Regierung stehen. Sie behandeln Juden selektiv. Sie lassen Menschen palästinensischer Herkunft, die tolerante und friedliebende Ansichten haben, nicht zu Wort kommen, weil Sie diese Menschen unter dem gewaltvollen Gesicht des Terrorismus verstecken lassen. Ich bin bestürzt, dass die Politik und die Medien nicht hinter dieser Community stehen.“
Und noch eine Jüdin, die israelische Journalistin Amira Hass, entlarvte in einem Artikel und in einem Offenen Brief an Bundeskanzler Scholz die heuchlerische Doppelmoral der deutschen Politik gegenüber Israel, für die auch Habeck in seiner Rede steht. Sie ordnete das Hamas-Massaker in eine lange Kette von Untaten ein, die Israel an den Palästinensern begangen hat. Sie schrieb: „In wenigen Tagen erlebten die Israelis das, was die Palästinenser seit Jahrzehnten routinemäßig erleben und immer noch erleben – militärische Übergriffe, Tod, Grausamkeit, getötete Kinder, auf der Straße aufgetürmte Leichen, Belagerung, Angst, Sorge um Angehörige, Gefangenschaft, Ziel von Rache sein, wahlloses Feuer auf Beteiligte (Soldaten) und Unbeteiligte (Zivilisten), eine Position der Unterlegenheit, die Zerstörung von Gebäuden, ruinierte Feiertage oder Feste, Schwäche und Hilflosigkeit angesichts allmächtiger bewaffneter Männer und tiefe Demütigung.“
In dem Offenen Brief an Bundeskanzler Scholz schieb sie: „Für die Palästinenser ist das Leben eine andauernde Nakba [Katastrophe]. Ihr Deutschen habt eure Verantwortung, die ‚aus dem Holocaust‘, also aus der Ermordung u.a. der Familien meiner Eltern und dem Leid der Überlebenden erwächst, längst verraten. Ihr habt sie verraten durch eure vorbehaltlose Unterstützung eines Israel, das besetzt, kolonisiert, den Menschen das Wasser wegnimmt, Land stiehlt, zwei Millionen Menschen im Gazastreifen in einem überfüllten Käfig gefangen hält, Häuser abreißt, ganze Gemeinden aus ihren Häusern vertreibt und die Gewalt der Siedler fördert.“ Sie schließt ihren Brief an Scholz mit dem dringenden Appell, die gegenwärtige Kampagne des Todes und der Zerstörung zu stoppen, bevor sie eine weitere Katastrophe über den Nahen Osten bringt.
So oder ähnlich hätte Robert Habeck argumentieren müssen, wenn er ein wirklicher Moralist und Staatsmann wäre… |