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„Auch der Holocaust ist
keine Rechtfertigung für Kriegsverbrechen!
In seinem Buch „Empört Euch!“ übt
Stéphane Hessel auch scharfe Kritik an Israels Politik
gegenüber den Palästinensern
(Stéphane Hessel: Empört Euch!,
Ullstein-Verlag Berlin 2011, 3,99 Euro)
Arn Strohmeyer
Dieses
Buch, das eigentlich gar kein Buch ist, denn es hat ohne
Vor- und Nachwort noch nicht einmal 30 Seiten, ist ein
Phänomen. Aber es enthält eine geballte Ladung politischen
Dynamits. Vielleicht ist es das, was diese kleine Schrift
zum Weltbestseller gemacht hat, der jetzt auch in Deutsch
vorliegt. Da ruft ein 93jähriger Franzose zur Empörung, ja
zum Widerstand gegen den Zustand der Welt und die dafür
Verantwortlichen auf. Man kann den immensen Erfolg dieses
kleinen Bestsellers nur damit erklären, dass überall auf dem
Globus große Unruhe und Unzufriedenheit über den Stand der
Dinge herrschen, aber zugleich auch eine Sehnsucht nach
radikaler Veränderung und der Realisation von Werten - und
um dahin zu kommen, muss man sich aber empören und
Widerstand leisten. Hessel hat mit seinem Manifest ganz
offensichtlich den Nerv der Zeit getroffen.
Die Botschaft Hessels enthält eigentlich
nicht viel Neues - nichts, was andere nicht auch schon
gesagt haben. Aber es kommt wohl immer darauf an, zu welchem
Zeitpunkt jemand etwas sagt und wer es sagt. Zuerst zu
letzterem: Stéphane Hessel ist ein absolut glaubwürdiger
Zeitgenosse. Er stammt aus einer deutsch-jüdischen Familie
(geboren 1917). Sein Vater war der Schriftsteller Franz
Hessel, seine Mutter ist die Malerin Helen Grund. 1924 zogen
die Hessels nach Paris, wo Stéphane auch seinen Ausbildung
genoss. 1941 schloss er sich dem französischen Widerstand
unter General Charles de Gaulle gegen die deutschen
Besatzer an. 1944 wurde er verraten und fiel der Gestapo in
die Hände. Er überlebte die deutschen Konzentrationslager
Buchenwald und Dora. Nach dem Krieg kam er wieder nach
Paris, trat in den diplomatischen Dienst ein und wurde
Mitglied der Kommission, die die allgemeine Erklärung der
Menschenrechte der Vereinten Nationen (UNO) ausgearbeitet
hat. Diese Erklärung wurde am 10. Dezember 1948 von den
Vereinten Nationen in Paris unterzeichnet. Hessel diente
Frankreich als Diplomat auf verschiedenen hohen Positionen -
u.a. auch als Botschafter Frankreichs bei den Vereinten
Nationen in Genf.
Hessel versteht sein kleines Buch als die
„erste Stufe einer Rakete, einen Weckruf an das
Bewusstsein“. Denn das betont der Autor auf jeder Seite, die
meisten Menschen hätten verstanden, dass es nicht so weiter
gehen könne. Hessel bezieht das Kompendium der Werte, deren
Realisierung er einfordert, aus seiner Zeit bei der
Résistance. Auch wenn die Welt sich seitdem gründlich
verändert habe, seien sie doch noch unumschränkt gültig -
und seien zugleich die Grundlage und der Ausgangspunkt für
Empörung und Widerstand: Freiheit, Gerechtigkeit,
Solidarität und die Unantastbarkeit der Menschenwürde und
der Menschenrechte.
Dies und ähnliches haben andere auch schon
gesagt und es steht sogar in manchen Parteiprogrammen.
Hessel verbindet seine Forderung nach Empörung und
Widerstand mit einer radikalen Kritik des real herrschenden
Kapitalismus. Die Macht des Geldes sei noch nie so groß,
anmaßend und egoistisch gewesen wie heute. Die Kluft
zwischen arm und reich werde immer größer, gleichzeitig
werde der Sozialstaat immer mehr abgebaut. Alles sei der
Gier „nach immer mehr“- dem „materialistischen
Maximierungsdenken“ - unterworfen: „ein Fortschritt als
Sturm mit der Kraft der Zerstörung“. Boni-Banker und
Gewinnmaximierer kümmerten sich einen Dreck um das
Gemeinwohl. Die Reichen beherrschten auch die Medien und
steuerten so das öffentliche Bewusstsein. Hessel folgert aus
all dem: Nicht nur Frieden und Demokratie seien in Gefahr,
der ganze Planet drohe unbewohnbar zu werden.
Hessel, der sich - obwohl Atheist - der
jüdischen Kultur und der jüdischen Geschichte zutiefst
verbunden fühlt, drückt seine große Bewunderung für jüdische
Geistesgrößen wie Spinoza, Marx, Freud, Einstein, Heine,
Feuchtwanger und Tucholsky aus. Persönlich hält er es aber
am meisten mit Jean Paul Sartres Existenzialismus: Wir
selbst, allein und absolut, sind für die Welt verantwortlich
- ohne Rückhalt, ohne Gott. Und der deutsche Philosoph Georg
Wilhelm Friedrich Hegel vermittelte ihm den Sinn der
Weltgeschichte: Die Freiheit des Menschen schreitet
stufenweise voran, bis am Ende der Mensch seine vollständige
Freiheit erlang hat und damit der demokratische Staat in
seiner idealen Form entstanden ist.
Wenn die Einhaltung der Menschenrechte
oberstes Gebot ist, wie steht der Jude Hessel dann zu Israel
und der Palästina-Frage? Seine klare und eindeutige Antwort
ist: Empörung! Sie gründet sich auf einen Aufruf mutiger
Israelis aus dem Ausland an den Staat Israel. Da heißt es:
„Ihr, die Ihr von uns geboren seid, seht, wohin unsere
leitenden Männer und Frauen dieses Land geführt haben, nicht
eingedenk der grundlegenden menschlichen Werte des jüdischen
Glaubens.“ Hessel gibt dem südafrikanischen Richter Richard
Goldstone (selbst Jude) Recht, der einen Bericht über
Israels Krieg gegen den Gaza-Streifen (Militäraktion
„Gegossenes Blei“ 2008/2009) verfasst hat und Israel
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
vorwirft. Den heutigen Gaza-Streifen nennt Hessel ein
„Gefängnis unter freiem Himmel für anderthalb Millionen
Menschen“. Er war selbst - privilegiert durch seinen
Diplomatenpass - mehrere Male dort und hat die furchtbaren
Zerstörungen der Israelis und das Elend der Bewohner mit
eigenen Augen gesehen.
Hessel,
der Mitverfasser der UNO-Menschenrechtscharta, schreibt
einen Satz, der allen Verteidigern Israels zu denken geben
sollte: „Dass Juden Kriegsverbrechen begehen können, ist
unerträglich!“ Für solche Verbrechen gebe es keine
Rechtfertigung und keine Entschuldigung - auch nicht den
Holocaust. Er verurteilt aber auch den Raketenbeschuss der
Palästinenser aus dem Gaza-Streifen auf Zivilisten in
Israel, weil er Terrorismus grundsätzlich für inakzeptabel
hält. Aber auf der anderen Seite kann er auch die Situation
der von Israel Eingeschlossenen und Belagerten „verstehen“:
Ursache des Raketenbeschusses sei die von Israel
herbeigeführte verzweifelte Lage der Menschen dort: „In der
Verzweiflung ist Gewalt ein bedauerlicher Kurzschluss zur
Beendigung einer für die Betroffenen unerträglichen
Situation. Aber ist es wirklich realistisch zu erwarten,
dass ein mit unendlich überlegenen militärischen Mitteln
besetzt gehaltenes Volk gewaltlos reagiert?“ Und er mahnt:
„Wer den Terrorismus der Palästinenser verdammt, muss auch
nach seinen Ursachen fragen.“
Empörung und Widerstand sind also angesagt
gegen eine Welt, die aus den Fugen läuft - nicht nur im
Nahen Osten. Hessel - ganz Aufklärer - setzt als Mittel
gegen die drohende Selbstvernichtung auf den Widerstand, der
zuerst aus der Empörung kommt, der dann aber die Reflexion,
die politische Problemanalyse folgen muss, daraus muss dann
die Anleitung zum Handeln, das Aufzeigen von Wegen aus der
Gefahr hervorgehen. Eine solche Aktion des Widerstandes, die
aus der Empörung kommt, muss aber - so der Autor - absolut
gewaltlos sein und vor allem von der Hoffnung („die
Triebkraft der Geschichte“) getragen sein. Kritik und
Widerstand sind für diesen humanen Mahner also kein
Selbstzweck und haben nichts Zerstörerisches an sich. Ganz
im Gegenteil. „Widerstand leisten, heißt: Neues schaffen,
Widerstand ist Schöpfung.“
Einem Mahner, der so auf Gewaltlosigkeit
bedacht ist, muss es schon merkwürdig aufstoßen, wie die
israelische Regierung auf die jeden Freitag stattfindenden
gewaltlosen Demonstrationen der Bürger des palästinensischen
Dorfes Bil’in gegen den Bau der Mauer mitten durch ihr Land
reagiert. Die Regierung in Jerusalem nennt das „gewaltlosen
Terrorismus“. Hessel kommentiert das ironisch mit der
Bemerkung: „Nicht schlecht!“ , kann aber verstehen, dass die
Israelis die Wirksamkeit der Gewaltlosigkeit irritiert und
hilflos macht. Aber müssen sie deshalb gleich auf wehrlose
Menschen, die nur ihren Protest gegen eine unmenschliche
Politik kundtun wollen, schießen? Hessel beantwortet die
Frage nicht, aber seine Position ist klar.
Er setzt nicht nur in Palästina auf
Gewaltlosigkeit als die einzige moralische Kraft. Er
schreibt, wenn es gelinge, dass Unterdrücker und
Unterdrückte über das Ende der Unterdrückung verhandeln,
werde keine terroristische Gewalt mehr erforderlich sein.
Und: Es sei seine Hoffnung, dass die Gesellschaften unserer
Zeit Konflikte „durch gegenseitiges Verständnis in wachsamer
Geduld“ werden lösen können. Das klingt natürlich gut, aber
da ist der Autor in Bezug auf das Nahost-Problem wohl doch
ein bisschen blauäugig. Denn wenn die eine Seite aufgrund
ihrer immensen militärischen Überlegenheit der anderen
permanent ihr Land wegnimmt und damit die Lebensgrundlage
entzieht, ja sogar die indirekte und direkte Vertreibung der
Gegenseite betreibt, worüber soll man „in gegenseitigem
Verständnis und wachsender Geduld“ dann noch verhandeln?
Vielleicht klingt Vieles bei Hessel bisweilen
zu einfach angesichts der immensen Probleme, vor denen der
gesamte Globus steht. Aber Hessel will gar kein umfassende
und vollständige Analyse der Weltsituation geben, aus der
sich dann die Lösungen ableiten lassen. Er will aufrütteln
und bewusst machen, dass die Menschheit an einer Schwelle
angelangt ist, bei der Empörung und Widerstand zur
allgemeinen Pflicht werden und Gleichgültigkeit geächtet
werden muss. Hessel will Mut machen, die eigene beharrende
Lethargie zu überwinden und sich einzumischen: „Wenn man
sich über etwas empört hat, wird man aktiv, stark und
engagiert. Man verbindet sich mit dem Strom der Geschichte,
und der große Strom der Geschichte nimmt seinen Lauf dank
dem Engagement der Vielen - zu mehr Gerechtigkeit und
Freiheit, wenn auch nicht zur schrankenlosen Freiheit des
Fuchses im Hühnerstall.“
Nehmen wir diesen hellsichtigen und mutigen
Mann beim Wort und empören uns - gerade auch gegen das, was
in Palästina geschieht!
12.2.2011
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