Dieter
Graumann und die westlichen Werte
Wie der
Präsident des Zentralkomitees das Massaker in Gaza zum
Kampf für Freiheit und Demokratie hochredet
Arn Strohmeyer
Dieter
Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in
Deutschland, hat am Mittwoch in der Süddeutschen
Zeitung seine Meinung zum Stand der Dinge im
Gaza-Konflikt dargelegt, was sein gutes Recht ist, aber
man darf sich auch über die Wahrnehmung der Realität
dieses hohen Funktionärs wundern. Da wird doch wirklich
das Massaker, das an der Bevölkerung des Gazastreifens
von den Israelis gerade begangen wird als „Kampf für
Freiheit, Toleranz, Gleichberechtigung und Demokratie“
bezeichnet. Wörtlich schreibt er: „Unsere Werte werden
auch in Israel verteidigt. Daher sollten wir Israel mehr
denn je in diesen schweren Stunden zur Seite stehen.“ In
welcher Wirklichkeit lebt dieser Mann eigentlich?
Um ihre
propagandistischen Argumente rüberzubringen,
argumentieren Zionisten grundsätzlich ahistorisch, d.h.
ohne Berücksichtigung der historischen Fakten, die zur
heutigen Situation und der nicht endenden Gewalt
zwischen Juden und Palästinensern geführt haben. Walter
Hollstein schrieb schon 1972 in seinem bahnbrechenden
Buch Kein Frieden um Israel. Zur Sozialgeschichte des
Palästina-Konflikts: „Der Konflikt zwischen Arabern
und Israelis kann indessen nicht gelöst werden, indem
Tatsachen von heute ohne Berücksichtigung der Tatsachen
von gestern ‚anerkannt‘ werden, weil der gegenwärtige
Konflikt eben nicht mit dem Krieg von 1967 beginnt,
sondern siebzig Jahre früher – mit dem zionistischen
Machtanspruch in einem arabischen Palästina.“
Diese
Sätze sind heute noch so wahr wie vor 42 Jahren, als sie
geschrieben wurden. Und so muss Graumann denn alle
Fakten weglassen, die zu dem gegenwärtigen
Gewaltausbruch geführt haben: die seit Jahren bestehende
vollständige Abriegelung des Gazastreifens zu Land, zu
Wasser und in der Luft. Niemand und nichts darf ohne
Israels Genehmigung hinein oder heraus: Gaza ist das
größte Freiluftgefängnis der Welt – ohne jede
Perspektive und Hoffnung für die Menschen, dass sich
dieser Zustand einmal ändern könnte. Die israelischen
Politiker haben sogar die Kalorien berechnet, die man
den Menschen dort zugesteht – 1000 pro Tag sind genug.
Ein Zynismus ohnegleichen! Die meisten Menschen in Gaza
vegetieren im Elend dahin. Es gibt kein sauberes Wasser
mehr, weil die Israelis die Kläranlagen zerstört haben
(vermutlich hatten sich auch darin Hamas-Kämpfer
versteckt!), es gibt nur stundenweise Elektrizität, weil
die Israelis die Kraftwerke zerbombt haben. Die
medizinische Versorgung ist so gut wie ganz
zusammengebrochen und und...
Bei
Dieter Graumann liest sich das so: „Bereits seit dem
Rückzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen
2005, der ein Zeichen des guten Willens war, wird der
Süden des jüdischen Staates immer wieder durch
Raketenhagel terrorisiert. Israel ging damals, aber der
Frieden kam nicht.“ Einfach rührend, wie Graumann hier
die Friedensbereitschaft der Israelis schildert und alle
von Israel herbeigeführten schrecklichen Realitäten in
Gaza leugnet! Da schildert er rührselig, wie israelische
Schulkinder sich von ihren Eltern vor dem Gang zur
Schule verabschieden und nicht wissen, ob man sich wegen
der Hamas-Raketen wiedersehen wird, während eine
israelische Granate am selben Tag vier spielende
palästinensische Kinde am Strand von Gaza zerfetzt. Dem
Verfasser dieser Zeilen ist nicht bekannt, dass bisher
ein einziges israelisches Kind zu Schaden gekommen ist.
Da muss
man einem Israeli das Wort geben, der die richtigen
Fragen stellt und die richtigen Antworten gibt, warum
die Hamas Raketen auf Israel schießt. Diese selbst
gebastelten Geschosse verfügen aber – was bekannt ist
–weder über ein Lenksysteme noch über ausreichende
Detonationskraft, um großen Schaden anzurichten. Dennoch
wird kräftig Panik geschürt, als ginge es um Israels
Existenz. Der israelische Journalist Gideon Levy schrieb
am 10. Juli 2014. in der Tageszeitung Haaretz:
“Dachte Israel wirklich, dass Hamas nun
auch die andere Wange hinhalten würde? Wovon sollen 1,5
Millionen Menschen im Gaza-Streifen leben? Kann
irgendjemand erklären, warum die Blockade weitergeht und
nicht einmal partiell gelockert wird? Israel fing sofort
nach dem Kidnapping der drei israelischen Teenager und
während der Fahndung nach ihren Mördern an, 500
Palästinenser, darunter Parlamentsabgeordnete und
Dutzende von vorher freigelassenen Gefangenen, die
überhaupt keine Verbindung zu der Entführung hatten, zu
verhaften. Die Armee terrorisierte die gesamte Westbank
mit einer Schleppnetzfahndung und mit
Massenverhaftungen, deren erklärtes Ziel es war, ‘die
Hamas zu zerschmettern’. Im Internet gab es eine
rassistische Kampagne, die dazu führte, dass ein
palästinensischer Teenager bei lebendigem Leibe
verbrannt wurde. Alles das folgte auf Israels
Bestrafungskampagne gegen den Versuch der Palästinenser,
eine Einheitsregierung zu bilden.”
Und: “Dachten wir wirklich, dass die
Palästinenser all das demütig, gehorsam und ruhig
ertragen würden? Und dass es weiterhin Ruhe und Frieden
in Israels Städten geben würde? Glaubten wir wirklich,
dass Gaza für immer der Willkür von Israel (und Ägypten)
unterworfen bleiben kann? Mit Fesseln, die manchmal
etwas loser gelassen und dann wieder fester gezogen
werden? Dass das größte Gefängnis der Welt weiter ein
Gefängnis bleiben würde? Dass Hunderttausende weiterhin
abgeschnitten von allem leben müssen? Mit einer Blockade
für alle Exporte und willkürlichen Einschränkungen für
die Fischerei? Was stellen wir uns eigentlich vor, wovon
genau 1,5 Millionen Menschen leben sollen? Kann
irgendjemand erklären, warum die Blockade von Gaza immer
noch anhält? Kann irgendjemand erklären, warum es keine
Diskussion darüber gibt, wie das alles weitergehen soll?
Wer konnte glauben, dass Gaza weiterhin alles
unterwürfig akzeptieren würde? Jeder, der so etwas
annahm, war nichts als ein Opfer seiner eigenen und
gefährlichen Wahnvorstellungen – und nun müssen wir alle
den Preis dafür zahlen.”
Hat
Graumann schon einmal davon gehört, dass die Hamas nach
ihrer Gründung ursprünglich mit israelischen Geldern
gefördert wurde, um sie als Gegenkraft gegen die damals
verteufelte PLO aufzubauen, was dann gründlich misslang?
Hat Graumann davon gehört, dass die Hamas Israel immer
wieder Waffenstillstände angeboten hat, allerdings unter
der Bedingung, dass Israel die Blockade aufhebt, die im
Übrigen ein schwerer Verstoß gegen das Völkerrecht ist,
weil hier eine ganze Bevölkerung unter Kollektivstrafe
gestellt wird. Hat Graumann davon gehört, dass sich
führende Hamas-Funktionäre immer wieder für die Bildung
eines Palästinenser-Staates im Westjordanland und im
Gazastreifen ausgesprochen haben? Israel ist mit keinem
Wort auf diese Angebote eingegangen. Es kam immer die
stereotype Antwort: Mit Terroristen verhandeln wir
nicht. Diese völlige Negierung einer politischen Lösung
hat sicher das Ihre dazu beigetragen, dass die Hamas
immer radikaler geworden ist, was Israel dann
anschließend heuchlerisch beklagt. Die Dinge existieren
und entwickeln sich nie getrennt voneinander, sie sind
immer voneinander abhängig.
Angesichts der 1500 palästinensischen Toten im letzten
Gaza-Krieg 2008/2009 und den jetzt schon über 200
palästinensischen Toten bei so gut wie keinen
israelischen Verlusten zu behaupten, „Israel wolle Leben
schützen“ muss man ja wohl als blanken Hohn verstehen.
Genauso wie den Satz, die palästinensischen Terroristen
pflegten einen Todeskult – auch auf der eigenen Seite.
Einmal davon abgesehen, dass „Terrorist“ ein sehr
subjektiver Begriff ist, um die andere Seite zu
dämonisieren, soll Graumann doch einmal in die
israelische Siedlung Kyriat Arba im Westjordanland
fahren. Da haben die israelischen Siedler dem Mörder
Baruch Goldstein ein Denkmal gesetzt. Auf dem Grabstein
steht: „Hier ruht der Heilige, der Arzt Baruch Kapel
Goldstein. Möge der Gerechte gesegnet sein. Möge Gott
sein Blut rächen. Ohne Fehl und mit reinem Herzen
opferte er sich für sein Volk, die Thora und das Land
Israel. Möge seine Seele in Frieden ruhen.“ Der
fanatische Siedler Goldstein hatte am 25. Februar 1994
in der Ibrahim-Moschee in Hebron 29 betende Moslems
erschossen und viele weitere verletzt. Nach diesem Mord
begannen erst die palästinensischen Selbstmordattentate,
die es vorher nicht gegeben hatte.
Wenn
Graumann die westliche Wertegemeinschaft angesichts der
Realitäten in Israel/Palästina anruft und beschwört,
dass es dort um den Kampf für die westlichen Werte geht,
dann kann einem angst und bange werden um diese
Wertegemeinschaft, die auch die deutsche Kanzlerin mit
Blick auf Israel ständig im Munde führt. Diese
Gemeinschaft muss schon ziemlich auf den Hund gekommen
sein. Man darf doch einmal an die Realitäten dort
erinnern: 1,5 Millionen Palästinenser in Israel sind
zwar Staatsbürger dieses Staates, aber eben doch eben
Menschen zweiter oder dritter Klasse, weil Israel sich
als „jüdischer Staat“ versteht und nicht der Staat aller
seiner Bürger ist. Permanente Diskriminierung der
Palästinenser in Israel ist die Folge. Die zwei
Millionen Palästinenser im Westjordanland müssen –
weggesperrt hinter der Mauer und den Checkpoints – unter
Besatzungsstatus und Militärrecht leben. Sie haben
keinerlei Rechte, sie sind vollständig der Willkür des
israelischen Militärs ausgesetzt.
Man lese
die Berichte der israelischen Ex-Soldaten Organisation
Breaking the silence, was die israelische
Soldateska dort täglich treibt: den Landraub für die
Siedlungen absichern, Häuser, Felder und Olivenhaine der
Palästinenser zerstören, nächtliche Razzien und
Verhaftungen (auch von Kindern) durchführen und
Ausgangssperren verhängen, um den Palästinensern jede
Bewegungsfreiheit zu nehmen. Dass viele palästinensische
Gefangene (auch Kinder) in Administrativhaft sitzen,
d.h. ohne Anwalt und Prozess Jahre lang eingesperrt
werden, ist wie die Anwendung von Folter auch bekannt.
Israelische Menschenrechtsorganisationen wie Betselem
geben Kameras an die Palästinenser aus, damit sie die
Untaten dieser Soldaten filmen, um sie dann zu
veröffentlichen.
Graumann
seien ein paar offizielle Zahlen zur Kenntnis gegeben,
die ihre eigene Sprache sprechen: Vom September 2000 bis
August 2013 sind 129 israelische Kinder von
Palästinensern getötet worden, aber 1 519
palästinensische Kinder von Israelis; 1104 Israelis
wurden in diesem Zeitraum von Palästinensern getötet,
die Israelis töteten aber 6829 Palästinenser; verletzt
wurden 9 104 Israelis, aber 50 742 Palästinenser; in
israelischen Gefängnissen saßen 2013 4 900
palästinensische Gefangene – darunter auch hunderte
Kinder (heute sind es weit mehr Häftlinge – die Zahl
soll bei 10000 liegen), die Palästinenser haben keine
israelischen Gefangenen; im angegebenen Zeitraum haben
die Israelis 27 000 Häuser von Palästinensern zerstört
(heute sind es schon etwa 30 000), die Palästinenser
haben nicht ein einzige israelische Haus zerstört.
Von
„moralischer Asymmetrie“ schreibt Graumann in Bezug auf
Israels Vorgehen, ohne zu erklären, was er darunter
versteht. Man kann diese Asymmetrie auch einmal
umdrehen: Man stelle sich vor, über 200 Israelis seien
in dem gegenwärtigen Konflikt getötet worden und 1500 im
Gaza-Krieg 2008/2009. Was wäre dann in der Welt los?
Aber so handelt es sich ja nur um Palästinenser, „Tiere
auf zwei Beinen“, wie Israels früherer Ministerpräsident
Menachem Begin geurteilt hat. Rolf Verleger, der einmal
im Zentralrat der Juden in Deutschland saß und wegen
seiner kritischen Haltung nicht mehr genehm war, hat die
Bombardierung des Gazastreifens jetzt ein „planvolles
Progrom – verübt von Fachleuten“ genannt. Ab wie vielen
Toten kann man von einem Massaker sprechen? Sicher ist
nur eins: Mit jeder Bombe, die Israel auf die
Palästinenser oder seine anderen arabischen Nachbarn
wirft, vernichtet es langfristig seine Zukunft im Nahen
Osten. Das scheint Dieter Graumann noch nicht verstanden
zu haben.
17.07.2014