Radikale
Kritik am Zionismus
Hajo
G. Meyer: Nur entschiedener Druck auf Israel kann dem Nahen Osten
Frieden näher bringen
Von Arn Strohmeyer
Nur entschiedener politischer und
wirtschaftlicher Druck auf Israel seitens der USA und der EU kann
den Nahost-Konflikt einer Lösung näher bringen, wenn sie überhaupt
noch möglich ist, denn an der Friedensbereitschaft Israels hat Hajo
G. Meyer, deutscher Jude, Auschwitz-Überlebender und Buchautor,
grundsätzliche Zweifel. In einem Vortrag in Bremen legte er sie dar
und so mancher der Zuschauer musste wohl doch schlucken, denn eine
so harte Kritik an Israel hatten sie wohl nicht erwartet.
Für Hajo G. Meyer gehört der Zionismus
in die Reihe der idealistischen und deshalb gefährlichen Ideologien,
die wie die englische und französische Revolution sowie der
Bolschewismus Heilserwartungen geweckt hätten, dann aber in Strömen
von Blut geendet seien. Meyers Distanzierung von der israelischen
Staatsideologie beruhte auf der Feststellung, dass Zionismus und
Judentum wenig oder nichts miteinander zu tun hätten. Der Zionismus
sei einseitig und eng nationalistisch, wohingegen das Judentum – vor
allem in seiner Ethik – immer „universalistisch“ gewesen sei.
Meyer ging dann ausführlich auf die
Geschichte des Zionismus ein, der ähnlich wie das Judentum am Ende
des 19. Jahrhunderts anfänglich sehr vielschichtig gewesen sei. Als
politischer Zionismus sei er dann aber immer monolithischer geworden
und habe nur noch ein Ziel verfolgt: im ehemaligen britischen
Mandatsgebiet Palästina so viel Land wie möglich mit einem Minimum
an noch dort wohnenden Palästinensern zu bekommen. Man habe die
Palästinenser durch „Transfer“ loswerden wollen (und wolle das auch
heute noch), was nur eine euphemistische Umschreibung für
„Vertreibung“ sei.
Die Vertreibung hätte Theodor Herzl
schon gefordert. Meyer zitierte eine Passage aus dessen Tagebuch, in
der der Begründer des Zionismus forderte, die arme arabische
Bevölkerung in die Nachbarstaaten zu deportieren, wo sie dann
arbeiten sollte. Im Judenstaat würde man ihnen die Arbeit
verweigern. Wörtlich schrieb Herzl: „Die reichen Araber werden auf
unsere Seite kommen. Beides – der Prozess der Enteignung und der
Vertreibung der armen – muss diskret und umsichtig durchgeführt
werden.“
Der sehr einflussreiche Zionistenführer
der revisionistischen Richtung, Vladimir Jabotinsky, den Meyer als
„lupenreinen Faschisten“ bezeichnete, habe in den 30er und 40er
Jahren sogar gefordert, dass Israels Grenzen vom Litanifluss im
Libanon bis zum Suezkanal und vom Jordan bis zum Mittelmeer reichen
sollten. Er habe auch das Wort von dem „iron wall“ geprägt, der
Israel als Vorposten der westlichen Zivilisation gegen die
arabischen „Barbaren“ schützen solle.
Zu der Frage, wie der Zionismus
entstanden sei und wie er seine heutige Machtstellung erlangen
konnte, ging Meyer bis auf die von Napoleon in den von den
französischen Truppen eroberten Ländern durchgeführte
Judenemanzipation zurück. Denn diese habe durch die neue
Konkurrenzsituation zu Ängsten in den mittelständischen Schichten
geführt, in die nun auch Juden beruflich eindringen konnten, was
wiederum den Antisemitismus verstärkt habe, der dann auch
noch mit einer pseudowissenschaftlichen Rassenlehre untermauert
worden sei. Napoleons Eroberungen hätten in den okkupierten Staaten
aber auch Widerstand gegen die Besatzer hervorgerufen und so zum
Entstehen des Nationalismus beigetragen. Der Kolonialismus,
der schon seit den Entdeckungen im 15. Jahrhundert existierte, sei
am Ende des 19. Jahrhunderts durch die Rassenlehre gerechtfertigt
worden, die besagte, es gebe eben „minderwertige“ Völker, die zu
beherrschen das gute Recht der christlich-abendländischen
Zivilisation sei.
Die Reaktion auf den Antisemitismus und
die Vereinnahmung nationalistischen und kolonialistischen
Gedankengutes seien die drei Säulen gewesen, auf die der Zionismus
seine Ideologie aufgebaut habe – vor allem Herzl, der die falsche
Behauptung aufgestellt habe, die Juden seien ein Volk. Meyer hielt
dem entgegen, die Gemeinsamkeit der Juden sei nicht ihr
Volkscharakter gewesen, sondern ihr „sozio-kulturelles Erbe“. Dazu
gehörte etwa, dass im alten biblischen Israel alle Männer hätten
schreiben und lesen lernen können und dass nach der Zerstörung des
zweiten Tempels 70 n.Chr. der Gottesdienst mit Tieropfern
abgeschafft und durch das gleichwertige Studium der Thora ersetzt
worden sei. Jeder Mann hätte mitlesen und diskutieren dürfen, was
die intellektuelle Tradition des Judentums begründet habe.
Der Tiefpunkt der Geschichte des
Zionismus sei dann nach dem Zweiten Weltkrieg der Einfluss und
Missbrauch des Holocaust gewesen, bei dem das Judentum durch eine
neue „Holocaust-Religion“ ersetzt worden sei. Dieser Ansatz stehe
völlig im Gegensatz zum Judentum, das keine Dogmen kenne. Die drei
Dogmen der neuen Holocaust-Religion seien: 1: Nichts darf mit dem
Holocaust verglichen werden, er ist völlig einzigartig. Alles muss
mit ihm in Beziehung gesetzt werden. 2. Was die Israelis auch tun
(„welche Verbrechen sie auch begehen“, so Meyer wörtlich), es ist
nicht so schlimm wie der Holocaust, im Vergleich zu ihm ist es
völlig harmlos. 3. Der Holocaust hat Offenbarungscharakter. Das
einzige, womit er verglichen werden kann, ist die Offenbarung am
Sinai, wo Moses von Gott die zehn Gebote erhalten hat. Dieses
Ereignis wird durch die Holocaust-Religion ersetzt.
Der hohe Priester dieser neuen Religion
sei der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel. Hier gehe es nicht mehr
um einen rationalen Umgang mit Geschichte, sondern um theologische
Spekulation, die aber deshalb so gefährlich sei, weil der Maßstab,
alles müsse zueinander in Beziehung gesetzt werden, jegliches eigene
Verbrechen relativiere. Das Monopol auf Leiden, also die Aussage
„niemand hat so gelitten wie wir“ führe automatisch zu der Maxime:
Alles, was wir tun, ist im Vergleich zum Holocaust vernachlässigbar
– und deswegen erlaubt. Meyer, der sich selbst als „ungläubig“
bezeichnete, wörtlich: „Die Hauptelemente der jüdischen Religion
sind die zehn Gebote und die ethischen Gesetze der Thora. In der
Holocaust-Religion wird das Judentum aber ersetzt durch etwas
Furchtbares: Juden haben ein Monopol auf Leiden und dürfen deshalb
alles.“
Meyer schlussfolgerte, dass aus dem
Leidensmonopol, das auch durch die alte jüdische Tradition
unterstützt werde, vorrangig negative Ereignisse zu erinnern, zu
einer „klinischen Paranoia“ im Zionismus geführt habe, die sich
natürlich auch in der Politik auswirke. Als klassischen Fall für
diesen Befund bezeichnete er die Aussage Ariel Sharons vor dem
israelischen Parlament: „Wir wissen, dass niemand uns je helfen
wird, also haben wir die volle Pflicht, uns selbst zu retten.“.
Hierhin gehöre auch die israelische Militärdoktrin, jeden Angriff
auf das israelische Militär sofort disproportional zu erwidern – und
zwar so disproportional, dass die israelische Reaktion von der
angegriffenen Bevölkerung als Kollektivstrafe verstanden werden
müsse, die sie zu der Einsicht bringe, dass sie unter keinen
Umständen den Leuten Schutz gewähren dürfe, die die Israelis
angriffen. Zum ersten Mal habe man diese Doktrin im Libanon-Krieg
2006 angewandt, als die israelische Armee einen ganzen Stadtteil
Beiruts in Schutt und Asche gelegt habe, weil die israelischen
Invasionstruppen von dort aus beschossen worden seien.
Für das äußerst brutale Vorgehen der
israelischen Soldaten im Westjordanland und immer wieder auch im
Gazastreifen macht Meyer in erster Linie das indoktrinäre
zionistische Erziehungssystem verantwortlich, das junge Israelis vom
Kindergarten an einer „Gehirnwäsche“ unterziehe. In den Schulen und
Schulbüchern würden die Palästinenser nicht einmal als
„Untermenschen“ angesehen – das Wort „Mensch“ im Zusammenhang mit
ihnen sei ein Tabu. Meyer wörtlich: „Das sind Kakerlaken, auf die
man mit den Stiefeln tritt.“ Die israelische
Erziehungswissenschaftlerin Nurid Peled- Elhanan habe am 27.12.2009
in der israelischen Zeitung „Haaraetz“ kritisch Anklage gegen diese
Art der Erziehung erhoben.
Neben dem Erziehungssystem macht Meyer
die ausgefeilte israelische Staatspropaganda für die Gewalttätigkeit
des israelischen Vorgehens gegen die Palästinenser verantwortlich.
Dazu komme noch das post-traumatische Stress-Symptom der Soldaten
nach ihren Einsätzen in den besetzten Gebieten, die sie verrohten.
Diese drei Faktoren führten zu einer „Dehumanisierung“ der Menschen
und letzten Endes auch zu ihrer Friedensunfähigkeit. Die Israelis
seien im Besitz aller demokratischen Rechte, und sie machten sich
deshalb schuldig, wenn sie etwa gegen den Massenmord im Gaza-Krieg
an der Jahreswende 2008/09 nicht auf den Straßen protestiert hätten.
Meyer klagte aber nicht nur Israel an,
sondern auch das westlich-christliche Abendland, das durch seinen
tausendjährigen Antijudaismus und Antisemitismus viel zur Entstehung
der jüdischen bzw. zionistischen Paranoia beigetragen habe. Die
Palästinenser seien das völlig unschuldige Opfer dieses Teils der
westlich-christlichen Geschichte. Meyer schloss seine Ausführungen
mit der Frage: „Kann diese Paranoia nicht in absehbarer Zeit zu
einer Selbstvernichtung Israels führen?“
Aus dem Publikum kam dann in der
anschließenden Diskussion immer wieder die Frage: Was können wir
Deutsche tun, um Israel zu mäßigen und zu einer Zustimmung zu einer
Friedenslösung zu bringen? Meyer gab darauf zwei Antworten: Erstens
nicht einem Missbrauch deutscher Schuldgefühle durch
Begriffsverwirrung zu erliegen, d.h nicht auf das zionistische
Argument hereinzufallen, Kritik an Israel sei Antisemitismus. Denn
Antizionismus könne nicht mit Antisemitismus gleichgesetzt werden,
da viele jetzt lebende Juden keine Zionisten oder Antizionisten
seien. Beim klassischen Antisemitismus sei jede Äußerung eines Juden
in Worten und Taten schlecht, eben weil sie von einem Juden komme.
Ein Antizionist argumentiere dagegen nicht gegen Juden generell,
sondern nur gegen die politischen Absichten und Taten des Staates
Israel, der die Verkörperung des Zionismus darstelle. Kritik an
Israel sei durch gut fundierte juristische und humanitäre Gründe
abgesichert und gerechtfertigt und habe mit Antisemitismus nichts zu
tun.
Meyer sieht zweitens in politischem und
wirtschaftlichem Druck das einzige Mittel, zu einer Änderung der
israelischen Politik beizutragen. Die EU müsse etwa endlich von
Artikel zwei des Assoziationsvertrages mit Israel Gebrauch machen,
in dem stehe, dass der Vertrag zeitweise suspendiert werden könne,
wenn Israel sich nicht an die humanitären Gesetze der Vierten Genfer
Konvention halte. Die Bürger könnten zeitweise Boykottaktionen gegen
israelische Produkte (nicht nur die aus den besetzten Gebieten)
unterstützen. Das hätte auch im Fall Südafrika gewirkt. Außerdem
sollten deutsche Akademiker und Universitäten Kontakte mit
israelischen Universitäten meiden, da an diesen Institutionen
Mittel, Waffen und Strategien erarbeitet würden, die gegen die
Palästinenser eingesetzt würden.